Einführung in den Naturalismus

Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Myron » Di 9. Okt 2007, 20:25

Was ist das für eine Sache, der Naturalismus?

"Der Naturalismus besteht schlicht in der Auffassung, dass es eine einzige, natürliche, physische Welt (Universum) gibt, worin wir vollständig eingeschlossen sind. Es gibt keine zwei verschiedenen Welten, die übernatürliche und die natürliche. Da wir vollständig in der natürlichen Welt eingeschlossen sind, ist nichts an uns übernatürlich. Wir haben beispielsweise keine immateriellen Seelen, die nach dem Tod weiterleben. Wir sind gänzlich physisch beschaffene, materielle Kreaturen, und alles, was wir sind und tun, kann ohne die Annahme verstanden werden, dass wir Seelen, Geister oder irgendeine andere Art von immateriellem übernatürlichem Stoff in uns tragen. Deine Gedanken, Erfahrungen, Gefühle, Entscheidungen und dein Verhalten sind alles Dinge, die durch die Tätigkeit deines Gehirns und Körpers zustande kommen. Wie sie all dies bewerkstelligen, ist natürlich eine sehr komplizierte Geschichte, an deren Aufdeckung die Wissenschaft immer noch arbeitet; aber der Naturalismus besagt, dass daran nichts Nichtphysisches beteiligt ist. Dass die materielle Welt Kreaturen hervorgebracht hat, die mit Bewusstsein ausgestattet sind, vernünftig denken, Emotionen spüren und Fragen stellen können, ist eine ziemlich erstaunliche Tatsache. Das 'bloß' Physische ist gar nicht so bloß. Der Naturalismus verzaubert die physische Welt wieder."

(Übers. aus d. Engl.: http://www.centerfornaturalism.org/faqs.htm)


Deutsch:

http://www.textlog.de/4690.html

Englisch:

http://www.centerfornaturalism.org

http://www.naturalism.org

http://plato.stanford.edu/entries/naturalism

http://www.iep.utm.edu/n/naturali.htm
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Myron » Mi 10. Okt 2007, 17:15

Die Kernannahmen des Naturalismus sind in meinen Augen die folgenden:

Ein Weltbild ist genau dann naturalistisch, wenn es die Annahmen beinhaltet, dass (1) die natürliche Welt, das physische Universum, die ganze Welt, die gesamte Wirklichkeit ist, zu der alles gehört (Nichts transzendiert die Natur und ihre selbstständige Ordnung), dass (2) alle bewussten, zielgerichteten Wesen physische Körper besitzen, und dass (3) alles, was in der Welt geschieht, im Einklang mit den physikalischen Gesetzen (Naturgesetzen) steht.
(
Ich neige dazu, eine vierte Annahme hinzuzufügen:
... dass (4) die Materie gegenüber dem Geist sowohl temporale als auch ontische Priorität genießt.)


Dies impliziert, dass es weder physische noch nichtphysische Akteure gibt, die auf eine physikalisch unmögliche, d.i. wundersame Art und Weise Handlungen ausführen oder Ereignisse verursachen. Es impliziert insbesondere, dass es keine transzendenten oder immanenten Götter gibt, die Wunderdinge bewirken.

Es mag für manche dogmatisch klingen, aber wer diese drei oder vier Annahmen nicht bejaht, den betrachte ich eigentlich nicht als Naturalisten.
Zuletzt geändert von Myron am Mi 10. Okt 2007, 22:30, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon ernst.eiswuerfel » Mi 10. Okt 2007, 19:12

Ein Weltbild ist genau dann naturalistisch, wenn es die Annahmen beinhaltet, dass (1) die natürliche Welt, das physische Universum, die ganze Welt, die gesamte Wirklichkeit ist, zu der alles gehört, dass (2) alle bewussten, zielgerichteten Wesen physische Körper besitzen, und dass (3) alles, was in der Welt geschieht, im Einklang mit den physikalischen Gesetzen (Naturgesetzen) steht.
(Ich neige dazu, eine vierte Annahme hinzuzufügen:
... dass (4) die Materie gegenüber dem Geist sowohl temporale als auch ontische Priorität genießt.)


Vielleicht kann man das noch präziser und einfacher formulieren:

Ein Weltbild ist dann naturalistisch, wenn es die Annahme beinhaltet, dass alles in diesem Universum den Naturgesetzen untergeordnet ist bzw. diesen folgt. Ein solches Weltbild beinhaltet keine Elemente die unabhängig von den Naturgesetzen existieren oder diesen nicht folgen.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon pyrrhon » Mo 22. Okt 2007, 15:47

ernst.eiswuerfel hat geschrieben:Ein Weltbild ist dann naturalistisch, wenn es die Annahme beinhaltet, dass alles in diesem Universum den Naturgesetzen untergeordnet ist bzw. diesen folgt. Ein solches Weltbild beinhaltet keine Elemente die unabhängig von den Naturgesetzen existieren oder diesen nicht folgen.

Da sehe ich wiederum ein Problem: Was ist mit den Naturgesetzen gemeint? Die bekannten Naturgesetze können es nicht sein, denn immerhin gibt es auch in den Naturwissenschaften immer noch offene Fragen. Das würde aber heißen, dass alles, was noch offen ist, bis zur Klärung übernatürlich ist. Es würde aber auch den Untergang des Naturalismus bedeuten, denn solange offene Fragen existieren - und unser Wissen wird immer nur vorläufiges und unvollständiges Wissen sein -, solange wäre gar kein Naturalismus ernsthaft in Betracht zu ziehen.

Ist damit irgendein Regelwerk gemeint, wonach alles ablaufen soll, dann stellt sich sofort die Frage, wessen Regelwerk denn gemeint ist. Der Fehler, der dabei gemacht wird, ist die Verwechselung eines Models mit der Realität. Die Naturgesetze sind nicht irgendwelche Gesetze, an die sich alles in der Natur zu halten hat, sondern lediglich Teil eines naturwissenschaftlichen Modells, das wiederum das Werk von Menschen ist.

Die Definition macht aber auch so wenig Sinn. Man denke nur an eine Kugel, die sich tatsächlich rein zufällig bewegt. Ob es nun echten Zufall gibt oder nicht, ist dabei nicht wichtig, aber nehmen wir einmal an, es gäbe echten Zufall. Jedenfalls würde eine solche Kugel den Naturgesetzen nicht folgen. Dennoch wäre eine solche Kugel nicht übernatürlich.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Myron » Mo 22. Okt 2007, 17:47

pyrrhon hat geschrieben:Da sehe ich wiederum ein Problem: Was ist mit den Naturgesetzen gemeint?


Schlicht gesagt, Naturgesetze sind Sachzwänge (deterministische Ng.) und -dränge (indeterministische/probabilistische Ng.) in der Natur.

pyrrhon hat geschrieben:Ist damit irgendein Regelwerk gemeint, wonach alles ablaufen soll, dann stellt sich sofort die Frage, wessen Regelwerk denn gemeint ist. Der Fehler, der dabei gemacht wird, ist die Verwechselung eines Models mit der Realität. Die Naturgesetze sind nicht irgendwelche Gesetze, an die sich alles in der Natur zu halten hat, sondern lediglich Teil eines naturwissenschaftlichen Modells, das wiederum das Werk von Menschen ist.


Es besteht ein Unterschied zwischen Naturgesetzen und wissenschaftlichen Gesetzesaussagen. Letztere können ungenau, bloß 'wahrheitsähnlich', bloß annäherungsweise (approximativ) wahr, ja sogar falsch sein, erstere als nichtsprachliche Tatsachen dagegen nicht.

Die Naturgesetze sind menschen- und damit naturwissenschaftsunabhängige Teile der natürlichen Wirklichkeit.

pyrrhon hat geschrieben:Die Definition macht aber auch so wenig Sinn. Man denke nur an eine Kugel, die sich tatsächlich rein zufällig bewegt. Ob es nun echten Zufall gibt oder nicht, ist dabei nicht wichtig, aber nehmen wir einmal an, es gäbe echten Zufall. Jedenfalls würde eine solche Kugel den Naturgesetzen nicht folgen. Dennoch wäre eine solche Kugel nicht übernatürlich.


Es macht einen Unterschied, ob man sagt, jeder natürliche Vorgang sei naturgesetzlich beherrscht, oder ob man sagt, jeder natürliche Vorgang stehe im Einklang mit den herrschenden Naturgesetzen.
Denn wenn es absolut zufällige, d.i. gesetzlose Naturvorgänge gibt, dann stehen diese selbstredend nicht im Widerspruch zu den Naturgesetzen, da diese ja nicht für sie gelten.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon pyrrhon » Di 23. Okt 2007, 08:00

Myron hat geschrieben:
pyrrhon hat geschrieben:Da sehe ich wiederum ein Problem: Was ist mit den Naturgesetzen gemeint?


Schlicht gesagt, Naturgesetze sind Sachzwänge (deterministische Ng.) und -dränge (indeterministische/probabilistische Ng.) in der Natur.

Wir haben nur begrenzte Erkenntnismöglichkeiten, unser Wissen wird immer bruchstückhaft bleiben. Das Problem, Naturgesetze in diesem Sinne in die Definition des Naturalismus einzubringen, ist, dass man damit etwas Unbekanntes einbringt und letztendlich gar nichts definiert hat, sondern nur einen Begriff durch etwas ersetzt hat, das wesentlich unklarer ist als der zu definierende Begriff selber.

Myron hat geschrieben:Die Naturgesetze sind menschen- und damit naturwissenschaftsunabhängige Teile der natürlichen Wirklichkeit.

Du bist offenbar Platonist, ich nicht. Für Dich existieren derartige Gesetze, für mich nicht. Die Welt um uns verhält sich so, dass wir in der Lage sind, sie zu modellieren. Das bedeutet aber nicht, dass es da irgendwo ein Gesetzeswerk geben muss, dem die Welt gehorcht.

Myron hat geschrieben:Es macht einen Unterschied, ob man sagt, jeder natürliche Vorgang sei naturgesetzlich beherrscht, oder ob man sagt, jeder natürliche Vorgang stehe im Einklang mit den herrschenden Naturgesetzen.
Denn wenn es absolut zufällige, d.i. gesetzlose Naturvorgänge gibt, dann stehen diese selbstredend nicht im Widerspruch zu den Naturgesetzen, da diese ja nicht für sie gelten.
Wo kein Gesetz herrscht, kann auch keines gebrochen werden.

Ich habe mich auf einen bestimmten Vorschlag einer Definition bezogen. Dass mein Gegenbeispiel auf andere Vorschläge, die sich in diesem Punkt davon unterscheiden, nicht unbedingt angewendet werden kann, ist mir klar.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Max » Di 23. Okt 2007, 15:43

Es stimmt natürlich, dass wir Menschen nur sehr begrenzte Erkenntnismöglichkeiten haben. Wir erfinden eine Realität in unserem eigenen Kopf. Unser Erkennen ist von basalen Emotionen beeinflusst, wird von Trieben geleitet und durch die Sinne verfälscht. Die Welt als materielle Wirklichkeit ist gewiss nicht das, was wir als sie erkennen zu glauben.

Aber die Tatsache, dass wir über einen beschränkten Erkenntnisapparat besitzen, bedeutet bei weitem nicht, dass wir keine wahren Aussagen über die Wirklichket treffen könnten. Wir können sehr wohl Theorien über die Wirklichkei aufstellen und sie einer kritischen Prüfung aussetzen. Wir können der Wahrheit näher kommen, indem wir die Theorien über die Wirklichkeit verfeinern, falsche Aspekte aussortieren, fehlerhafte durch neue richtige ersetzen, etc. Durch diesen Vorgang der Wahreitsnäherung gelangt unser Abbild der Realität, unser Gebäude an empirischen Theorien näher an die Wirklichkeit.

Eines folgt allerdings aus dem Umstand, dass wir die Welt nur partitiell und nicht als das, was sie wirklich ist, erkennen können: Wir können uns der Wahrheit unserer Hypothesen nie gewiss sein. Zwar können wir eine Theorie als wahr ansehen und sie kann auch tatsächlich wahr sein - aber wir können uns nie sicher sein. Es ist stets möglich, dass wir uns irren.

Diese Verbesserungswürdigkeit unseres Erkenntnisapparates, die Vorläufigkeit unseres Wissens und der hypothetische Charakter all unserer Wirklichkeitserkenntnis dürfen uns nicht zu einem Konstruktivismus führen, also zu der Auffassung, dass unser Erkennen nur ein Konstrukt ist. Auch wenn unser Wissen über die Welt von unserem Gehirn erfunden wird und fehlbar ist, ist es doch eine Beschreibung der Wirklichkeit, es bezieht sich auf die eine materielle Wirklichkeit, die wir zwar nicht direkt, aber indirekt und partiell erkennen können.

Und nun zu dieser konkreten Diskussion: Es gibt eine Natur mit entsprechenden Naturgesetzen. Diese sind unabhängig von unserem Erkennen dort. .Sie existieren in der Natur. Unser erkennen versucht lediglich sie abzubilden. Insofern ist Myrons Definition vollkommen korrekt.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Myron » Mo 29. Okt 2007, 00:06

Leiter, Brian. "Naturalism in Legal Philosophy." In Stanford Encycopedia of Philosopy. http://plato.stanford.edu/entries/lawphil-naturalism.

Ausschnitt:

"Different philosophical doctrines travel under the heading of 'naturalism.' We can usefully distinguish two broad and important categories: methodological (or M-naturalism) and substantive (or S-naturalism). Naturalism in philosophy is most often a methodological view to the effect that philosophical theorizing should be continuous with empirical inquiry in the sciences. Such a view need not presuppose a solution to the so-called 'demarcation problem'—i.e., the problem of what demarcates genuine science from pseudo-science—as long as there remain clear, paradigmatic cases of successful sciences. Some M-naturalists want 'continuity with' only the hard or physical sciences (Hard M-naturalists); others seek 'continuity with' any successful science, natural or social (Soft M-naturalists). Soft M-naturalism is probably the dominant strand in philosophy today.

For M-naturalists, 'continuity with' the sciences includes, in the first instance, the Quinean repudiation of a 'first philosophy', a philosophical solution to problems that proceeds entirely a priori, that is, without the benefit of empirical evidence. (Most M-naturalists do not go as far as Quine, however, in repudiating any role for a priori conceptual analysis: ...). Beyond hostility to methods that are exclusively a priori, M-naturalists require continuity with the sciences in two more precise senses, what we may call 'Results Continuity' and 'Methods Continuity'.

Results Continuity requires that the substantive claims of philosophical theories be supported or justified by the results of the sciences. Epistemologists like Goldman look to the results of psychology and cognitive science to find out how the human cognitive apparatus really works; only with that information in hand can the epistemologist construct norms for how humans ought to form beliefs. Moral philosophers like Gibbard and Railton, despite profound substantive disagreements, both think that a satisfactory account of morality's nature and function must be supported by the results of evolutionary biology, our best going theory for how we got to be the way we are. A philosophical account of morality that explains its nature and function in ways that would be impossible according to evolutionary theory would not, by naturalistic scruples, be an acceptable philosophical theory.

Methods Continuity, by contrast, demands only that philosophical theories emulate the 'methods' of inquiry of successful sciences. 'Methods' should be construed broadly here to encompass not only, say, the experimental method, but also the styles of explanation (e.g., identification of causes that determine, ceteris paribus, their effects) employed in the sciences. Such a view does not presuppose the methodological unity of the various sciences, only that successful sciences have some methodological uniqueness, even if this is not exactly the same across all the sciences.
(...)

Many naturalists go beyond methodological naturalism, however, and embrace a substantive doctrine. S-naturalism in philosophy is either the (ontological) view that the only things that exist are natural or physical things; or the (semantic) view that a suitable philosophical analysis of any concept must show it to be amenable to empirical inquiry. In the ontological sense, S-naturalism is often taken to entail physicalism, the doctrine that only those properties picked out by the laws of the physical sciences are real. In the semantic sense, S-naturalism is just the view that predicates must be analyzable in terms that admit of empirical inquiry: so, e.g., a semantic S-naturalist might claim that 'morally good' can be analyzed in terms of characteristics like 'maximizing human well-being' that admit of empirical inquiry by psychology and physiology (assuming that well-being is a complex psycho-physical state)."


[Meine Übersetzung:]

"Unter dem Stichwort 'Naturalismus' kursieren verschiedene philosophische Lehren. Wir können nützlicherweise zwei weitgefasste und wichtige Kategorien unterscheiden: methodologisch (oder M-Naturalismus) und substantivisch (oder S-Naturalismus). Der philosophische Naturalismus ist meistens ein methodologischer Standpunkt, welcher beinhaltet, dass philosophisches Theoretisieren eng mit der empirischen Forschung in den Wissenschaften verbunden sein sollte. Ein solcher Standpunkt setzt keine Lösung des sogenannten 'Abgrenzungsproblems' voraus—d.h. des Problems, was echte Wissenschaft von Scheinwissenschaft abgrenzt—, solange klare, paradigmatische Fälle von erfolgreichen Wissenschaften bleiben. Einige M-Naturalisten wollen eine 'enge Verbundenheit' nur mit den harten oder physikalischen Wissenschaften (harte M-Naturalisten), während andere eine 'enge Verbundenheit' mit jeglicher erfolgreichen Wissenschaft suchen, gleich ob Natur- oder Sozialwissenschaft (weiche M-Naturalisten). Der weiche M-Naturalismus ist wahrscheinlich die vorherrschende Richtung in der heutigen Philosophie.

Für M-Naturalisten schließt die 'enge Verbundenheit' mit den Wissenschaften zunächst die Quine'sche Zurückweisung einer 'Ersten Philosophie' ein, eines gänzlich apriorischen, d.h. von empirischen Belegen absehenden philosophischen Problemlösungsverfahrens. (Die meisten M-Naturalisten gehen allerdings nicht so weit wie Quine, der apriorischen Begriffsanalysen jegliche Rolle abspricht: ... .) Über die Feindseligkeit gegenüber ausschließlich apriorischen Verfahren hinaus fordern die M-Naturalisten eine enge Verbundenheit mit den Wissenschaften in einem genaueren zweifachen Sinn: Wir können zum einen von 'Ergebnisverbundenheit' und zum anderen von 'Verfahrensverbundenheit' sprechen.

Ergebnisverbundenheit erfordert, dass die gehaltvollen Thesen philosophischer Theorien durch die Ergebnisse der Wissenschaften bekräftigt oder gerechtfertigt werden. Erkenntnistheoretiker wie Goldman betrachten die Ergebnisse der Psychologie und der Kognitionswissenschaft, um herauszufinden, wie der menschliche Verstand wirklich funktioniert. Nur wenn er über jene Informationen verfügt, kann der Erkenntnistheoretiker Normen darüber aufstellen, wie Menschen ihre Meinungen bilden sollen. Moralphilosophen wie Gibbard und Railton denken ungeachtet tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten in der Sache beide, dass eine befriedigende Theorie des Wesens und der Funktion der Moral von den Ergebnissen der Evolutionsbiologie untermauert werden muss, unserer derzeit besten Theorie darüber, wie wir geworden sind, was wir sind. Eine philosophische Theorie der Moral, die deren Wesen und Funktion in einer Weise erklärt, die mit der Evolutionstheorie unmöglich zu vereinbaren ist, wäre nach naturalistischem Ermessen keine akzeptable philosophische Theorie.

Im Gegensatz dazu erfordert Verfahrensverbundenheit nur, dass philosophische Theorien den Forschungsmethoden erfolgreicher Wissenschaften nacheifern. 'Methoden' sollte hier in einem weiten Sinn aufgefasst werden, damit nicht nur, sagen wir, die experimentelle Methode gemeint ist, sondern auch die in den Wissenschaften verwendeten Erklärungsstile (z.B. Feststellung von Ursachen, die, ceteris paribus, ihre Wirkungen bestimmen). Ein solcher Standpunkt setzt nicht die methodologische Einheitlichkeit der verschiedenen Wissenschaften voraus, sondern nur, dass erfolgreichen Wissenschaften eine gewisse methodologische Einzigartigkeit zukommt, auch wenn diese nicht in allen Wissenschaften genau die gleiche ist.
(...)

Viele Naturalisten gehen jedoch über den methodologischen Naturalismus hinaus und machen sich eine substantivische Lehre zu eigen. Der philosophische S-Naturalismus besteht entweder in der (ontologischen) Auffassung, dass die einzigen existierenden Dinge natürliche oder physische Dinge sind, oder der (semantischen) Auffassung, dass eine geeignete philosophische Analyse eines Begriffs den Nachweis zu erbringen hat, dass er sich im Rahmen empirischer Forschung behandeln lässt. Im ontologischen Sinn wird oft angenommen, dass der S-Naturalismus den Physikalismus mit sich bringt, d.i. die Lehre, dass nur diejenigen Eigenschaften real sind, die von den Gesetzen der physikalischen Wissenschaften herausgegriffen werden. Im semantischen Sinn besteht der S-Naturalismus bloß in der Ansicht, dass Prädikate dergestalt analysierbar sein müssen, dass sie empirische Forschung ermöglichen: also ein semantischer S-Naturalist könnte beispielsweise behaupten, dass 'moralisch gut' anhand von Merkmalen wie 'maximiert das menschliche Wohlergehen' analysiert werden kann, welche empirische Forschung seitens der Psychologie und der Physiologie zulassen (angenommen, dass Wohlergehen ein komplexer psychophysischer Zustand ist)."


Anmerkung: Leiters Darstellung des physikalischen S-Naturalismus ist zu verkürzt. Er hätte Folgendes schreiben sollen:
"Der philosophische S-Naturalismus besteht [entweder] in der (ontologischen) Auffassung, dass die einzigen existierenden Dinge natürliche oder physische Dinge beziehungsweise Dinge sind, die auf physischen Dingen supervenieren."
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Myron » Mo 29. Okt 2007, 00:35

Eine Weltanschauung ist genau dann methodologisch naturalistisch, wenn sie sich an den Methoden und Resultaten der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, orientiert—nach dem Motto: in dubio contra philosophiam!

Eine Weltanschauung ist genau dann ontologisch naturalistisch, wenn sie mit der Ansicht im Einklang steht, dass es genau ein selbstständiges und eigengesetzliches Raumzeitsystem gibt,* das alles Wirkliche enthält, dessen grundlegender Kraftstoff** ohne Bewusstsein ist, und all dessen Teile,*** insbesondere diejenigen mit Bewusstsein, von jenem produktiven, form- und strukturgebenden Kraftstoff abhängig sind.

(* Die eine raumzeitliche Mutterwelt könnte unendlich viele Tochterwelten umfassen.)
(** physische Energie/Materie [metaphysisch gesprochen: Anaximanders apeiron, das pneuma der Stoiker, das prakriti der indischen Samkhya-Philosophie])
(*** außer vielleicht Raum und Zeit selbst)
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Myron » Fr 9. Nov 2007, 15:19

Nochmals auf den Punkt gebracht:

Der metaphysische Naturalismus besteht in der Ansicht, dass alles Konkret-Wirkliche vom Physischen und dessen Gesetzen abhängig ist, daraus hervorgeht und davon bestimmt wird, und dass die Natur, d.i. der erweiterte physische Kosmos (die Raumzeit plus die physische Materie/Energie plus die physischen Gesetze plus alles, was vom Physischen abhängt, daraus hervorgeht und davon bestimmt wird, d.i. alles Chemische, Biotische, Psychische, Soziale, Kulturelle), die gesamte, allumfassende konkrete Wirklichkeit ist, jenseits oder innerhalb deren es keine zweite konkrete Wirklichkeitssphäre, keine selbstständige spirituelle/mentale "Übernatur", kein transphysisches Geister- oder Seelenreich gibt, das vom physischen Reich (dem "Körperreich") unabhängig ist, daraus weder hervorgegangen ist noch davon bestimmt wird.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » Fr 9. Nov 2007, 18:36

Myron hat geschrieben:Die Naturgesetze sind menschen- und damit naturwissenschaftsunabhängige Teile der natürlichen Wirklichkeit.

weißt Du das oder vertrittst Du das als Hypothese?
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » Fr 9. Nov 2007, 18:44

Max hat geschrieben:Und nun zu dieser konkreten Diskussion: Es gibt eine Natur mit entsprechenden Naturgesetzen.

eine interessante Hypothese. Hast Du Hinweise auf diesen ontischen Status von Naturgesetzen bzw. der Natur? Was bedeutet eigentlich 'gibt' im Hinblick auf 'Natur' oder 'Naturgesetz'? Warum wird üblicherweise ein hypothetischer Realismus vertreten?

Max hat geschrieben:Diese sind unabhängig von unserem Erkennen dort. .Sie existieren in der Natur. Unser erkennen versucht lediglich sie abzubilden. Insofern ist Myrons Definition vollkommen korrekt.

Du hast Deinen Glauben formuliert. Die Korrektheit einer Definition daran zu messen, ist etwas idiosynkratisch, aber nicht unbedingt ein Argument.

Und noch was:

Thread 1: ist eine Position korrekt dargestellt?

Thread 2: ist diese Position korrekt?

BTW, kennst Du eine Widerlegung des Solipsismus?
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Myron » Fr 9. Nov 2007, 19:18

El Schwalmo hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Die Naturgesetze sind menschen- und damit naturwissenschaftsunabhängige Teile der natürlichen Wirklichkeit.

weißt Du das oder vertrittst Du das als Hypothese?


Ich vertrete das als These.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » Fr 9. Nov 2007, 19:29

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Die Naturgesetze sind menschen- und damit naturwissenschaftsunabhängige Teile der natürlichen Wirklichkeit.

weißt Du das oder vertrittst Du das als Hypothese?

Ich vertrete das als These.

was würde sich in Deinem Weltbild ändern, falls es keine Naturgesetze 'gäbe', also wenn diesen kein ontischer Status zukäme, der über 'Satz des Thales' hinausginge? 'Da draußen' gibt es irgendwas, das sich irgendwie verhält, möglicherweise gesetzmäßig in dem Zeitraum, den wir beobachten, möglicherweise morgen vollkommen anders, und das wir beschreiben, als ob es Naturgesetzt 'gäbe' und damit ganz gut fahren?

Folgt aus der Pragmatik eine Ontologie?
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon Myron » Sa 10. Nov 2007, 15:38

El Schwalmo hat geschrieben:was würde sich in Deinem Weltbild ändern, falls es keine Naturgesetze 'gäbe', also wenn diesen kein ontischer Status zukäme, der über 'Satz des Thales' hinausginge? 'Da draußen' gibt es irgendwas, das sich irgendwie verhält, möglicherweise gesetzmäßig in dem Zeitraum, den wir beobachten, möglicherweise morgen vollkommen anders, und das wir beschreiben, als ob es Naturgesetzt 'gäbe' und damit ganz gut fahren?


Wenn es keine Naturgesetze gäbe, wäre die Welt unordentlich, chaotisch, und dann würde es auch uns als hochkomplexe Systeme nicht geben. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge basieren auf Regel-, auf Gesetzmäßigkeiten.
Die Naturforschung zeigt, dass solche gesetzmäßigen Zusammenhänge durchaus real sind.
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Re: Einführung in den Naturalismus

Beitragvon El Schwalmo » Sa 10. Nov 2007, 15:49

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:was würde sich in Deinem Weltbild ändern, falls es keine Naturgesetze 'gäbe', also wenn diesen kein ontischer Status zukäme, der über 'Satz des Thales' hinausginge? 'Da draußen' gibt es irgendwas, das sich irgendwie verhält, möglicherweise gesetzmäßig in dem Zeitraum, den wir beobachten, möglicherweise morgen vollkommen anders, und das wir beschreiben, als ob es Naturgesetzt 'gäbe' und damit ganz gut fahren?

Wenn es keine Naturgesetze gäbe, wäre die Welt unordentlich, chaotisch, und dann würde es auch uns als hochkomplexe Systeme nicht geben.

die Frage drehte sich um den ontischen Status von 'Naturgesetzen'. 'Gibt' es diese, und wir finden sie, oder gibt es Ordnung und wie konstruieren diese 'Gesetze'?

Myron hat geschrieben:Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge basieren auf Regel-, auf Gesetzmäßigkeiten.

Spannende Frage. Hat man inzwischen geklärt, was 'Kausalität' ist?

Myron hat geschrieben:Die Naturforschung zeigt, dass solche gesetzmäßigen Zusammenhänge durchaus real sind.

Was verstehst Du unter 'real'? Dass wir 'das Sein des Seienden' modellieren können? Müssen wir es dazu erkennen?
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