Nanna hat geschrieben:Ne, ich glaube, da haben wir uns missverstanden. Ich behaupte nicht, dass wir uns aufgrund der Kultur biologisch nennenswert verändert haben (also klar, haben wir, allein solche Sachen wie Körpergröße oder Laktosetoleranz im Erwachsenenalter, aber davon reden wir ja gerade nicht). Ich denke vielmehr, dass wir nicht in dem Sinne "natürliches" Verhalten haben. Die Kultur gehört zur conditio humana, wir können nicht ohne sie überleben, zumindest nicht in größeren Sozialverbänden, weil wir die Instinkte für das "natürliche" Zusammenleben verloren haben bzw. durch unsere extreme Intelligenz schlichtweg ersetzt haben. Wir sind wie extrem vielfältig einsetzbare Rechner, die ohne einen Haufen Software aber nicht funktionieren.
In Ordnung, jedoch bestehe ich darauf hinzuweisen, dass die Software den Grenzen und Bedingungen der Hardware unterliegt. Interessant finde ich übrigens deine Erkenntnis, dass wir bestimmte Instinkte "ersetzt" haben. Scheint es dir nicht möglich, dass wir ähnliches bei der Moral hinbekommen könnten (die ohnehin ein fehlerhaftes halb-instinktgesteuertes aber unmenschliches Konstrukt ist)?
Nanna hat geschrieben:Ich denke, dass unsere genetische Vorprägung uns extrem viel Spielraum lässt. Es mag zu 50-80% genetisch vorbestimmt sein, ob jemand intelligent ist, aber inwiefern er das Potential ausschöpfen kann und ob er es nutzt um Waffen oder Medizin herzustellen liegt nicht in den Genen begründet. Selbst ein dominanter Testosteronbolzen kann ein sehr loyaler Anführer oder ein brutaler Schläger werden, von der abstrakten Eigenschaft "dominant" folgt erstmal noch sehr, sehr wenig.
Richtig, aber dann bitte Ursache und Wirkung nicht vertauschen oder davon reden, dass der Einfluss von Kultur und Evolution ein Henne-Ei-Problem wäre. In der Gewichtung mag das angehen, aber gewiss nicht in der Ursächlichkeit (also was zuerst da war).
Nanna hat geschrieben:Ja, aber wir haben eben kein festgelegtes Verhalten. Oder hast du schonmal mitbekommen, dass Kinder ab einem gewissen Alter anfangen, Schwänzeltänze aufzuführen oder einheitliches Balzverhalten an den Tag legen? Zwischen der Datingkultur in NYC und arangierten Ehen in Afghanistan liegen jedenfalls Welten, eben weil unsere Biologie uns mit sehr wenig konkreten Anforderungen, wie wir unsere Bedürfnisse kulturell arrangieren sollen, in die Welt hinausschickt.
Nun, die meisten Kinder versuchen irgendwann (obwohl es erstmal ineffizienter ist) auf 2 Beinen zu laufen, das Schreien als natürlicher Reflex bei einem Defizit ist auch Standard, ebenso das schnelle Lernen. Nebenbei würde ich die regelmäßigen Discobesuche und Feiern am Wochenende einiger durchaus als Balzverhalten deuten.
Ich habe übrigens (auch wenn ich das bestimmt schon angemerkt habe) nie behauptet, dass die biologischen Grundvorraussetzungen lediglich eine Option zulassen würden. Der Trick ist, möglichst viele Handlungsmöglichkeiten offen zu lassen, um Variabilität sicherzustellen. Das kann auch bedeuten, dass einander eventuell widersprechende Informationen im genetischen Code abgespeichert sind. Mir fällt gerade kein einzelnes Gen ein, aber am Beispiel des Waals kann man doch deutlich erkennen, wie flexibel die Evolution ist: Der Vorfahre war ein landlebendes Säugetier, jedoch gab es offensichtlich eine Präferenz zum Leben im Wasser und ohne die nötigen Mindestanforderungen im Genmaterial wäre das nichts geworden.
Nanna hat geschrieben:Offenbar hat man jetzt z.B. herausgefunden, dass die sexuelle Entwicklung sich in verschiedenen Bereichen unabhängig voneinander entwickelt, so dass es zustande kommen kann, dass jemand als biologischer Mann aber mit sexuellem Verlangen für Männer (also klassisch einem weiblichen Sexualverlangen) auf die Welt kommt. Die Erklärung scheint in irgendwelchen komplizierten Vererbungsregeln zu finden zu sein, mit denen du mehr anfangen kannst als ich (
ZEITonline: Entwicklungsbiologie - Paps Tunte, Mamas Lesbe; keine Sorge, der Artikel enthält den Link zur eigentlichen Studie).
Wenn allein das schon bedeutet, dass wir irrsinnig viele (sogar biologisch begründbare) Varianten an Verhalten nur in diesem kleinen Ausschnitt des menschlichen Verhaltenrepertoires finden, dann hat es keinen Sinn, holzschnittartige Geschlechterrollen vorzuschreiben, weil die gegenüber dem, was die Biologie (!) an kulturellem Verhalten ermöglicht, hoffnungslos unterkomplex bleiben müssen.
Den Link werde ich mir noch angucken, aber ich habe davon schon gehört und fühle mich in meiner Haltung bestätigt. Jedenfalls musst du nicht immer darauf rumreiten, dass es keinen Sinn hat, holzschnittartige Geschlechterrollen vorzuschreiben. Wo habe ich das bitte getan? Es ging mir lediglich um die Bedeutung des biologischen Einflusses auf unser Verhalten (mag es noch so variabel sein, was sich aber auch aus der Variabilität der biologischen Grundlagen ergibt), welche du unterschlagen oder gering schätzen wolltest. Nimm mal die Scheuklappen weg, denn nicht jeder, der mit genetischer Prädisposition argumentiert, tritt für klassische, feste Geschlechterrollen ein. Mir fällt aus meinem Umkreis ehrlich gesagt niemand ein. Das ist wohl ein Klischee derjenigen, die den "Biologismus" fürchten.
Nanna hat geschrieben:Die Biologie zeigt uns dann maximal, welche Bausteine wir zur Verfügung haben, so wie das Periodensystem uns in der Chemie zeigt, was wir an Grundstoffen haben. Aber es muss dir keiner sagen, wie viele Moleküle und chemische Prozesse sich aus den paar Ausgangsstoffen bilden lassen.
Na, einige Moleküle sind durch die Elektronenkonfigurationen, Elektronegativitäten und anderen Faktoren wahrscheinlicher als andere. Also ermöglicht genaugenommen schon eine gute Kenntnis der Elemente auch die Vorhersage möglicher Moleküle (und den Bedingungen unter denen sie entstehen würden und stabil wären). Es ist jedenfalls kein Zufall, dass wir Kohlenstoff und nicht Silicium in organischen Molekülen verwenden, falls du darauf hinauswillst.
Nanna hat geschrieben:Und deshalb zieht auch keiner zur Erklärung der Struktur eines Wolkenkratzers ein Periodensystem heran, auch wenn niemand bezweifelt, dass ein Wolkenkratzer aus Atomen besteht.
Materialforschung ist wichtig für die Statik. Ein Bauingenieur muss rudimentäre Kenntnisse der Bausubstanz (und damit einiger Elemente, besonders einiger Metalle ) besitzen, um vorhersagen zu können, ob die Decke hält oder nicht.
Nanna hat geschrieben:Du hast mal einen Bienenstock oder Ameisenhaufen beobachtet, oder? Da sehe ich sehr wohl eine Einheitsstruktur. Vielfalt mag ja in der Biologie wichtig sein, aber wir Menschen sind Hardcore-Pluralisten und das auch innerhalb unserer Spezies, nicht nur zwischen verschiedenen Spezies. Das ist meines Erachtens ein gewaltiger Unterschied und ein Alleinstellungsmerkmal. Eine solche Vielfalt an Verhalten gibt es schlichtweg nichtmal annähernd bei irgendeiner anderen Spezies.
Auch der Grad an Variation ist durch unsere Biologie festgelegt. Je spezialisierter und angepasster eine Spezies ist, desto weniger Variation zeigt sie. Unsere Spezies ist relativ jung und stellt sich (was die Anpassung - also ein ausgeglichenes Verhalten mit der Umgebung) noch nicht gut an, auch wenn wir im Prinzip alles überleben und besiedeln können. Mutierte Bakterien können das auch, verenden aber relativ schnell, sofern sie nur auf einen Wirt spezialisiert sind und/oder zu aggressiv die Ressourcen ausbeuten. Die Variation war übrigens mal größer. Bedenken wir, dass andere Menschenspezies wie der Neanderthaler (quasi, bis auf wenige Homo sapiens-Bastarde) ausgestorben sind, so ist eigentlich die Abnahme der Variation ein Indiz für angepassteres Leben (was auch immer die Ursache für das Verschwinden so vieler parallel existierender Menschenspezies war). Das ist aber nur so ein Gedanke und kein Plädoyer für konformeres Verhalten, da es der Umwelt überlassen bleiben soll, was sich durchsetzt und nicht irgendwelchen kruden Deutungen.
Nanna hat geschrieben:Man kann aus so allgemeinen und vielfältig verwendbaren, schwammigen Prädispositionen, wie der Mensch sie hat, eben nicht Kultur ableiten - weder eine noch viele. Man kann retrospektiv erkunden, wie bestimmte biologische Bausteine, vielleicht auch mächtigere wie eben z.B. das Geschlecht, in den Aufbau von Kulturen hineinspielen, aber eine Ableitung im Sinne von Vorhersagbarkeit halte ich für nur extrem beschränkt möglich. Man kann sicherlich allgemeine Bahnen identifizieren, an denen Kultur entlangläuft und sich statistisch häuft und man kann sicherlich auch sehen, dass dem häufig genetisch/hormonell relativ fest verdrahtete Phänomene entsprechen, aber das lässt keine präzisen Arbeiten zu. Das ist wie mit einem Schülermikroskop auf einen Einzeller starren - grob erkennt man schon was, aber für präzise Analysen reicht das Instrumentarium nicht aus. Und das ist auch nicht der Job der Biologen, deshalb ist das auch nicht weiter schlimm.
Wir leiten ja nicht die Entstehung irgendeiner Kultur her, weder konkret noch ungefähr, sondern stellen fest, dass geschlechtsspezifisches Verhalten durch die Biologie zu einem relevanten Anteil determiniert ist (zumindest hoffe ich das, sobald du endlich genauer ließt, worauf ich eigentlich hinauswill). Dass dabei die genetischen Grundlagen selbst extrem variabel sind, ermöglicht erst ein vielfältiges Verhalten und soll keineswegs ein Plädoyer für Geschlechterrollen sein.
Nanna hat geschrieben:Wissenschaft ist da gut, wo sie erkennt, was sie mit ihren Konzepten erkennen kann, und was nicht. Wenn sie etwas nicht mit bekannten Konzepten entwickeln kann, braucht es neue. Kein Biologe macht Paarberatung und das auch seine guten Gründe.
Richtig, ein Psychologe, dessen Kenntnisse des öfteren auch auf neurobiologischen Erkenntnissen basieren, macht eine Paarberatung.
Mindestens durch die Hintertür ist mittlerweile die naturwissenschaftliche Sicht auf die Welt nicht wegzudenken.
Nanna hat geschrieben:Man sollte wissen, wo die eigene Expertise liegt und dann seine Konzepte nicht anderen Disziplinen überstülpen. Mit Biologie, vielleicht abgesehen von etwas Schützenhilfe aus der Soziobiologie, aber auch da nur begrenzt, komme ich bei der Analyse von gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht besonders weit. Genauso wenig kann ich mithilfe von Metallurgie allein ein Auto bauen oder gar eine Straßenverkehrsordnung schreiben, auch wenn das Wissen über Metalle für den Fahrzeugbau elementar ist.
Nicht immer alles so stark verallgemeinern, das ist unwissenschaftlich. Eingeschränkte Definitionen sind besser und theories of everything sind theories of nothing.
Das lege ich dir auch nahe. Ich glaube, dass du einen ähnlichen Fehler wie Julia begehst, indem du mit einer gewissen Erwartungshaltung meine Behauptungen kommentierst. Um es nochmal auf den Punkt zu bringen:
Ich habe mich NIRGENDS für klare Geschlechterrollen eingesetzt.
Ich habe NIRGENDS behauptet, dass die Biologie monokausal für unser Verhalten verantwortlich ist.
Ich habe NIRGENDS versucht, eine Kultur aus der Biologie herzuleiten.