darwin upheaval hat geschrieben:Wenn der Täter nun nicht 1,90, sondern zur Tatzeit genau 1,90234 m groß war, was dann?
Das wirft die Frage auf, ob es in der Natur überhaupt quantitativ absolut bestimmte physikalische Eigenschaften gibt. Beträgt meine Körpergröße absolut genau r m, wobei r eine genaue reelle Zahl ist? Im Mikrobereich entpuppen sich die vertikalen Grenzen meines Körpers eher als die einer Wolke. Steht es objektiv fest, welches das letzte Atom ist, das noch zu meinem Körper gehört, und welches das erste Atom ist, das zu meiner Umwelt gehört?
(Siehe:
http://plato.stanford.edu/entries/deter ... inables/#8)
Wenn meine Körpergröße objektiv vage ist, dann kann das Wissen darüber natürlich nicht unvage sein.
darwin upheaval hat geschrieben:Genau das ist das Problem Deiner Wissensdefinition: "Wissen" ist nach Deinen Vorstellungen streng genommen nur ein infinitesimal kleiner Teil dessen, was wir tatsächlich an Wissen angehäuft haben. Liegt eine Theorie auch nur einen Millimeter neben der Realität, dann bricht ihr Wissen in sich zusammen. In Deinem Beispiel kann man den Millimeter durchaus wörtlich nehmen. Selbst wenn ein Pfeil ins Schwarze trifft, hat der Schütze nach Deinen Begriffen noch vorbei gezielt, wenn er das Zentrum um einen Zehntel Nanometer verfehlt. Und wenn eine Theorie 999 richtige Folgerungen liefert und eine falsche, dann ist die Theorie falsch und liefert schon kein Wissen mehr. Wie absurd.
Wahrheit und Falschheit sind primär Eigenschaften von Aussagen, und die Wahrheitsbedingung in der klassischen Definition von "Wissen" bezieht sich darauf und nicht auf komplexe Theorien. Das hätte ich früher unterstreichen müssen.
Der Dreh- und Angelpunkt unserer Debatte ist die folgende Frage:
Stellt ein gerechtfertigter Glaube, der falsch, aber (unzufälligerweise) annähernd wahr/wahrheitsnah/wahrheitsähnlich ist, jemals Wissen dar?Bleiben wir bei deinem Beispiel:
Weiß die Polizei, dass der Täter 1,90m groß ist, wenn sie gerechtfertigterweise glaubt, dass er 1,90m groß ist, er aber tatsächlich nicht 1,90m groß ist, sondern 1,90234m?
Diese Frage scheint doppeldeutig:
1. Weiß die Polizei, dass der Täter
genau 1,90m groß ist, wenn sie gerechtfertigterweise glaubt, dass er
genau 1,90m groß ist, er aber er tatsächlich nicht genau 1,90m groß ist, sondern 1,90234m?
2. Weiß die Polizei, dass der Täter
ungefähr 1,90m groß ist, wenn sie gerechtfertigterweise glaubt, dass er
ungefähr 1,90m groß ist, und er tatsächlich nicht genau 1,90m groß ist, sondern 1,90234m?
Mein intuitive Antwort: 1 nein, 2 ja.
darwin upheaval hat geschrieben:Nein. Wie kommst Du denn darauf? E.S. hat doch die Bungesche Wissens-Definition zitiert. Wissen ist Lerninhalt. Für ihn (bzw. mich) kann der Wahrheitswert von Wissen auch Null sein. Wissen muss auch weder geglaubt werden noch gerechtfertigt sein. Ich verfüge z. B. über das Wissen der biblischen 6-Tage-Schöpfung, ohne auch nur ein Wort davon zu glauben.
Wie schon betont, was mit "Wissen ist Lerninhalt" eigentlich gemeint ist, ist
Kenntnis von Lerninhalten. Du kennst die ("weißt die…" ist schlechtes Deutsch!) biblische Schöpfungsgeschichte, weil du sie irgendwann und irgendwie kennengelernt hast, und damit weißt du, was sie beinhaltet, d.h. was
ihr nach der Fall ist.
Man kann natürlich wissen, was einer Geschichte nach der Fall ist, ohne zu glauben oder zu wissen, dass das, was ihr nach der Fall ist, tatsächlich der Fall ist.
(Hier geht es um den Unterschied zwischen
"is true" und
"is true-according-a-story".)
darwin upheaval hat geschrieben:Wissen zuzulassen, nach meiner Definition ist das gar kein Problem. Dein Wissensbegriff wirft hier doch das Problem auf, Wahrheitsnähe quantitativ so zu fassen, dass die Newtonsche Theorie noch als "Wissen" durchgeht. Oder sehe ich da etwas falsch?
Ausnahmsweise zitiere ich mal aus Wikipedia:
"Am Versuch, die Wahrheitsnähe numerisch zu bestimmen, wurde nicht nur kritisiert, dass seine Ergebnisse unbrauchbar seien. Nach Herbert Keuth enthält er überhaupt schwere begriffliche Fehler. Er sei kontradiktorisch und definiere auch nicht ein Maß. Es gebe keine adäquate Grundlage, nach welcher elementaren Sätzen Werte zugeschrieben werden könnten, die numerisch ausdrücken, wieviel sie über die Realität behaupten."(
http://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheitsn%C3%A4he)
Hier Keuths Originalzitat:
"Inzwischen ist Poppers Begriff der verisimilitude bereits mehrfach kommentiert worden. Die Beurteilungen reichen von 'Eine Leistung, wunderbar sowohl in ihrer Einfachheit als auch in ihrer Problemlösungskraft' [Lakatos] bis 'Ich betrachte diesen Versuch als einen fast völligen Fehlschlag' [Bar-Hillel]. Tichy, Harris und Miller haben den Begriff eingehender untersucht. Sie wiesen nach, daß weder Poppers Vorschlag, die Wahrheitsnähe zweier Hypothesen anhand von Inklusionsbeziehungen zwischen ihren Wahrheitsgehalten und ihren Falschheitsgehalten zu vergleichen, noch sein Vorschlag, den Gehalten numerische Werte zuzuordnen und anhand dieser Werte ein Maß der Wahrheitsnähe zu berechnen, brauchbar ist.
Damit ist aber keineswegs alles gesagt. Poppers Versuch, den Begriff des logischen Gehalts zu relativieren, wurde wegen eines Ableitungsfehlers nicht richtig beurteilt. Andererseits wurde der Versuch, die Wahrheitsnähe numerisch zu bestimmen, nur wegen der Unbrauchbarkeit seiner Ergebnisse kritisiert. Er enthält aber schwere begriffliche Fehler. Er ist kontradiktorisch und definiert auch nicht, wie behauptet, ein Maß. Diese Fehler ließen sich zwar ausräumen, das Resultat hätte aber mit Poppers Vorschlag nur noch die grundsätzliche Idee gemeinsam, die Annäherung an die Wahrheit zu messen, indem man den Umfang von Wahrheits- und Falschheitsgehalten mißt und danach die Annäherung an T berechnet. Brauchbar wären seine Aussagen trotzdem nicht. Das liegt z.T. an den Eigenschaften der Wahrheitsgehalte und Falschheitsgehalte. Wichtiger aber ist, daß es keine adäquate Grundlage gibt, auf der man elementaren Sätzen Werte zuschreiben könnte, die numerisch ausdrücken, wieviel sie über die Realität behaupten. Davon sind nicht nur die Maße der Wahrheitsnähe betroffen, die auf der Unterscheidung von Wahrheitsgehalten und Falschheitsgehalten basieren, sondern alle denkbaren Maße, die in irgendeiner Weise den Informationsgehalt von Hypothesen wiedergeben."(Keuth, Herbert.
Realität und Wahrheit: Zur Kritik des kritischen Rationalismus. Tübingen: Mohr Siebeck, 1978. S. 119-20)
darwin upheaval hat geschrieben:Wie unterscheidest Du "Beinahewissen" von "Nichtwissen"? Wo liegt die Grenze?
Der Begriff "Annäherungswissen" gefällt dir besser, oder?