Wodurch entsteht Fortschritt?

Re: Wodurch entsteht Fortschritt?

Beitragvon Zappa » Di 18. Mai 2010, 17:18

ujmp hat geschrieben:Möglicherweise trotzdem falsch. Getreide kann m.W. in den Anfängen der Domestizierung nicht als Nahrungsquelle gedient haben, weil es viel zu wenig Ertrag bot. ... Der Witz ist nun, dass den Menschen zwei verschiedene Arten von Rauschmitteln bekannt waren: Alkohol und Drogen (z.B. Fliegenpilze). ...


Deine These ist ja ganz putzig (habe wirklich sehr geschmunzelt), aber Du bist ein bisschen zu sehr geisteswissenschaftlich geprägt - fürchte ich.

Diamond versucht seine These anhand von historischen, molekularbiologischen und archäologischen FAKTEN zu belegen. Natürlich können diese Fakten falsch sein, dann ist es aber theoretisch relativ einfach (wenn auch evtl. konkret mühsam) diese zu widerlegen. Also eine falszifizierbare These, sowas mag ich!

Zunächst eimal ist es wohl so, dass Mais (und übrigens auch Reis) wesentlich weniger Eiweiß besitzen als die urtümlichen Getreidearten (Einkornweizen, Emmerweizen und Gerste). Getreide lies sich anfangs sehr gut als Nebenprodukt anbauen (Diamond geht interessanterweise davon aus, dass die ersten sesshaften Hominiden in Eurasien ihre Äcker in ihren Notdurftarealen selber angelegt haben :). Darüberhinaus behaupte Diamond, dass Getreide sehr wohl von Anfang an gute Erträge lieferte (ein Faktum, dass man überprüfen könnte), die Ausgangsform des Mais (Teosinte heisst das Zeugs) aber praktisch gar nicht. Abgesehen davon hatte der Urmais eine harte, unverdaulich Schale, die Eurasischen Getreidesorten nicht, auch ein Vorteil. Hinzu kommt, das Mais ursprünglich nicht in Nordamerika gut wuchs, erst um 900 nach Chr. lassen sich Maissorten nachweisen, die zu erkläglichen Erträgen auch in Nordamerika führten. Da war die Landwirtschaft in Europa und Asien längst voll etabliert und ertragreich, wofür es eine Fülle archäologischer und historischer Beleg gibt.

Es kommt im Übrigen nicht nur auf die einzelnen Pflanzensorten an, sondern man braucht einen Fächer von Pflanzen (Kohlehydratspender, Eiweißspender, Faserpflanzen etc.) und zusätzlich noch domestizierbare Tiere um eine ertragreiche Landwirtschaft aufzubauen. Nur wenn für alle wichtigen Bereiche geeignete Ausgangs"produkte" vorliegen lohnt sich der Übergang vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und wird dann auch irgendwann vollzogen - das ist das zentrale Argument Diamonds.

PS: Wenn dich das Thema interessiert kann ich die Lektüre des Buches nur empfehlen, es ist interessant, originell und spannend zu lesen und als Taschenbuch recht preiswert (ISBN 978-5-569-17214-6). Dabei kommt es auch gar nicht so auf die einzelnen Fakten an, sondern auf die erfrischend unkonventionelle Denke.
Benutzeravatar
Zappa
 
Beiträge: 1416
Registriert: Mi 29. Jul 2009, 19:20

Re: Wodurch entsteht Fortschritt?

Beitragvon ujmp » Di 18. Mai 2010, 17:49

Zappa hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Möglicherweise trotzdem falsch. Getreide kann m.W. in den Anfängen der Domestizierung nicht als Nahrungsquelle gedient haben, weil es viel zu wenig Ertrag bot. ... Der Witz ist nun, dass den Menschen zwei verschiedene Arten von Rauschmitteln bekannt waren: Alkohol und Drogen (z.B. Fliegenpilze). ...


Deine These ist ja ganz putzig (habe wirklich sehr geschmunzelt),
Ich auch, als ich es zum ersten Mal hörte.
Zappa hat geschrieben:aber Du bist ein bisschen zu sehr geisteswissenschaftlich geprägt - fürchte ich.


Aus dem Alter bin ich raus! :mg:

Leider finde ich es nicht wieder, es gab ein Alexander-Kluge-Interview auf Youtube mit einem Kulturhistoriker, der sowohl über den Praxistest mit wilden Getreidesorten als auch die genetisch bedingte Drogen/Alkohol-Resistenz gesprochen hat.

Zappa hat geschrieben:Natürlich können diese Fakten falsch sein,

Neiiiin, Fakten sind niemals falsch! :klugscheisser:
Mich würde mal interessieren, wie er das belegt, dass Getreide schon zu Anfang genug Ertrag gebracht hat, um als Nahrungsquelle relevant zu sein.
Zappa hat geschrieben:PS: Wenn dich das Thema interessiert kann ich die Lektüre des Buches nur empfehlen, es ist interessant, originell und spannend zu lesen und als Taschenbuch recht preiswert (ISBN 978-5-569-17214-6). Dabei kommt es auch gar nicht so auf die einzelnen Fakten an, sondern auf die erfrischend unkonventionelle Denke.

Danke für den Tipp!
Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

Re: Wodurch entsteht Fortschritt?

Beitragvon Zappa » Di 18. Mai 2010, 18:16

ujmp hat geschrieben:Neiiiin, Fakten sind niemals falsch! :klugscheisser:

Hast natürlich Recht, war unglücklich formuliert.

ujmp hat geschrieben: würde mal interessieren, wie er das belegt, dass Getreide schon zu Anfang genug Ertrag gebracht hat, um als Nahrungsquelle relevant zu sein.


1. Er war leicht zu domestifizieren, da es eine einfache Kausalkette zwischen üblicher Nahrungsaufnahme (Sammler) und Aussaat (Notdurft nah am Lager) gab.
2. Weizen und andere Getreidesorten weisen des öfteren eine Mutation auf, die das "Absprengen" der Samen verhindert. Eigentlich ein echte Evolutionsnachteil, aber diese Samen wurden leichter gesammelt und durch die etwas unappetitliche Form der Frühkultivierung hochselektioniert.
3. Diese Mutation war innerhalb weniger Generation herausselektioniert, was große Erträge erbrachte.
4. Getreidesamen lassen sich recht einfach lagern (muss nur trocken sein) und transportieren, was für die frühen Seminomanden ein großer Vorteil war (schlepp Du mal Kürbsissamen mit Dir rum :mg: ).
5. Ein weiteres (etwas kompliziertes) Argument ist der Keimverzug: Praktisch alle Samen weisen eine mehr oder weniger dicke Schale auf, um vor Austrocknung geschützt zu sein und nur bei ausreichend Regen zu keimen. Getreide weist da aber z.B. im Vergleich zum Mais wohl eine ausgesprochene genetische Variabilität auf. Da die Frühbauern wohl bald anfingen zu wässern mendelten Sie recht schnell (innerhalb von 2 - 3 Jahren!) dünnschalige, leicht verdauliche Arten heraus.
6. Ganz wichtig ist, dass sich diese frühen "Zuchterfolge" nicht durch Kreuzung mit natürlichen Pflanzen sofort wieder aufheben. Hier haben alle frühen Kulturplanzen den Vorteil, dass sie sich entweder ungeschlechtlich fortpflanzen (Knollen oder Wurzeln) oder es wurden entsprechende Mechanismen rauskultiviert, oder so ähnlich ... das krieg ich jetzt nicht mehr zusammen :ka:
Benutzeravatar
Zappa
 
Beiträge: 1416
Registriert: Mi 29. Jul 2009, 19:20

Re: Wodurch entsteht Fortschritt?

Beitragvon ujmp » Di 18. Mai 2010, 18:44

Hier isses:



Zappa hat geschrieben:Diamond geht interessanterweise davon aus, dass die ersten sesshaften Hominiden in Eurasien ihre Äcker in ihren Notdurftarealen selber angelegt haben

Ein bissel putzig ist das aber auch...Ich hab das Buch bestellt.
Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

Re: Wodurch entsteht Fortschritt?

Beitragvon Zappa » Di 18. Mai 2010, 18:57

Guck auf youtube gibt es sogar ein 18 teiliges Video zu den Inhalten des Buches:
Benutzeravatar
Zappa
 
Beiträge: 1416
Registriert: Mi 29. Jul 2009, 19:20

Re: Wodurch entsteht Fortschritt?

Beitragvon Denker » Mi 19. Mai 2010, 18:41

pluto hat geschrieben:Warum eine Kultur aufsteigt - und wieder untergeht hängt von vielen - wie schon angesprochen - glücklichen und unglücklichen Zufällen ab ...


Da gibt es ein sehr gutes Buch von Jared Diamond: KOLLAPS. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Dessen Thesen (700 S.!) kann ich hier natürlich nicht zusammenfassen, aber er hat sie sehr sauber wissenchaftlich analysiert und unterhaltsam beschrieben. Das nur am Rande!
Benutzeravatar
Denker
 
Beiträge: 174
Registriert: Fr 14. Mai 2010, 17:05

Re: Wodurch entsteht Fortschritt?

Beitragvon Zappa » Mi 19. Mai 2010, 18:50

Denker hat geschrieben:Da gibt es ein sehr gutes Buch von Jared Diamond: KOLLAPS. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen.


Das Buch fällt aber klar gegen "Arm und Reich" ab, nur so zur Warnung ...
Benutzeravatar
Zappa
 
Beiträge: 1416
Registriert: Mi 29. Jul 2009, 19:20

Vorherige

Zurück zu Gesellschaft & Politik

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 4 Gäste

cron