Ziel der Bildung

Ziel der Bildung

Beitragvon stine » Do 12. Nov 2009, 08:51

Der Ruf nach besseren Schulsystemen und mehr Bildung hallt durchs Land.
Ich möchte an dieser Stelle einmal die Diskussion aufwerfen, was unter "besserer Bildung" eigentlich verstanden wird und welche Ziele mit ihr erreicht werden sollen.

Geht es prinzipiell darum, den Wesenskern der Menschen zu prägen, indem man ihnen allgemeingültige menschliche Verhaltensregeln mitgibt, sie fachbezogen ausbildet, um ihnen damit ihren Broterwerb zu sichern oder muss die wissenschaftliche Erkenntnis aus Generationen von Vordenkern allen Menschen gleichermaßen beigebracht und abgefragt werden?
Ist der "bessere" Beruf der Hochschulprofessor, weil er mehr verdient und deswegen höheres Ansehen genießt?
Warum wird einerseits Hilfe und Mitgefühl für Erwerbslose gefordert, aber andererseits der Erwerb in Dienstleistung und nichtwissenschftlichen Berufen als geringschätzig empfunden?
Ist der Intelligente mehr wert als der weniger Intelligente?
Ist der gebildete Arbeitslose mehr wert als der ungebildete Dienstleister?

Wohin wollen wir eigentlich als Gesellschaft?

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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon jackle » Do 12. Nov 2009, 11:39

stine hat geschrieben:Ist der Intelligente mehr wert als der weniger Intelligente?

Ein wenig dürfte das mit der Selbstidentifikation des Menschen zu tun. Ein Schimpanse gilt für uns als Tier. Wir erlauben es, solche Tiere in Tierversuchen einzusetzen. Warum? Weil wir den im Vergleich zum Menschen für unsäglich dumm halten. Wir Menschen identifizieren uns ganz wesentlich über unser Gehirn.

stine hat geschrieben:Ist der gebildete Arbeitslose mehr wert als der ungebildete Dienstleister?

Nein, das will ich nicht sagen. Der Wert in unserer Gesellschaft wird auch über das Einkommen vermittelt. Wer viel Geld verdient, aber ungebildet ist, kann dennoch seinen Status haben. Es gibt sehr viele hochgebildete Menschen, die echte Achtung vor dem Müllwerker haben, der täglich wichtige Arbeit verrichtet, und in keinster Weise auf ihn herabschauen. Menschen sind nun mal verschieden. Der Trend zur Bildung liegt auch am Trend hin zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. In immer mehr Arbeitsplätzen ist heute Bildung erforderlich. Bei den globalen Konzernen (z. B. Deutsche Bank) sind interne Projektdokumentationen in Englisch zu verfassen, damit auch der Mitarbeiter in Singapur etwas dazu sagen kann. Ein Mitarbeiter muss also auch Englisch lesen und schreiben können. Am Schalter: oftmals das Gleiche. Der Bankmitarbeiter muss in der Lage sein, einen Schweden zu bedienen: er muss Englisch können.

Problematisch wird Bildung allerdings speziell im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung. Denn Frauen können Bildung genauso gut erlangen wie Männer, im mittleren Bereich sogar besser. Und da haben die Unternehmen herausgefunden, dass sie Frauen oftmals genauso gut bis besser als Männer gebrauchen können. Hierdruch sind Unmengen an Menschen in der Arbeitslosigkeit gelandet, vor allem geringer qualifizierte, ältere und jüngere (unerfahrene) Menschen, denn so viele Arbeitsplätze gibt es nicht, als dass man alle Männer und Frauen beschäftigen könnte. Es hat hierdurch eine Umschichtung von der berufslosen Hausfrau zum arbeitslosen Mann stattgefunden. Gleichzeitig sorgt Bildung unter diesen Bedingungen für eine Verringerung des Kinderwunsches bei Frauen und Männern. Das ist schlichtweg fatal, weil dann nämlich ausgerechnet das, was in unserer Gesellschaft als erstrebenswert gilt (und wozu wir alle Kinder drängen), mit geringerer Fortpflanzung belohnt wird. Blöder geht's nimmer!

stine hat geschrieben:Wohin wollen wir eigentlich als Gesellschaft?

Wir möchten das schaffen, woran Hitler noch gescheitert ist: Uns selbst ausrotten.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon xander1 » Do 12. Nov 2009, 14:53

stine hat geschrieben:was unter "besserer Bildung" eigentlich verstanden wird

Da denkt sich jeder seinen Teil und ich möchte gar nicht erst versuchen das dingfest zu machen.


stine hat geschrieben:Ist der "bessere" Beruf der Hochschulprofessor, weil er mehr verdient und deswegen höheres Ansehen genießt?

Das muss man subjektiv einfach für sich feststellen was der bessere Beruf ist. Allerdings ist es eine andere Sache was für eine Ansehen welcher Beruf genießt. Ich finde es gehört auch einiges dazu Müllmann zu sein, aber da denke ich auf eine Art idealistisch. Ich frage mich wie die Gesellschaft das sieht. Der Hochschulprofessor hat nicht höheres Ansehen wegen seinem Gehalt, sondern ich denke weil seine Leistung für die Gesellschaft erheblich ist.

stine hat geschrieben:Warum wird einerseits Hilfe und Mitgefühl für Erwerbslose gefordert, aber andererseits der Erwerb in Dienstleistung und nichtwissenschftlichen Berufen als geringschätzig empfunden?

Im Bereich Wissenschaft gibt es Fortschritt. Fortschritt dient der Menschheit. Dienstleistungen werden fortgeführt und müssen aufrecht erhalten werden. Sie dienen Personenkreisen. Ich denke das ist der Unterschied.

stine hat geschrieben:Ist der Intelligente mehr wert als der weniger Intelligente?

Das kommt ganz darauf an für wen und wozu der Mensch von Nutzen sein soll. Man müsste hier jeden einzeln fragen. Wie ergeht es dir eigentlich wenn du eine vernünftige Frage stellst und jemand antwortet dummschwätzig? Das ist eine manipulative Frage. Ich frage einmal anders: Wie ergeht es dir wenn jemand sich besonders wertschätzt wegen seiner Intelligenz? Eigentlich sind die besonders erfolgreichen Menschen am ehesten gefährdet vor Versagensängsten konnte man in den Zeitungen lesen zum Tod von Enke. Von der Newsgroup der Mensa erfahre ich, dass Intelligenz überschätzt wird und dass es nur eine Eigenschaft von sehr vielen Eigenschaften von Menschen ist. Intelligenz ist hinderlich wenn die eigene gegen dich selbst arbeitet. Das ging mir schon so.

stine hat geschrieben:Ist der gebildete Arbeitslose mehr wert als der ungebildete Dienstleister?

Denk nochmal über die Frage nach. Wenn du weißt für wen, dann erschließt sich dir diese Frage von allein. Wenn du mich fragst, dann muss ich dir sagen, dass mir diese Kriterien nicht ausreichen, um irgendetwas zu beurteilen.
stine hat geschrieben:Wohin wollen wir eigentlich als Gesellschaft?

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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon Atanar » Fr 13. Nov 2009, 20:36

Welche Art der Bildung wird gesucht?

Regierung: Schnell und unkompliziert, aber vor allem ergiebig (wenn nicht sogar billig) auf das Berufsleben vorbereiten
Arbeitgeber: 20 Jahre alt mit 20 Jahren Berufserfahrung und Fachkompetenz und wenig Ansprüchen
Schüler: Lernen was Spaß macht und womit man später meist kaum was verdienen kann
Lehrer Typ A: Selbstbewusstsein, Eigenverantwortung und kreatives Denken, auch Lösungen finden zu können und soziale Kompetenz
Lehrer Typ B: Gerade genug um die Abschlussprüfung zu bestehen
Eltern: Schnell und möglichst ohne Eigenarbeit

Tja es gibt da viele Vorstellungen :irre: . Wir stellen fest: Die Überschneidungen decken nicht den Großteil ab :nosmile:
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon pluto » Sa 14. Nov 2009, 17:38

stine hat geschrieben:Der Ruf nach besseren Schulsystemen und mehr Bildung hallt durchs Land....

zwischen dem was gerufen wird und dem was wirklich gewollt wird (und von wem) besteht ja leider ein Unterschied.
Wer 'oben' ist, hat kein Interesse daran, dass die, die 'unten' besser gebildet sind. Da soll's grad soviel sein, dass sie die ihnen zugewiesene Arbeit ohne zu viel Ausschuss ausführen können. Und dabei auch noch zufrieden sind: 'Ach wie froh bin ich, dass ich ein Delta bin, ein Alpha hat immer so viel zu tun...

Bildung wird gewünscht, wie sie in der 'schönen neuen Welt' gewünscht ist: beschränkt (aus wiki) "auf eine pragmatische, für die Gemeinschaft nützliche Wissensvermittlung. Humanistische Bildung ist gesellschaftlich nicht gewünscht, da sie den Menschen zum Nachdenken anregt und ihm eine kritischere Sicht auf die Welt ermöglicht."

Wir (unsere westliche Gesellschaft) befinden uns noch auf dem Weg zu den folgenden Einsichten der schönen neuen Welt, nämlich auch den technischen Fortschritt einzuschränken, "um die Stabilität der Gesellschaft nicht zu gefährden. So werden z. B. arbeitssparende Erfindungen ignoriert bzw. verboten, da Arbeitslosigkeit, selbst bei materiellem Wohlstand, zu Unzufriedenheit führt." (wiki).
stine hat geschrieben:Geht es prinzipiell darum, den Wesenskern der Menschen zu prägen, ...

was könnte denn der 'Wesenskern' des Menschen sein?

stine hat geschrieben:Ist der "bessere" Beruf der Hochschulprofessor, weil er mehr verdient und deswegen höheres Ansehen genießt?

Natürlich nicht (leider :( ), der Professor ist ein 'Freak' der außerhalb steht... wirklich hohes Ansehen hat der, der echt Kohle macht...

stine hat geschrieben:Ist der Intelligente mehr wert als der weniger Intelligente?

Mit der Intelligenz ist das ja witzig. Das einzige das gerecht verteilt ist. Jeder denkt doch, er hat genug davon abbekommen und nur die andern sind die Idioten.
Intelligenz ist zwar 'sehr gewollt' aber die Auswirkungen davon will niemand... :/ - und auch hier wieder. Jemand mit hoher Ausbildung (und oft auch etwas höherer logischer Intelligenz) wird sich idR in der Arbeitslosigkeit anders verhalten als jemand mit niedriger.

Bildung 'an sich' gibt es imo nicht. Wir (unsere Gesellschaft) müssen festlegen was wir darunter verstehen.
Das größte 'Problem' bei der Bildung sehe ich beim lernen. Lernen ist aus der Mode gekommen. Studenten fragen manchmal bei dicken Readern: 'gibt's da nicht ne Zusammenfassung?' - :mg:
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon Nanna » Sa 14. Nov 2009, 20:48

pluto hat geschrieben:Bildung 'an sich' gibt es imo nicht. Wir (unsere Gesellschaft) müssen festlegen was wir darunter verstehen.
Das größte 'Problem' bei der Bildung sehe ich beim lernen. Lernen ist aus der Mode gekommen. Studenten fragen manchmal bei dicken Readern: 'gibt's da nicht ne Zusammenfassung?' - :mg:


Wenn man mittlerweile auch, statt in vier Stunden einen Essay zu schreiben, gebeten wird, zehn Fragen auf vier Seiten in 90min. kurz und knapp zu beantworten (nein, kein Witz, sondern bittere Realität des Bachelor-Daseins) und das auch noch fünf bis zehnmal am Ende jedes Semesters, dann entstehen solche Wünsche. Ich habe selber die Erfahrung machen müssen, dass das Diskutieren und Wiederkäuen von Texten in einer Lerngruppe zu wesentlich schlechteren Noten geführt hat, als bei den Leuten, die einfach stur die Zusammenfassung der Powerpoint-Folien aus den Vorlesungspräsentationen auswendig gelernt haben. Und viele Leute fragen sich auch, wann sie die Muse für das Durcharbeiten eines 200-Seiten-Readers finden sollen, wenn ohnehin genug Workload vorhanden ist und der Professor schon durchblicken lässt, dass Detailwissen in der Abschlussklausur ohnehin nicht gefragt wird. Der Professor tut das auch nicht unbedingt gerne, aber das wird ihm eben mehr oder weniger so aufgedrückt und er muss ja mit der Korrektur von mehreren hundert Klausuren zweimal im Jahr auch fertig werden.

Das lässt meiner Meinung nach einigen Rückschluss darauf zu, was die Benchmark-Gesellschaft unter Bildung versteht.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon jackle » So 15. Nov 2009, 00:30

Nanna hat geschrieben: Das lässt meiner Meinung nach einigen Rückschluss darauf zu, was die Benchmark-Gesellschaft unter Bildung versteht.


Jedenfalls sind die Ergebnisse erschreckend, das wird auch mir mehr und mehr bewusst. Man merkt das selbst hier im Forum. Viele Menschen scheinen selbst bei einfachsten Argumentationen nicht mehr sicher entscheiden zu können, ob sie richtig oder falsch ist. Offenbar steht hinter der gelernten Oberfläche nichts mehr.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon Mark » So 15. Nov 2009, 01:03

...das geht sogar so weit, daß viele Akademiker anzutreffen sind, welche noch nicht vom baldigen Untergang der Menschheit überzeugt sind.

Bildung verändert die Menschen. Es macht sie mehr zu einem Teil der Bildung, als der Mensch die Bildung zu einem Teil von sich macht.
Viele werden nicht damit fertig, daß sie die Bildung zu einem Wesen macht, das immer mehr allen anderen ebenso gebildeten gleicht. Wer gleiche Bildung besitzt hat idR darin die grössten Gemeinsamkeiten. Es gibt dann immer ein paar Freaks, welche sich nicht von einem Einheits-Bildungs-Menschsein vereinnehmen lassen wollen. Die gehen dann oft auf Konfrontationskurs aus puren Gründen der Selbstfindung.
Da geht die Welt beizeiten mal unter.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon stine » So 15. Nov 2009, 10:56

Sechs Eingangsklassen im hiesigen Sprengelgymnasium, trotz sinkender Geburtenraten und das großstädteweit.
Da wundert es nicht, wenn die Ansprüche, an später als "gebildet" bezeichnete Menschen, immer höher werden müssen, sitzt das Gros der Arbeiterklasse doch auf den Versen und treibt die Ansprüche in schwindelerregende Höhe.
Überzeichnete Stellenausschreibungen für geringfügig Verdienende sind nur eine Folge der (Über)Bildung. Wer geht denn im Anschluss ans Studium noch wirklich in die Wissenschaft?
Straßenkehrer mit zwei Semester Maschinenbau, weil sie statt Besen, den Laubsauger mit 1000PS bedienen müssen.

Und trotz aller Bildung verliert der Mensch an Bedeutung.
Alle Bildung avanciert sozial gesehen zum Nachteil, da immer mehr, die nicht mithalten können, immer mehr in der Versenkung verschwinden. Längst ist nicht mehr das Geld der Kluftentreiber sondern der Bildungsstatus.
Das Ziel der Bildung, wie sie heute gewaltsam erzwungen wird, ist mir noch nicht klar.

Begabte junge Menschen, die wirklich das Zeug dazu haben, Dinge schnell zu begreifen und vorwärts zu treiben, werden von genervten Lehrern und Dozenten nicht mehr gefördert, verschwinden im Pool der Mitbetreiber einer bildungsstatushungrigen Gesellschaft, die glaubt, Bildung wäre das Wundermittel.

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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon jackle » So 15. Nov 2009, 11:57

stine hat geschrieben:Und trotz aller Bildung verliert der Mensch an Bedeutung.


Dem stimme ich zu. Und er verliert sogar dank Bildung an Bedeutung.

Im Forum wird beispielsweise beklagt, dass ein Studium heute nicht wirkliche Bildung vermittelt, sondern nur möglichst effiziente Arbeitskräfte produzieren soll. Dabei denken wir doch längst genau in diesem Sinne.

Eine Frau, die sich umfassend bildet, um anschließend ihren Kindern möglichst viel Bildung zukommen zu lassen, gilt heute als Verschwenderin, obwohl sie lediglich versucht, etwas zu erhalten, damit es nicht auch in der Wirtschaft sinnlos verschwendet wird. Würde man sie dafür entlohnen, würde man das gar eine Herdprämie nennen. Warum dann nicht gleich das Gehalt des promovierten Forschers in der Pharmaindustrie als Laborprämie abtun, denn der produziert zunächst auch nur Kosten.

Das absurde daran ist: Je mehr sich eine Gesellschaft um bevölkerungsweite Bildung bemüht, desto dümmer wird sie. Früher gab es Klassengesellschaften, in denen ein großer Teil der Bevölkerung nur einen sehr erschwerten Zugang zu Bildung hatte. Intelligenz konnte dort weiter im Verborgenen gedeien, ohne gleich geplündert zu werden. Heute wird jede erdenkliche geistige Kompetenz bei Frauen und Männern auf den Arbeitsmarkt geworfen, wo dann das, was die Wirtschaft am besten gebrauchen kann, abgegriffen und anschließend verbraucht wird. Diese Menschen reduzieren nämlich ihre eigenen Reproduktionsmöglichkeiten (Familie) signifikant, denn man kann nicht beides gleichzeitig tun: toll im Job sein, sich dabei permanent weiterbilden müssen ("lebenslanges Lernen"), und zu Hause dann noch eine große Familie haben. Das geht in aller Regel nicht, auch wenn der Feminismus dieses Märchen täglich aus Eigennutz in die Welt hinaus posaunt. Auf diese Weise wird das vorhandene Humanvermögen unseres Landes systematisch geplündert. Und viele beten diese Ideologie nach, weil sie sich davon einen Eigennutzen versprechen.

Nein, ein großes Problem an Bildung ist, dass sie heute in keinem guten Ruf mehr steht, wenn sie nur Menschen zukommen soll.

Der qualifizierte Pharmaforscher ist jedoch für sein Unternehmen wichtiger als der Produktionsmitarbeiter. Letzterer ist ersetzbar, ersterer kaum. Und aus dem gleichen Grund ist eine hochgebildete Frau, die fünf eigene Kinder großzieht, für die Gesellschaft wichtiger, als wenn sie in einem Büro Akten bearbeitet. Aber wer interessiert sich schon für die Gesellschaft bzw. für Menschen? Alles soll nur noch der Wirtschaft dienen, und eine Frau ist nur dann eine freie, emanzipierte Frau, wenn auch sie ihre Kompetenzen der Wirtschaft in den Rachen schiebt, statt für eine Erhaltung des Humanvermögens zu sorgen. Ein Irrsinn!
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon pluto » So 15. Nov 2009, 13:10

stine hat geschrieben:...Und trotz aller Bildung verliert der Mensch an Bedeutung.

Ich verstehe so ungefähr was du meinst mit dem 'Bedeutung verlieren', aber denke nicht, dass das so generell stimmt. Das Individuum hat imo in vielen Punkten sogar eine überzogene Bedeutung. 'Selbstverwirklichung' wird inzwischen als 'Recht' beschaut. Dabei ist weder der eine noch der andere Begriff deutlich definiert. Wenn für jemand 'Selbstverwirklichung' bedeutet, sich jedes Jahr ein neues Auto zu kaufen, oder dreimal in Urlaub zu fahren... kann jemand darauf 'Recht' haben? Ist das sinnvoll?

stine hat geschrieben:Alle Bildung avanciert sozial gesehen zum Nachteil, da immer mehr, die nicht mithalten können, immer mehr in der Versenkung verschwinden. Längst ist nicht mehr das Geld der Kluftentreiber sondern der Bildungsstatus.
Das Ziel der Bildung, wie sie heute gewaltsam erzwungen wird, ist mir noch nicht klar.

Ich bin mir nicht sicher, ob Geld von Bildung so ohne weiteres zu trennen ist. Ausserdem, denke ich, wünschen z.B. Eltern sich für ihre Kinder in erster Linie eine finanziell gesicherte Zukunft und das mit der Bildung... na ja. Ausserdem wird oft vergessen, dass Kinder am meisten von dem lernen was ihnen vor gelebt wird. Sehen sie nie jemanden ein Buch lesen, hören sie nie einen Meinungsaustausch... was will man erwarten? Das kann keine Schule oder Uni aufholen.
stine hat geschrieben:Begabte junge Menschen, die wirklich das Zeug dazu haben, Dinge schnell zu begreifen und vorwärts zu treiben, werden von genervten Lehrern und Dozenten nicht mehr gefördert,

Das ist mir zu pauschal. Natürlich gibt es genervte Lehrer und Dozenten - sind auch 'nur' Menschen. Aber die von dir postulierten 'begabten, jungen Menschen' kommen in einem Alter zu Lehrern und Dozenten wo schon ein wichtiger Grundstein gelegt ist. Ich kenne viel gute Lehrer und Dozenten, die ihr bestes geben und versuchen Hilfestellungen zu geben wo es nur geht. Ich kenne keinen Kollegen der z.B. einen Studenten mit seinen Vorschlägen oder Fragen abweisen würde. Was nicht heißt, dass es die nicht auch gibt - aber die Regel sind sie nicht.

Nanna hat geschrieben:... Ich habe selber die Erfahrung machen müssen, dass das Diskutieren und Wiederkäuen von Texten in einer Lerngruppe zu wesentlich schlechteren Noten geführt hat, als bei den Leuten, die einfach stur die Zusammenfassung der Powerpoint-Folien aus den Vorlesungspräsentationen auswendig gelernt haben. ...

Ja, da kann ich dir leider nur Recht geben, das gibt es besonders in Studiengängen mit sehr vielen Studenten. Sehr ärgerlich und auch schade. Da kann ich nur die Empfehlung - Augen zu und durch und versuchen so schnell wie möglich in den Masterabschnitt. Das ist natürlich nicht optimal, aber man muss es auch praktisch für den Studenten sehen. Der studiert jetzt unter den Bedingungen und muss sehen das beste daraus zu machen.

Mark hat geschrieben:...das geht sogar so weit, daß viele Akademiker anzutreffen sind, welche noch nicht vom baldigen Untergang der Menschheit überzeugt sind....

ist das jetzt sarkastisch gemeint? Was soll das denn sein - 'viele Akademiker'?
'Die' Akademiker gibt es genau so wenig wie 'die' Deutschen, oder 'die' irgendwas. Eine Uni vermittelt auch nicht unbedingt 'Bildung' - höchstens eine bestimmte Form davon. Aber Fachwissen würde ich nicht 'Bildung' nennen.

Daher würde mich doch mal interessieren was hier jeder so unter 'Bildung' überhaupt versteht.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon jackle » So 15. Nov 2009, 13:31

stine hat geschrieben:...verschwinden im Pool der Mitbetreiber einer bildungsstatushungrigen Gesellschaft, die glaubt, Bildung wäre das Wundermittel.


Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang finde ich noch immer den FAZ-Artikel von Matthias Heine: Ich war Unterschicht.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon pluto » So 15. Nov 2009, 13:33

jackle hat geschrieben:...
Das absurde daran ist: Je mehr sich eine Gesellschaft um bevölkerungsweite Bildung bemüht, desto dümmer wird sie.

Wie bitte? Das ist doch nicht dein Ernst? Die Menschen in der westlichen Welt haben soviel Zugang zu Wissen wie noch nie und wer lesen kann, das können die meisten, kann es sich erschließen.

Was soll denn die "Intelligenz ... im Verborgenen" sein?

jackle hat geschrieben:..Diese Menschen reduzieren nämlich ihre eigenen Reproduktionsmöglichkeiten (Familie) signifikant, denn man kann nicht beides gleichzeitig tun: toll im Job sein, sich dabei permanent weiterbilden müssen ("lebenslanges Lernen"), und zu Hause dann noch eine große Familie haben. Das geht in aller Regel nicht, auch wenn der Feminismus dieses Märchen täglich aus Eigennutz in die Welt hinaus posaunt. ...

Da kann ich zustimmen - alles geht nicht - aber was hat das mit Feminismus zu tun? Die Frau zurück an den Herd und alle Probs sind gelöst?
jackle hat geschrieben:Im Forum wird beispielsweise beklagt, dass ein Studium heute nicht wirkliche Bildung vermittelt, sondern nur möglichst effiziente Arbeitskräfte produzieren soll. Dabei denken wir doch längst genau in diesem Sinne.

Wer ist wir? Ich denke nicht so.
Was jeder 'mitmacht' oder nicht ist eine Entscheidung des Einzelnen. Egal was 'die Gesellschaft' angeblich vorgibt. Ein Lebensstil hat immer seinen Preis den man bereit sein muss zu zahlen. Nach Bildung schreien, bemängeln, dass 'die Gesellschaft' alles falsch macht... ändert nichts. Jeder der Bildung möchte, kann sie sich aneignen. Wer keine möchte, kann es lassen. Das hat dann auch was mit einer Art der Intelligenz zu tun. :mg:
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon jackle » So 15. Nov 2009, 14:16

pluto hat geschrieben: Wie bitte? Das ist doch nicht dein Ernst? Die Menschen in der westlichen Welt haben soviel Zugang zu Wissen wie noch nie und wer lesen kann, das können die meisten, kann es sich erschließen.

Was soll denn die "Intelligenz ... im Verborgenen" sein?


Intelligenz und Bildung beruhen auch auf genetischen Voraussetzungen. Wenn es auch Intelligenz gibt, die sich reproduktiv („im Verborgenen“) erneuern kann, ohne auch restlos im Moloch der Wirtschaft zu verschwinden, wird sie gesellschaftlich besser erhalten. Wir vernachlässigen ständig die Frage: Was könnte aus Sicht der Gesellschaft und insbesondere der nächsten Generation sinnvoll sein?

pluto hat geschrieben: Da kann ich zustimmen - alles geht nicht - aber was hat das mit Feminismus zu tun? Die Frau zurück an den Herd und alle Probs sind gelöst?


Das erläuterte ich bereits mehrfach. Das Patriarchat bestand grob gesprochen aus einer sexuellen Arbeitsteilung. In der Sprache der sozialen Insekten: Männliche Arbeiter, weibliche Königinnen. Diese Arbeitsteilung ist kompetenzerhaltend. Außerdem sind dann Familien meist selbst in der Lage, ihre Kinder zu versorgen, da mit zusätzlichen Kindern nur die Familienkosten steigen, nicht aber das Familieneinkommen sinkt.

Unter Gleichberechtigungsbedingungen (beide Elternteile gehen arbeiten) steigen mit zusätzlichen Kindern nicht nur die Familienkosten, sondern es sinkt auch noch das Familieneinkommen, weil ab einer bestimmten Familiengröße mindestens ein Elternteil die Arbeitszeiten reduzieren muss. Außerdem kann man sich dann nicht abends noch für den Beruf weiterbilden. Die Karrieremöglichkeiten schwinden folglich. Das hatte zur Folge, dass Kinder nun zunehmend dort entstehen, wo ihre Eltern nur wenig an sie weitergeben können. Die Folge: Das Bildungsniveau der Kinder sinkt. Das ist heute auf breiter Front feststellbar. Es spricht für einen gnadenlosen Egoismus und für erhebliche Mängel in der Analysefähigkeit, auf angebliche geringere Bildungsanstrengungen des Staates hinzuweisen, wenn wir es gleichzeitig hinnehmen, dass Kinder zunehmend in bildungsfernen Elternhäusern entstehen. Also wenn schon die Grundlagen nicht stimmen (was Hänschen nicht lernt …). All das hat etwas mit dem Feminismus zu tun, der Rechte für Frauen auf Kosten der Kinder durchgesetzt hat. Jede Quotenregelung ist im Grunde eine kinderfeindliche Maßnahme, weil hierbei selbst ein Familienvater mit 4 Kindern gegenüber einer kinderlosen Frau bei gleicher Qualifikation das Nachsehen hat. Den leitenden Posten mit der besseren Bezahlung bekommt dann die kinderlose Frau, die nur für sich selbst steht, und nicht der Familienvater, der 6 Personen zu ernähren hat.

Nein, ich will nicht zum Patriarchat zurück, obwohl dies kommen wird, wenn man die Sache laufen lässt. Ich fordere jetzt einen Beruf für Familienarbeit (mit Ausbildung, Bezahlung, Rente etc.). Wenn man die sexuelle Arbeitsteilung aufhebt, muss man quasi eine reproduktive Arbeitsteilung unter Frauen einführen. Die sozialen Insekten waren in der Hinsicht schlauer als wir. Die scheinen mehr nachgedacht zu haben.

pluto hat geschrieben: Jeder der Bildung möchte, kann sie sich aneignen. Wer keine möchte, kann es lassen. Das hat dann auch was mit einer Art der Intelligenz zu tun. :mg:


Hier wird immer etwas ganz anderes behauptet, nämlich dass Menschen systematisch von Bildung ausgeschlossen werden, angeblich durch den Staat. Ich teile diese Auffassung nicht, aber diese Meinung ist unter Gutmenschen heute der Standard.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon Nanna » So 15. Nov 2009, 14:54

jackle hat geschrieben:Hier wird immer etwas ganz anderes behauptet, nämlich dass Menschen systematisch von Bildung ausgeschlossen werden, angeblich durch den Staat. Ich teile diese Auffassung nicht, aber diese Meinung ist unter Gutmenschen heute der Standard.
Du hast in letzter Zeit schon öfter auf "Jenseits von Gut und Böse" von Michael Schmidt-Salomon verwiesen. Wenn ich dich richtig verstehe, teilst du aber dessen Argumentation, dass das neuronale System durch die Erfahrungen eines Menschen geprägt wird, nicht. Sonst würdest du anerkennen, dass die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen aus sog. "bildungsfernen Schichten" aufwachsen deren Lage determinieren, dass also eine Änderung der Lebensbedingungen der Unterschicht nötig wäre, um den Begabten aus diesem Milieu zumindest annähernd dieselben Aufstiegschancen zu ermöglichen wie Kindern des Bildungsbürgertums.

Komischerweise scheinst du aber durchaus zu realisieren, dass es da irgendwie ein Problem geben könnte:
jackle hat geschrieben:Es spricht für einen gnadenlosen Egoismus und für erhebliche Mängel in der Analysefähigkeit, auf angebliche geringere Bildungsanstrengungen des Staates hinzuweisen, wenn wir es gleichzeitig hinnehmen, dass Kinder zunehmend in bildungsfernen Elternhäusern entstehen. Also wenn schon die Grundlagen nicht stimmen (was Hänschen nicht lernt …).

Was das Problem des "Aussterbens" der gebildeten Schichten durch fehlende Geburten angeht, magst du durchaus recht haben. Nur konstruierst du hier einen Zusammenhang mit den Bildungsproblemen der Unterschicht, der nicht da oder zumindest nicht derart relevant ist: Es mag Bigotterie oder wenigstens Inkonsequenz sein, das eine anuzprangern und das andere zu unterlassen. Das ändert aber kein Quäntchen daran, dass die Chancenungleichheit nach wie vor nicht besteht, worauf du selbst im o.g. Zitat hingewiesen hast (unterschiedliche Grundlagen)! Und das hat nunmal (auch?) andere Ursachen als nur "schlechte Gene".
Ich finde vieles, von dem, was du über unser Nachwuchsproblem sagst richtig und sehe den Lösungsansatz der Familienmanager/in durchaus als eine möglicherweise sehr gute bis - je nach Ausführung - vielleicht sogar bahnbrechende Lösung an. Ich teile aber nicht deinen Drang, jedes gesellschaftliche Problem ausschließlich auf Gene und eine ungünstige Nachwuchssituation zurückzuführen. Gene sind Anlagen, keine Garantien, sie müssen auf eine Umwelt treffen, die ihnen ihre Entfaltung ermöglicht, sonst werden sie abgeschaltet und wegselektiert. Stärkere Bildungs- und Lebensführungsanleitungen in der Unterschicht würden vielleicht auch einmal dazu führen, dass sich in diesen Milieus sowohl eine leistungsorientiertere Kultur als auch entsprechende Gene durchsetzen. Das hat mit dem Problem der Fertilitätsraten erstmal nichts zu tun. Tu' mir/uns bitte einen Gefallen und halte unterschiedliche Probleme und deren Ursachen auseinander. Mit monokausalen Erklärungen für jedes Problem macht man sich nur unglaubwürdig, was vor allem dann sehr schade ist, wenn ein Teil dessen, was man sagt, vielleicht wirklich mehr Beachtung verdienen würde.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon jackle » So 15. Nov 2009, 15:55

Nanna hat geschrieben:Ich teile aber nicht deinen Drang, jedes gesellschaftliche Problem ausschließlich auf Gene und eine ungünstige Nachwuchssituation zurückzuführen. Gene sind Anlagen, keine Garantien, sie müssen auf eine Umwelt treffen, die ihnen ihre Entfaltung ermöglicht, sonst werden sie abgeschaltet und wegselektiert. Stärkere Bildungs- und Lebensführungsanleitungen in der Unterschicht würden vielleicht auch einmal dazu führen, dass sich in diesen Milieus sowohl eine leistungsorientiertere Kultur als auch entsprechende Gene durchsetzen.


Ich hebe überhaupt nicht nur auf Gene ab. Eltern geben an ihre Kinder viel mehr weiter als nur Gene. Es wurde bereits erwähnt: Wer nie erlebt, dass Eltern ein Buch lesen oder einmal angeregt über etwas diskutieren, wird dies auch nicht oder nur selten tun. In dem von mir verlinkten FAZ-Artikel "Ich war Unterschicht" schreibt der Autor sehr deutlich:

Ererbte und persönliche Einflüsse spielten auch eine Rolle. Meine Mutter hat - das war schon damals untypisch für ihre Kreise - nie geraucht und nicht getrunken. Das Grauen, das besoffene und stinkende Eltern bei Kindern erregen, sah ich nur im Freundeskreis mit an. Und mein Vater scheint so eine Art proletarischer Intellektueller gewesen zu sein. Jedenfalls hatte er bei uns ein gelbes Goldmann-Taschenbuch mit Baudelaires Aufsatz über „Das Wesen des Lachens“ liegenlassen.

Unlängst wurde im Fernsehen eine Frau vorgestellt, der vom Jugendamt alle 9 Kinder wegen Verwahrlosung abgenommen worden waren. Jetzt hatte sie vom nächsten Mann bereits wieder ein Kind, gleichzeitig war sie hochschwanger. Ich halte dieses Verhalten nicht für hinnehmbar, sondern für ein Verbrechen.

Kultur wird sehr stark von den Menschen getragen, die gebildet sind. Und wenn die sich so organisieren, dass sie kaum Kinder bekommen können und dies in der Folge vor allem denjenigen überlassen, die unsere Kultur quasi aussondert, dann ist die Katastrophe vorprogrammiert. Die Vorstellung, man müsste nur die Bedingungen dieser Schichten verbessern, und schon würde sich alles zum Guten wenden, ist sehr naiv. Ich möchte sagen: Sie ist gescheitert.

Der Staat hat überhaupt kein Interesse daran, dass immer mehr Menschen in die Armut abrutschen. Die Wirtschaft hat dieses Interesse gleichfalls nicht, denn die wollen verkaufen. Die suchen Märkte. Wir haben uns jedoch mittlerweile so organisiert, dass diese Verarmung zwangsläufig passieren wird. Dahinter steckt keine bewusste Absicht dunkler Hintermänner, sondern ein eigendynamischer Prozess, der all dies bewirkt. Wenn es für bildungsfern leichter und auch ökonomisch sinnvoller ist, ein paar Kinder großzuziehen, als für bildungsnah, dann müssen wir uns nicht mehr über den zunehmenden Bildungsverfall wundern. Der ist dann vorprogrammiert.

Und ja: die Gesellschaft sollte endlich genauso ökonomisch denken, wie es die Unternehmen tun. Im Grunde haben wir hier eine Aufgabenteilung: Die Unternehmen produzieren und liefern all das, was wir für den täglichen Bedarf benötigen. Die Gesellschaft liefert dafür die Menschen (das Humankapital) und auch die Infrastruktur, damit die Unternehmen in unserem Land ihre Aufgaben gut erledigen können. Vergleicht man das mit einer Jäger-Sammler-Gesellschaft, in der die Männer zur Jagd gingen und sich die Frauen um die Zelte, die Kleidung und den Braten kümmerten (wie bei den Indianern), dann könnte man sagen: Unternehmen sind männlich, die Gesellschaft ist weiblich. Und wenn die Gesellschaft in diesem Spiel nicht untergehen möchte, weil die Unternehmen immer mehr qualifizierte Kräfte für ihre Belange abziehen, sollte die Gesellschaft ihnen im Wettkampf um das Humankapital Konkurrenz machen, frei nach dem Motto: „Wir brauchen nicht alle Frauen, aber einige, um unser Humankapital zu erneuern. Und damit diese jetzt nicht alle zu den Unternehmen überlaufen, weil die viel Geld für nervige Arbeit bieten, werden wir euch ein attraktiveres Angebot machen, zumal dann einige von euch dem überhitzten Arbeitsmarkt entzogen werden.“ So oder so ähnlich muss es in Zukunft laufen, d.h. vor allem viel sachlicher und nicht so schrecklich religiös, wenn es um die Nachwuchsfrage geht. Ich bin sicher, dass man sich mit einer solchen Strategie wieder aus dem Abwärtsstrudel, in dem wir aktuell stecken, herausziehen könnte. Auch dürften die sich daraus ergebenden Effekte für die jetzigen Unterschichtskinder groß sein. Ich selbst saß in der Schule neben einem begabten „Unterschichtskind“. Jahre später hat er mir gesagt, dass ich für ihn die Orientierung gewesen sei. Meine Eltern erkannten dessen Begabung gleichfalls sehr rasch, woraufhin auch deren lautlose Förderung einsetzte (mal hier ein Buch, mal dort ein kleiner Zoobesuch etc.). Ein Unterschichtskind, das von anderen Unterschichtskindern umzingelt ist, die alle die gleichen Schwierigkeiten haben, wird dagegen so gut wie keine Chance haben. Gerade die Kinder aus den bildungsfernen Schichten brauchen die bildungsnahen Kinder als Orientierung und Motivation. Wenn man sie allein lässt, versinken sie immer mehr in ihrer desolaten Situation.

Was wir aktuell betreiben, spottet jeder Beschreibung.

Ich bin nicht gegen Förderung und bessere Bildungsmaßnahmen. Ich behaupte nur: Egal wie wir uns anstrengen werden, wir werden die aktuellen Bildungsprobleme auf diese Weise nicht lösen können. Daher kommt dann auch mein möglicherweise bereits erkennbarer Unwille. Ich bin nicht mehr bereit, über die ständig gleichen Lösungswege zu sprechen, wenn die eigentlichen Ursachen in der Diskussion stets ausgeklammert werden.
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon stine » So 15. Nov 2009, 16:41

jackle hat geschrieben:... FAZ-Artikel von Matthias Heine: Ich war Unterschicht.

Zitat: "Mehr Respekt vor Menschen

Vor allem aber bleibt ein tiefes Mißtrauen gegenüber den monokausalen Erklärungen und Patentrezepten zur Lösung des Unterschichtproblems, die jetzt von den Phrasendreschmaschinen der Leitartikler produziert werden. Bildung ist nicht die alleinseligmachende Antwort. Selbst zu meiner Zeit hat die überwältigende Mehrheit der Unterschichtjugendlichen die damals viel besseren Bildungsangebote nicht angenommen, weil sie gar nicht in der Lage dazu war.

Die Idee, daß alle gebildet sein sollten, ist doch eine verkleidete sozialistische Utopie im neoliberalen Gewand, die die natürliche Ungleichheit der Menschen ignoriert. Es kommt viel mehr darauf an, auch den „bildungsfernen Schichten“ einen Lebenssinn zu geben. Ich weiß aber auch nicht, wie das funktionieren soll, wenn die Arbeit für solche Leute schlicht verschwunden ist. Vielleicht wäre für den Anfang etwas weniger Diffamierung und etwas mehr Respekt vor Menschen, die anders sind, gar nicht schlecht."


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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon platon » So 15. Nov 2009, 17:00

stine hat geschrieben:Die Idee, daß alle gebildet sein sollten, ist doch eine verkleidete sozialistische Utopie im neoliberalen Gewand, die die natürliche Ungleichheit der Menschen ignoriert. Es kommt viel mehr darauf an, auch den „bildungsfernen Schichten“ einen Lebenssinn zu geben. Ich weiß aber auch nicht, wie das funktionieren soll, wenn die Arbeit für solche Leute schlicht verschwunden ist.

Das meint jackle auch nicht, aber die völlige Ignoranz der bildungsfernen Schichten für den Wert der Bildung, deren Fehlen ihnen heutzutage den Zugang zu Arbeit verbaut, muss aufgebrochen werden. Wir können keine Beschäftigung für solche Leute schaffen nur um sie "in Arbeit" zu bringen, wenn für das Produkt ihrer Arbeit keine Nachfrage besteht. Und Lebenssinn muss sich jeder selbst geben, dafür sind weder der Staat noch die Gesellschaft zuständig.

Anmerkung: Obiges Zitat stammt ursprünglich aus der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29.10.2006, Nr. 43 / Seite 59
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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon stine » So 15. Nov 2009, 17:14

jackle hat geschrieben:Unlängst wurde im Fernsehen eine Frau vorgestellt, der vom Jugendamt alle 9 Kinder wegen Verwahrlosung abgenommen worden waren. Jetzt hatte sie vom nächsten Mann bereits wieder ein Kind, gleichzeitig war sie hochschwanger. Ich halte dieses Verhalten nicht für hinnehmbar, sondern für ein Verbrechen.
Ich kann solche Darstellung primitiver Zeitgenossen, wie sie in den privaten Sendern gezeigt werden, oft gar nicht mehr glauben. Ich denke, das ist pure Provokation und sprachlich denen angepasst, die es nicht anders verstehen. Indem man solcher Gesellschaft einen Spiegel vorhält der stark überzeichnet, schafft man vielleicht die einzige Möglichkeit ihnen einen anderen Weg zu weisen.

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Re: Ziel der Bildung

Beitragvon stine » So 15. Nov 2009, 17:16

platon hat geschrieben:Wir können keine Beschäftigung für solche Leute schaffen nur um sie "in Arbeit" zu bringen, wenn für das Produkt ihrer Arbeit keine Nachfrage besteht.
Extra schaffen muss man die Arbeit auch nicht.
Man darf sie aber auch nicht rigoros aus dem Lande schaffen oder die Einstellkriterien künstlich in die Höhe schrauben.

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