Fakten, Interpretationen, Spekulationen

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Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Vollbreit » So 9. Dez 2012, 12:17

Es ist immer wieder eine etwas müßige Diskussion, wie denn nun die Fakten sind und wie sie zu bewerten seien. Was dem einen als Tatsachenfeststellung erscheint, über die jedes weitere Wort zuviel und jede Diskussion nur den Sinn einer Vernebelung haben kann, sehen andere erst den eigentlichen Beginn einer Diskussion.

Dabei ist es immer wieder schwer die Grenzen zwischen Fakten, zulässigen Interpretationen und Spekulationen zu ziehen und zu finden. Da jeder das anders bewertet und jenseits der Feststellung „Da ist ein Baum“, die Dinge mitunter schwierig werden können mal aufzeigen, was für mich eine gelungene Beschreibung einer Annäherung ist, die sensibel bei dem bleibt, was belegt werden kann – und Spekulationen gegenüber skeptisch eingestellt ist und diese Beschreibung der Ansprüche (denen der Autor nebenbei zu genügen versteht) sozusagen als Idealtypus des Gelungenen hinstellen und parallel dazu eine Beschreibung des zutiefst Misslungenen anfügen.

Auf wenn der Gegenstand bei dem Beispiel 2 allgemein gehalten ist und der Forschungsgenstand bei 1 speziell (Kafka), so wird glaube ich doch aus den Texten heraus erkennbar, was gemeint ist. Besonders die beschriebene tiefe Ambivalenz zwischen Künstler/Autor und „echtem Leben“ ist ein hoch interessanter Punkt.


„Kafka lehrt Bescheidenheit. Wer sich an ihm versucht, muss damit rechnen, zu versagen. Zahllos die einschlägigen sekundären Texte, in denen das Gefälle zwischen den Ausführungen des Autors und den eingestreuten Kafka-Zitaten derart steril ist, dass dem Leser heiß und kalt wird. Noch die besten synthetischen Leistungen – man denke an Elias Canettis Großessay – DER ANDERE PROZESS – enthalten Passagen, deren sprachliche und sachlichen Differenziertheit hinter derjenigen Kafkas deutlich zurückbleibt. Das ist unvermeidlich, und erst recht der Biograph muss sich darüber im Klaren sein, dass er in eine Konkurrenz eintritt, die er nicht gewinnen kann.
Doch ebenso wenig kann er ihr ausweichen. Vom Biographen eines Klaviervirtuosen wird man nicht verlangen, dass er das absolute Gehör hat, noch vom Biographen eines Abenteurers, dass er die Segelprüfung besteht. Der Biograph eines Philosophen aber sollte denken und der Biograph eines Schriftstellers schreiben können. Das ist trivial, in seinen hermeneutischen Folgen jedoch durchaus einschüchternd. Kafka hat in beispiellos eigensinniger und zugleich perfekter Weise die Sprache zum Medium der Selbstentfaltung gemacht. Dem Biographen aber bleibt gar nichts anderes übrig, als genau dieselben Werkzeuge in die Hand zu nehmen, sich genau desselben Mediums zu bedienen um von jener Selbstentfaltung zu erzählen.
Damit allerdings begibt er sich auf einen Platz, der besetzt ist – und zwar dauerhaft. Denn Kafka schläft niemals. Ihm unterlaufen keine Phrasen, keine semantischen Unreinheiten, keine schwachen Metaphern – auch dann nicht, wenn er im Sand liegt und Ansichtskarten schreibt. Seine Sprache ‚fließt‘ nicht aus sich selbst, noch tritt sie jemals über die Ufer; sie wird beherrscht, wie ein glühendes Skalpell, das durch Stein dringt. Kafka übersieht nichts, vergisst nichts. Von den Zuständen der Geistesabwesenheit und Langeweile, die er immer wieder beklagt, ist wenig zu spüren, im Gegenteil: Fast schmerzlich berührt diese unablässige geistige Präsenz, denn sie macht ihn unzugänglich. Einer muss wachen. Die anderen aber lässt er zurück, einen nach dem anderen. Er findet nicht mehr nach Hause, wird welt- und menschenfremd, und dies auch in einem durchaus profanen, komischen Sinn.
In seinem Roman DAS WAHRE LEBEN DES SEBASTIAN KNIGHT – der von der Unmöglichkeit der adäquaten Biographie handelt – hat Nabokov dieses Leiden aus einer gewissermaßen tieferen Schlaflosigkeit aus der Innenperspektive formuliert: „Ein hungriger Mann, der seinen Braten verzehrt, interessiert sich für sein Essen und nicht für die Erinnerung an einen sieben Jahre zurückliegenden Traum von Engeln mit Zylinderhüten; bei mir jedoch standen alle Klappen und Verschlüsse und Türen des Geistes den ganzen Tag über gleichzeitig offen. Bei den meisten Menschen hat das Bewusstsein seine Sonntage – meinem war kein halber Feiertag vergönnt. Dieser ständige Wachzustand war nicht nur an sich, sondern auch in seinen unmittelbaren Folgen äußerst quälend. Jede Bagatelle nahm sich so kompliziert aus, rief eine solche Fülle von Assoziationen hervor, und diese Assoziationen waren so heikel und dunkel, so ungeeignet für jede praktische Verwertung, dass ich mich entweder um die fragliche Sache ganz drückte oder aber sie aus lauter Nervosität verdarb.“ Das alles trifft Wort für Wort auf Kafka zu. Erstaunlich, wie wenig er trotz allem „verdarb“: Wo man ihn hinstellte bewährte er sich, als Schüler, Student, Beamter. Doch nichts ging ihm ‚von der Hand‘, jede Entscheidung, auch die geringfügigste, war jenem Strom der Assoziationen erst zu entreißen. „Alles gibt mir gleich zu denken“, schrieb er einmal. Alles gab ihm gleich zu schreiben. Das Leben aber musste er erst übersetzen.
Diese eigentümliche Dialektik von An- und Abwesenheit reicht bis in Innerste des literarischen Werks. Die zahllosen Tagesreste aus Alltag und privatesten Sorgen, die Kafka dort abgelagert hat, sind unübersehbar. Die beispielhafte Allgemeingültigkeit seines Werks aber ebenfalls. Dieser Widerspruch, dieses Rätsel ist vielleicht der entscheidende Prüfstein jedes biographischen Unterfangens. Wenn der sozial unscheinbarste Mensch dazu fähig ist, in der Geschichte der Weltkultur eine Schockwelle auszulösen, deren Echos bis heute nachhallen, dann scheint es unvermeidlich Leben und Werk als inkompatible Welten zu betrachten, die ihren je eigenen Gesetzen folgen. „Das Leben des Autors ist nicht das Leben des Menschen, der er ist“, heißt es apodiktisch in Valérys Randnotizen zu den ‚Leonardo‘-Essays. Und Kafka selbst grub noch eine Schicht tiefer: „Der Standpunkt der Kunst und des Lebens ist auch im Künstler selbst ein verschiedener.“ Das haben wir zu respektieren. Doch der Biograph kann hier nicht stehen bleiben. Er hat zu erklären, wie aus einem Bewusstsein, dem alles zu denken gibt, ein Bewusstsein werden konnte, das allen zu denken gab. Das ist die Aufgabe.
„Wir kennen uns nur selbst“, notierte Lichtenberg in seinen SUDELBÜCHERN, „oder vielmehr, wir könnten uns kennen, wenn wir wollten; allein die anderen kennen uns nur aus der Analogie, wie die Mondbürger.“ Das ist, wie wir längst wissen, doppelt falsch. Um sich selbst zu kennen, genügt es bei weitem nicht, sich kennen zu wollen. Und was die anderen betrifft, so kommt, man erstaunlich oft mit einer Kombination aus Lebenserfahrung und schlichtestem, instrumentell angewandten Psycho-Wissen aus, um bestimmte Handlungen, selbst Impulse und Gedanken vorauszusehen. Anderes wiederum bricht in so spontaner, bisweilen gewaltsamer Weise hervor, das keine Analogie den Schrecken abzuwenden vermag.
Empathie lautet das Zauberwort des Biographen. Empathie hilft weiter, wo Psychologie und Erfahrung versagen. Selbst das empirisch noch so gut dokumentierte Leben bleibt mysteriös, wenn der Biograph im Leser nicht die Bereitschaft und die Fähigkeit wachruft, sich einzufühlen in einen Charakter, eine Situation, ein Milieu. Daher die eigentümliche Sterilität mancher dickleibiger, von Daten und Quellenangaben förmlich aufgeschwemmter Biographien: Sie geben vor, alles zu sagen, was man sagen kann, doch sie sprechen gleichsam über ihren Gegenstand hinweg und stillen darum auch die Neugier nicht.
Andererseits ist Empathie eine methodologische Droge, und es rächt sich, gedankenlos mir ihr zu hantieren. Gewiss bietet sie glückliche Augenblicke der Erleuchtung: Man vollzieht innerlich nach, was ein anderer erfuhr, und dann begreift man scheinbar ohne Mühe, oder glaubt zu begreifen, wo man bisher vor einem Rätsel stand. Doch Empathie ist kein willkürlich abrufbarer psychischer Zustand, vielmehr eine komplexe Leistung, die – nicht anders als jene Disposition die ‚Intelligenz‘ heißt – zunächst einmal den Brennstoff des Wissens und der Bildung benötigt. Empathie ohne hinreichendes Wissen ist eine Mühle, die leeres Stroh drischt. Um das zwanghafte, neurotische Moment in Kafkas Gewohnheiten und Entscheidungen zu erfassen, genügt es bei weitem nicht, selbst neurotisch zu sein (auch wenn das bisweilen nützlich ist). Und um die Situation des Knaben zu verstehen, des einzigen Sohnes, der an jährlich drei, vier jüdischen Festtagen an der Hand des Vaters den Tempel aufsucht, sich dort langweilt, während der Vater erkennbar ans Geschäft oder an die jüngsten antisemitischen Parolen denkt – dazu hilft Empathie zunächst einmal gar nichts, und selbst ein im jüdischen Glauben aufgewachsener Beobachter wird keine Tiefenschärfe erzielen, wenn er die historische Situation nur vom Hörensagen kennt.
Das kulturell Fremde, das längst Vergangene, nicht zuletzt auch das Psychotische, das eine Gesellschaft ebenso ergreifen kann, wie den einzelnen – sie markieren die äußeren Grenzen, die dem empathischen Vermögen gezogen sind. Doch es gibt auch eine innere Grenze, die viel schwerer auszumachen ist: die Grenze zur unbeherrschten Identifikation. Wer sie überschreitet, wird nicht etwa mehr, sondern in aller Regel weniger verstehen. Es kann hilfreich sein, sich identifiziert zu haben, und die intellektuelle und emotionale Anstrengung, die es kostet, sich aus diesem Zustand der distanzlosen Verehrung wieder freizumachen, ist gerade für den Kafkabiographen nicht die schlechteste Vorübung. Auch gehört die Fähigkeit, sich gleichsam probeweise zu identifizieren, zu den unabdingbaren Voraussetzungen für jeden, der ein fremdes Leben erkundet. Doch gerade diese Nähe einer scheinbar leicht zu erlangenden Befriedigung, die wir uns doch versagen müssen, ist eine beständige Versuchung: eine lockende Essenz, von der wir nur kosten sollten.
Empathie stillt den Schmerz des Nichtwissens. Das Nichtwissen selbst vermag sie nicht zu tilgen. Es gibt Monate im Leben Kafkas, über die wir keinerlei Dokumente besitzen, in denen es gleichsam Nacht wird über dem Strom der Überlieferung. Welchen Sinn hätte es, mit romanhaften Phantasien diese Abwesenheit überbrücken oder gar verschleiern zu wollen? Es gibt andrerseits Tage, an denen wir sein Leben fast von Stunde zu Stunde rekonstruieren können, und es zählt zu den lustvollsten Augenblicken biographischer Arbeit, wenn die Dichte der Überlieferung wenigstens die Umrisse einer szenischen Vergegenwärtigung ermöglicht – die Lust des detektivischen Erfolgs. Doch was heißt das bei einem Menschen, dessen Leben sich in der „Tiefe“, in einer so überwältigenden inneren Intensität erfüllt? Immer wieder verbrachte Kafka halbe Tage im Bett, auf irgendeinem Sofa, träge, unzugänglich, tagträumend – er hat es oft genug beklagt, so oft, dass man darüber Buch führen könnte. Doch was wissen wir darüber? Wir wissen, dass etliches von dem, was dort geträumt wurde, später einigen Millionen Menschen den Atem nahm.
Selbst der methodische gewiefteste Biograph kommt über das Bild eines Bildes nicht hinaus: die Stimmung, die Farbe des Augenblicks, die Assoziationen, die latenten Ängste und Lüste, die ihn erfüllen, Mimik und Gestik, Stimmen, Geräusche, Gerüche … alles könnte ein wenig anders gewesen sein, als wir glauben, es uns vorstellen müssen. Unendlich facettenreicher war es ohnehin: Selbst die präziseste, mit Wissen und Empathie bewaffnete Einbildungskraft, ja die perfekte innere Verfilmung des historischen Materials bleibt schattenhaft, gemessen daran, wie es wirklich war. Den Schmerz des Nichtwissens, das fortschreitende Verblassen aller Erinnerungen, das unwiderrufliche Vergangensein des Vergangenen vermag keine Imagination aufzuheben, auch die mächtigste nicht. Alles, was sie kann, ist: Evidenz zu erzeugen, die Konturen zu schärfen, die Auflösung des Bildes zu erhöhen. Alles, was sie sagen kann, ist: So dürfte, Könnte, so müsste es gewesen sein.“
(Reiner Stach, Kafka – Die Jahre der Entscheidung, S. Fischer Verlag, 2002, S. X - XV)





Nun das andere Extrem, zwischen denen wir uns bewegen:

"Misstrauen ist das sinnfälligste Merkmal des Paranoikers. Für ihn sind die Dinge nicht so, wie zu sein scheinen. Er lässt sich nicht von scheinbar unverfänglichen Tatsachen täuschen, sondern glaubt, ihre wahre Bedeutung zu kennen. Unaufhörlich sucht er nach verborgenen Bedeutungen, nach Hinweisen auf die Feinde, von denen er weiß, dass die draußen lauern. Indem er seine Wahrnehmungen nach vorgefassten Ideen und im voraus gezogene Schlüssen interpretiert, indem er solchermaßen sein Denken auf den Kopf stellt, stürzt er sich auf den winzigsten Hinweis, der seine Verschwörungstheorie untermauert. Auch wenn die Belege einer Verschwörung noch so stark widersprechen - er schiebt sie als Blendwerk beiseite, allein dazu gedacht, ihn in falscher Sicherheit einzulullen. Denn dafür wähnt sich der Paranoiker viel zu schlau, für ihn beweisen die anscheinend widersprüchlichen Tatsachen nur, wie gerissen und finster seine Feinde sind. Er "weiß" schließlich, dass er von Gefahren umgeben ist. Seine Suche gleicht der des Wissenschaftlers, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Um die Wahrheit herauszufinden, geht der Wissenschaftler sowohl deduktiv als auch induktiv vor, er sucht nach Erklärungen für seine Beobachtungen. Der Wissenschaftler testet seine Hypothesen. Sollten die Beobachtungen gegen sie sprechen, ist er bereit, sie wieder fallenzulassen. Anders der Paranoiker, er kennt die "Wahrheit" bereits im voraus und sucht nach Bestätigung. Seine Schlussfolgerung steht schon fest, er braucht nur noch die Beweise. Der Paranoiker will also keine Hypothese bestätigen oder falsifizieren. Er zweifelt nicht daran, dass er bei genügender Anstrengung schon Beweise für seinen Verdacht finden wird. So greift er nur jene "Belege" heraus, die seinen Schluss, es drohe Gefahr, bestätigen. Mit geschärfter Aufmerksamkeit für das Detail interpretiert der Paranoiker - oft mit großen Scharfsinn - alle Tatsachen weg, die nicht zu seinen Täuschungen passen: In jedem Ereignis und in jeder Bemerkung spürt er Hinweise und "wirkliche Bedeutungen" auf. Seine Suche ist strikt zweckgerichtet. In der Weltsicht des Paranoikers geschehen Ereignisse nicht einfach, sie sind bewusst von jemandem verursacht worden. Für den Paranoiker gibt es keinen Zufall. Alles geschieht nach einem Plan. Er ist besessen von dem Gedanken, die Bedeutung, den Plan hinter den scheinbar zufälligen Ereignissen aufzudecken. Begegnet der Paranoiker derselben Person an zwei aufeinander folgenden Tagen in der U-Bahn, so bedeutet das für ihn, dass er beschattet wird. Nickt die Person gar einer anderen zu, so ist klar, dass es ein Netz von Überwachern gibt. Inder Welt des Paranoikers existieren keine Schattierungen, kein Platz für Ungewissheit. Mehrdeutigkeit wird nicht toleriert. Alles wird tendenziell in Entweder-Oder-Kategorien gesteckt. Gut oder Böse, Freund oder Feind. Einen großen Teil seiner intellektuellen Findigkeit verwendet der Paranoiker darauf Ungewissheit aufzulösen. Obwohl sein Urteilsvermögen getrübt ist, obwohl er Tatsachen nicht gegeneinander abwägt, kann man dem Paranoiker nicht absprechen, durch und durch logisch vorzugehen: was falsch ist, sind seine Prämissen. Er ist ein großartiger Faktensammler, doch er sammelt nur jene Fakten, die sich seinem logischen System einfügen. So gesehen ist die Paranoia die intellektuellste unter den Geistesstörungen, jene, die sich am leichtesten mit einer komplexen politischen Ideologie verbinden kann. Menschen sind ihrem Wesen nach räsoniernde Tiere, und der Paranoiker treibt das Räsonieren auf die Spitze. Das Problem liegt nicht im Nachdenken an sich, viel mehr entspringt es der vorgegebenen falschen Prämisse, das Gefahr lauere. Die besondere psychische Logik des Paranoikers wurde paläologisch genannt, um ihre primitive Natur zu unterstreichen. Diese psychische Logik entspricht der eines Kindes, oder eines Naturvolkes, das dem Unbegreiflichen einen Sinn verleihen möchte. Sie funktioniert nach einem Prinzip, das Eilhard von Domarus zum ersten Mal formuliert hat, ein Wissenschaftler, der das Wahnsystem paranoider Schizophrener systematisch untersucht hat. Während der Normale Identität nur auf der Grundlage identischer Subjekte annimmt, akzeptiert die paläologische Logik auch die Identität der Prädikate. Gemäß dieser Logik können zwei Dinge, die ein gemeinsames Merkmal teilen, identisch sein. Wenn ein kleiner Junge, zum Erstaunen seiner Mutter, einem Fremden mit dem Ruf "Papa" entgegenspringt, dann wendet er folgende Logik an: "Papa trägt eine Hose; dieser Mann trägt auch eine Hose; also ist die Mann mein Papa." Die paranoide Täuschung, man sei die Jungfrau Maria, basiert auf derselben schrägen Logik: "Ich bin eine Jungfrau; Maria war auch eine Jungfrau; also bin ich die Jungfrau Maria." Diese logische Verknüpfung erklärt, warum der Paranoiker der räumliche oder zeitlichen Gleichzeitigkeit zweier unverbundener Ereignisse eine Bedeutung unterlegt. Die Politik ist reich an dieser paläologischen Logik. Wenn mein Großvater vor 50 Jahren von Moslems ermordet wurde, dann sind alle Moslems Mörder und müssen dementsprechend behandelt werden. Wenn ein Bankier mich übers Ohr gehauen hat, sind alle Kapitalisten Diebe, und der Kapitalismus muss vernichtet werden. Für den Paranoiker gibt es keine zufälligen Tragödien oder Unglücksfälle."
(Robert S. Robins, Jerold M. Post, Die Psychologie des Terrors - Vom Verschwörungsdenken zum politischen Wahn, Droemer, 1997, dt.2002, S. 242ff)
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Lumen » Do 20. Feb 2014, 19:25

Vollbreit hat mich hierher verwiesen.

Vollbreit hat geschrieben:Da jeder das anders bewertet und jenseits der Feststellung „Da ist ein Baum“, die Dinge mitunter schwierig werden können mal aufzeigen, was für mich eine gelungene Beschreibung einer Annäherung ist, die sensibel bei dem bleibt, was belegt werden kann – und Spekulationen gegenüber skeptisch eingestellt ist und diese Beschreibung der Ansprüche (denen der Autor nebenbei zu genügen versteht) sozusagen als Idealtypus des Gelungenen hinstellen und parallel dazu eine Beschreibung des zutiefst Misslungenen anfügen.


Aus der Reihenfolge entnehme ich du siehst in dem ersten, rötlichen Text den „Idealtypus des Gelungenen“ und der zweite, blau gefärbte ist der Inbegriff des „zutiefst Misslungenen“? Ansonsten finde ich es eine witzige Idee, von „Fakten, Interpretationen, Spekulationen“ zu schreiben und es dann trotz hübscher Farbmarkierungen gekonnt zu unterlassen, unzweideutig auf die Texte zu verweisen.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon stine » Fr 21. Feb 2014, 07:59

„Alles gibt mir gleich zu denken“, schrieb er einmal.

Kafka gehörte sicherlich in den Kreis hochbegabter und hochsensibler Menschen. Und weil es grundlegende Unterschiede menschlicher Wahrnehmung gibt, werden auch aus anerkannten Fakten die Interpretation daraus und die weiterführende Spekulation immer anders ausfallen. Menschen einigen sich nicht in ihrer Wahrnehmung.

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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Feb 2014, 08:43

Lumen hat geschrieben:Ansonsten finde ich es eine witzige Idee, von „Fakten, Interpretationen, Spekulationen“ zu schreiben und es dann trotz hübscher Farbmarkierungen gekonnt zu unterlassen, unzweideutig auf die Texte zu verweisen.

Ich habe diese Andeutung nicht verstanden.
Kannst Du bitte noch einmal erläutern was Du damit sagen möchtest? Danke!
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Lumen » Fr 21. Feb 2014, 10:18

Wir sehen zwei Texte und zwei entgegengesetzte Bewertungen, und ein Kommentar. Es fehlt aber die entscheidende Information welche Bewertung sich auf welchen Text bezieht.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Feb 2014, 10:52

Lumen hat geschrieben:Es fehlt aber die entscheidende Information welche Bewertung sich auf welchen Text bezieht.

Soll das ein Witz sein?
Nein, vermutlich nicht.

Wie soll ich mir die eigenartige Diskrepanz erklären, mit der Du meinst, die tiefsten Abgründen meiner tiefreligiösen Seele ausloten zu können, wenn gleichzeitig das, was jeden Menschen der lesen kann, so unmittelbart anspringt, Dir als unüberwindbares Hindernis erscheint?
Kannst Du mir helfen Dich da besser zu verstehen? Mir kommt das völlig sonderbar vor.

Um die Frage zu beanworten: Der erste Text, der zuoberst steht, der in diesem pink-violetten Farbton, der von Reiner Stach geschrieben ist, der von Kafka und der Art wie er biographisch zu behandeln sein sollte handelt, ist m.E. so gut, dass ich ihn als Prototypen dafür ansehe, wie man biographische Fakten und Fragmente zu einer konsistenten Geschichte verknüft, die weder steril Fakten aneinander reiht (siehe die Ausführungen Stachs dazu), aber gleichzeitg, bei aller Empathie auch eine Distanz einhält.

Der zweite Text, der zuunterst steht, in blauem Farbton, der von Robins und Post geschrieben ist, der von den Irrungen und Wirrungen des paranoiden Interpreten handelt, seinem Argwohn, seiner Verirrung im Detail, seiner Vorverurteilung und seiner Paläologik, der beschreibt für mich Menschen, die bei ihren Interpretationen alles versemmeln.

Sie stellen damit also die extremen Enden da: Text 1 beschreibt wie es sehr gut geht, Schulnote 1+, der andere Text, wie man alles verkackt, Schulnote 6.
Zwischen diesen Extremen bewegen wir uns.
Ist das damit für Dich geklärt?

Ich finde es bei der allgmeinen Frage nach den Fakten und dem was man wissen kann, extrem spannend, wirklich an der Wurzel anzusetzen.
Das kann insofern klärend sein, als man sehen kann, wo die Wege sich trennen.
Wir können dem gerne nachgehen, müssen das aber nicht tun, entscheide Du.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon stine » Fr 21. Feb 2014, 13:28

Ich weiß nicht, @Vollbreit, ich finde beide Texte stellen nur die zwei Seiten einer Medaille dar. Sie sind sozusagen das beste Beispiel dafür, wie unterschiedlich Etwas oder Jemand wahrgenommen werden kann. Ich würde keinem der Texte eine Note 6 verpassen, weil sie beide gut geschrieben sind. Auch wenn wir inhaltlich nicht immer mit den Schreibern konform gehen, kann der Verfasser dennoch mit seiner Meinung einen Punkt erfasst haben, den wir absichtlich nicht sehen wollten. Gerade weil Genie und Wahnsinn so eng beieinander liegen, darf man hier im Bezug auf die Beurteilung auch mal das Gegenteil dessen zulassen, was man selber für sich ausschließt.

Ich persönlich hege sowieso einen insgeheimen Groll gegen sämtliche Deutschlehrer, die bei so vielen Inhaltsbeschreibungen nur ihre eigenen Rückschlüsse gut benoten. Warum darf die Sichtweise nicht auch einmal eine gänzlich andere sein? Müssen wir uns in unserer Sichtweise und Beurteilung schulen oder müssen wir uns im Ausdruck dessen schulen, was wir wirklich zu sagen haben?

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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Feb 2014, 15:11

stine hat geschrieben:Sie sind sozusagen das beste Beispiel dafür, wie unterschiedlich Etwas oder Jemand wahrgenommen werden kann.
:kopfwand:
Das sollen sie darstellen, liebe stine.

stine hat geschrieben:Ich würde keinem der Texte eine Note 6 verpassen, weil sie beide gut geschrieben sind.

Ich auch nicht.
Ich finde beide Texte super.

Aber der erste Text soll illustrieren, wie eine gelungene Interpretation geht, er ist aber selbst keine Interpretation, sondern eher deskriptiv = beschreibend, beschreibt aber, wie eine gelungene Interpretation (im Rahmen einer biographischen Arbeit) aussehen sollte. Erfüllt man diese Kriterien in der beschriebenen Weise ist das eine 1+ Leistung.

Der zweite Text ist als Text super. Eine treffende Beschreibung von jemandem der unfähig ist, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Text kriegt als Text eine 1 (aber keine 1+ da der andere besser geschrieben ist), aber die dort (= in dem Text) beschriebene Leistung des Paranoikers, verdient eine 6, weil voll verkackt.

Ist klarer, was ich meinte?
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon stine » Fr 21. Feb 2014, 15:56

Vollbreit hat geschrieben:
stine hat geschrieben:Sie sind sozusagen das beste Beispiel dafür, wie unterschiedlich Etwas oder Jemand wahrgenommen werden kann.
:kopfwand:
Das sollen sie darstellen, liebe stine.
Eben - und ich habe das erkannt. Weshalb musst du da mit dem Kopf gegen die Wand knallen? :lookwrong:
Oder hätte ich die Wiederholung deiner Gedanken wegfallen lassen sollen?

Vollbreit hat geschrieben:Der zweite Text ist als Text super. Eine treffende Beschreibung von jemandem der unfähig ist, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Text kriegt als Text eine 1 (aber keine 1+ da der andere besser geschrieben ist), aber die dort (= in dem Text) beschriebene Leistung des Paranoikers, verdient eine 6, weil voll verkackt.

Ist klarer, was ich meinte?

Nein, ehrlich gesagt nicht. Meinst du, dass der Paranoiker sich anders definiert?

:o0: stine
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Feb 2014, 19:14

@ stine:

Was ich meine, ist das:
Man kann sich vordergründig gesehen leicht auf Fakten einigen.
„Es regnet.“ Das ist eine Behauptung. Wenn man wissen will, ob sie stimmt, schaut man aus dem Fenster.
„Da ist ein Baum.“ Eine andere behauptende Aussage. Man guckt einfach hin. Jau, da steht er.
Wie es kommt, dass man sich darüber verständigen kann, ist alles andere als simpel, wir überspringen es komplett.

„Da geht ein Mann.“ Stimmt und ist wahr, wenn da ein Mann geht.
„Der Mann kauft sich was zu essen.“ Das stimmt dann, wenn er genau das tut.
„Er hat Hunger.“ Nun, das könnte sein, muss aber nicht.
Er könnte für seine Bürokollegen was kaufen. Er könnte zu einer speziellen Diät verdonnert sein, so dass er essen muss. Er könnte dies oder das Motiv haben.
Wir können nur spekulieren. Oder nachfragen.
Er kann uns sagen, was ihn motiviert. Aber nicht immer, denn auch er kann sich (über seine eigenen Motive) irren.
Oder lügen. Oder auch selbst nicht so genau wissen, warum er tut, was er tut.

Was ist nun die Wahrheit über diesen Mann? Wer hat recht?
Der Mann selbst? Oft, aber nicht immer, nämlich dann, wenn es gut begründete Zwiefel an dem gibt, was er als Grund vorbringt.

Und da sind wir schon beim Punkt. Die Motive anderer zu ergründen, ist immer ein heikles Spiel.
Weil neben den mindestens drei Gründen, aus denen der Mann die Wahrheit nicht sagen könnte (Irrtum, Lüge, Unkenntnis) es etliche Gründe dafür gibt, warum der Interpret schief liegen kann.

Er könnte einer Projektion erliegen. Von der gibt es schon drei Arten.
Er kann sich einfach irren, ohne dass es tiefenpsychologische Ursachen hätte. (Ist ja naheligend, dass jemand, der was zu essen kauft, Hunger hat.)
Der andere könnte ein Interesse haben seine Motive zu verbergen.
Dann sehen wir natürlich immer nur Bruchstücke und sind mehr oder weniger begabt die Teile zu einem ganzen Bild zusammen zu bauen.
Zudem sind Menschen ambivalent. Selbst Hitler soll privat durchaus Anteil genommen haben und mitunter angenehm gewesen sein.

Wenn ein Biograph geübt dun gebildet ist, selbst gut schreibt, eine Wahnsinnsrechercheleistung vollbringt und all das beherzigt, was Stach fordert (und in seinen glänzenden Kafka Biographien selbst liefert) dann ist das ein Glücksfall. Er ist dann in der Lage das Bild eines Menschen in Tiefe zu entwerfen, so wie er es selbst sagt, an dem wir Anteil nehmen, so dass wir mit Kafka leiden, fiebern, weinen, beglückt sind und wenn der Autor nebenbei, zum Kontext passend, kenntnisreich ohne zu damit prahlen (ein Unterschied zu Sloterdijk, dessen Breitbandbildung mir irgendwann auf die Nerven geht, auch wenn ich ihn unterm Strich mag) Informationen von bleibendem Wert einflicht, dann ist das großes Kino.

Damit können wir alle nicht mithalten, keiner von uns. Nicht mal annähernd. Aber es kann uns als anzustrebendes Ideal dienen. Da muss es hin, wenn man der Komplexität der Menschen gerecht werden will. Und Stach legt Wert darauf alles Spekulative auszulassen, ohne dass sein Gesamtbild steril wirkt.


Am anderen Ende sitzt der Paranoiker. Sein Bild ist auch angereichert mit Fakten und Fragmenten von diesen, aber er zerrt sie gewaltsam in einen Kontext. Sein Bild ist bereits fertig, bevor er mit der Recherche beginnt, für ihn gibt es keine Überraschungen (außer, dass sich alles als noch viel schlimmer als erahnt erweist). Sein Bild ist ein Zerrspiegel der Wirklichkeit, in der das was gut ist besonders edel (wenngleich von der Masse, der tumben, verführten missachtet wird, zum Ausgleich ist er gern gerührt von sich selbst) und selbstlos wirkt und konträr dazu das Böse besonders druchtrieben und dämonisch erscheint und stets dann am Schlimmsten ist, wenn es harmlos daherkommt.
Die Unfähigkeit sich und andere in Tiefe zu sehen, ein nicht ideales oder aggressiv entwertendes Bild zu zeichnen ist beim fortgeschrittenen Paranoiker eklatant. Er ignoriert und bagatellisert, was gegen seine „Theorie“ spricht, die keine ist, da sie nie falsifiziert werden kann – obendrein ein sehr unwissenschaftliches Vorgehen – und schluckt gierig alles, was seine vorgefasste Meinung bestätigt.

Wenn jemand aus dieser eben beschriebene Warte einen anderen Menschen und dessen Motive beschreiben soll, ist das ein einziges Fiasko, was selbst unbeteilgten Zuhörern und Lesern Schmerzen bereitet. Als Intepretation und Zuschreibung eine glatte 6.
Jemand der Stachs Kriterin erfüllt, hätte hingegen eine 1+ verdient.

Allein diese Spannbreite wollte ich darstellen.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon stine » So 23. Feb 2014, 10:45

Also tut mir leid, ich verstehe das immer noch nicht. Als vergleichbare Gegenüberstellung würde ich die Autobiografie eines Kant aus der Sicht eines Stach und im Gegenzug aus der Sicht eines Paranoikers erwarten, der Kant vorverurteilt und dessen Tun aberwitzige Hintergründe unterstellt, also das Selbe anders beurteilt. So ist Teil 2 aber die Beschreibung eines Paranoiker und die ist mE gut getroffen. Beide Texte halte ich für gleichwertig, inhaltlich und im Ausdruck.

Sag mal @Vollbreit bist oder warst du Deutschpauker? :wink:

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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Vollbreit » So 23. Feb 2014, 11:32

Oh je, ein verfetteter, pensionierter Deutschlehrer bin ich also in Deinen Augen?
Nein ich bin doch ein obskurantistischer Religionsfanatiker und arbeite in einer Fabrik die Nebelkerzen herstellt, in katholisch-violett und esoterisch-grün. ;-)

Ich will das aber trotzdem klären, weil ich einfach nicht glaube kann, dass man das nicht auf Anhieb versteht.
Ich finde auch beide Texte gut, das ist klar, oder?

Mir geht es darum, wie man Menschen beschreiben kann, als Außenstehender, meinetwegen als professioneller Biograph, aber auch privat oder hier im Forum.
Menschen beschreiben, anhand dessen, was man von ihnen kennt. Äußerungen, Werk, Briefe und so weiter.
Aus all dem ergibt sich ein Bild. Auch klar, oder?

Stach legt nun dar, wie man so ein Bild eines anderen (hier geht es um Kafka, aber es könnte auch um jeden anderen gehen) konstruieren kann und wo die Grenzen liegen.

„Das kulturell Fremde, das längst Vergangene, nicht zuletzt auch das Psychotische, das eine Gesellschaft ebenso ergreifen kann, wie den einzelnen – sie markieren die äußeren Grenzen, die dem empathischen Vermögen gezogen sind. Doch es gibt auch eine innere Grenze, die viel schwerer auszumachen ist: die Grenze zur unbeherrschten Identifikation. Wer sie überschreitet, wird nicht etwa mehr, sondern in aller Regel weniger verstehen. Es kann hilfreich sein, sich identifiziert zu haben, und die intellektuelle und emotionale Anstrengung, die es kostet, sich aus diesem Zustand der distanzlosen Verehrung wieder freizumachen, ist gerade für den Kafkabiographen nicht die schlechteste Vorübung. Auch gehört die Fähigkeit, sich gleichsam probeweise zu identifizieren, zu den unabdingbaren Voraussetzungen für jeden, der ein fremdes Leben erkundet. Doch gerade diese Nähe einer scheinbar leicht zu erlangenden Befriedigung, die wir uns doch versagen müssen, ist eine beständige Versuchung: eine lockende Essenz, von der wir nur kosten sollten.
Empathie stillt den Schmerz des Nichtwissens. Das Nichtwissen selbst vermag sie nicht zu tilgen. Es gibt Monate im Leben Kafkas, über die wir keinerlei Dokumente besitzen, in denen es gleichsam Nacht wird über dem Strom der Überlieferung. Welchen Sinn hätte es, mit romanhaften Phantasien diese Abwesenheit überbrücken oder gar verschleiern zu wollen? Es gibt andrerseits Tage, an denen wir sein Leben fast von Stunde zu Stunde rekonstruieren können, und es zählt zu den lustvollsten Augenblicken biographischer Arbeit, wenn die Dichte der Überlieferung wenigstens die Umrisse einer szenischen Vergegenwärtigung ermöglicht – die Lust des detektivischen Erfolgs. Doch was heißt das bei einem Menschen, dessen Leben sich in der „Tiefe“, in einer so überwältigenden inneren Intensität erfüllt? Immer wieder verbrachte Kafka halbe Tage im Bett, auf irgendeinem Sofa, träge, unzugänglich, tagträumend – er hat es oft genug beklagt, so oft, dass man darüber Buch führen könnte. Doch was wissen wir darüber? Wir wissen, dass etliches von dem, was dort geträumt wurde, später einigen Millionen Menschen den Atem nahm.
Selbst der methodische gewiefteste Biograph kommt über das Bild eines Bildes nicht hinaus: die Stimmung, die Farbe des Augenblicks, die Assoziationen, die latenten Ängste und Lüste, die ihn erfüllen, Mimik und Gestik, Stimmen, Geräusche, Gerüche … alles könnte ein wenig anders gewesen sein, als wir glauben, es uns vorstellen müssen. Unendlich facettenreicher war es ohnehin: Selbst die präziseste, mit Wissen und Empathie bewaffnete Einbildungskraft, ja die perfekte innere Verfilmung des historischen Materials bleibt schattenhaft, gemessen daran, wie es wirklich war.“
(Reiner Stach, ebd.)

Bei allen Grenzen und Beschränkungen können wir eine guten Einblick in das Leben eines Menschen gewinnen, auch wenn wir uns der Grenzen immer bewusst bleiben sollten.
Hat ein Mensch dieses Bewusstsein, dass es unüberwindbare Grenzen gibt und die Fähigkeit sich diesen in aller Sorfalt, gestützt auf Quellen, mit Empathie aber ohne eine Hofberichterstattung oder einen verachtenden Verrriss abzuliefern, anzunähern, so ist die Leistung des Interpreten, der das tut, eine Glanzleistung.
Das macht Spaß, hier kann man ihn Tiefen eintauchen, mitfühlen und die quälende Ambivalenz z.B. von Kafkas Leben ein Stück weit miterleben. Immer an dem bleibend, was gesichert ist Texte, Briefe und dergleichen.


Ein Paranoiker geht ganz anders vor. Er meint genau zu wissen, was ein anderer denkt und an Bösem im Schilde führt. Er ist überzeugt den anderen sehr genau zu kennen und sammelt nun Material, was seine vorgefasste Meinung bestätigt. Nur das. Was seien Meinung nicht bestätig wird als Trickserei gedeutet, eine falsche Fährte, die den Interpreten von der Wahrheit, in dessen festen Besitz er sich wähnt, abbringen soll. Das ist keen Glanzleistung sondern oft genug ein Ausdruck projektiver Identifikation, aggressiver Vorurteile.
Das macht keinen Spaß, solche Darstellungen bleiben an einer nur-bösen Oberfläche, hier wird ein Bild eines durchtriebenen Dämons skizziert.
Der Paranoiker hat keinen Zweifel, dass die Dinge genau so sind, wie er sie sieht und jeder Widerspruch macht ihn nur noch sicherer auf der richtigen Spur zu sein, denn was könnte es für ein anderes Motiv geben, als den Paranoiker täuschen = die Wahrheit verschleiern zu wollen?


Den Kontrast zwischen diesen beiden extremen Enden der Interpretationsleistung wollte ich darstellen.
Beide Texte sind sehr gut, der erste sehr gute Text skizziert die hervorragende Leistung eines Interpreten der zweite, auch sehr gute Text, skizziert eine miserable Leistung eines Interpreten.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon stine » Mo 24. Feb 2014, 08:17

Schön, dass du nicht aufgibst, @Vollbreit! So wie du das nochmal dargestellt hast, habe ich das von Anfang an gedeutet, ich war lediglich verunsichert, weil ich dachte, die Note 6 würdest du der Ausführung im zweiten Text zuschreiben, das habe ich nicht verstanden. Wenn du natürlich meinst, dass ein Paranoiker, der Kafka beschreiben würde, exakt nach der Ausführung des zweiten Textes vorgehen würde, dann ist klar, dass seine Autobiografie über Kafka nicht das Papier wert wäre, auf dem sie geschrieben worden ist.

Eins muss man natürlich wissen, wenn wir irgendeine Biografie lesen, dann wissen wir nie, wie sie zustande kam. Selbst eine vom Protagonisten selbst begleitete, im Auftrag geschriebene, kann als paranoid gewertet werden, wenn der so Skizzierte eine falsche Selbstwahrnehmung hat und nur schreiben lässt, was er selbst empfunden hat unabhängig der Geschehnisse und der Aussagen zum selben Thema um ihn herum.

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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Vollbreit » Mo 24. Feb 2014, 09:41

stine hat geschrieben:Schön, dass du nicht aufgibst, @Vollbreit! So wie du das nochmal dargestellt hast, habe ich das von Anfang an gedeutet, ich war lediglich verunsichert, weil ich dachte, die Note 6 würdest du der Ausführung im zweiten Text zuschreiben, das habe ich nicht verstanden.
Okay, prima, ich war wirklich verunsichert, weil ich dachte, dass man das doch nicht missverstehen kann.

stine hat geschrieben:Wenn du natürlich meinst, dass ein Paranoiker, der Kafka beschreiben würde, exakt nach der Ausführung des zweiten Textes vorgehen würde, dann ist klar, dass seine Autobiografie über Kafka nicht das Papier wert wäre, auf dem sie geschrieben worden ist.
Ja, das Problem ist, dass sie den Abstand nicht hinkriegen und immer zu viel eigener Kram mitschwingt.

stine hat geschrieben:Eins muss man natürlich wissen, wenn wir irgendeine Biografie lesen, dann wissen wir nie, wie sie zustande kam.
Ja, aber man ist ja selbst in der Lage zu beurteilen, wie so ein Text daherkommt. Ungeeignet ist zum einen die unkritische Hofberichterstattung. Das Bild vom großen Menschen, der immer alles richtig machte, der noch in Krisen souverän bliebt und man hat immer das Gefühl, dass seine Socken nach 8 Wochen Dauertragen in Gummistiefeln gut gerochen haben müssen.
Das andere Extrem ist der aggressive Verriss. Das Monster und wie es aufwuchs und das es alles im Leben verdorben hat. Das merkt man und solche Biographien lesen nur Leute, die ihre vorgefasste Meinung bestätigt haben wollen.

Mit Heldenverehrung und Distanzierung halten wir uns das Anstrengende vom Leib, dass Helden nämlich manchmal auch Arschlöcher sind und dass selbst ein Hitler seine durchaus netten Seiten haben konnte und Talente besaß. Den immergröhlenden, lächerlichen Proleten, der noch seinen Hund anbrüllte und der bestimmt auch feige und pervers war, damit kommen wir besser klar.

stine hat geschrieben:Selbst eine vom Protagonisten selbst begleitete, im Auftrag geschriebene, kann als paranoid gewertet werden, wenn der so Skizzierte eine falsche Selbstwahrnehmung hat und nur schreiben lässt, was er selbst empfunden hat unabhängig der Geschehnisse und der Aussagen zum selben Thema um ihn herum.

Klar, Thomas Mann hat seine Texte oft selbst erklärt. Obendrein besteht eben die Gefahr der Hofberichterstattung – auch der Biograph, der zum Promi gelassen wird, fühlt sich ja geschmeichelt. Autobiographien sind natürlich notgedrungen subjektiv. Sie können dennoch glänzend sein.

Verstörend für Autoren ist, dass jeder Text ein gewisses „Eigenleben“ hat. Er sagt mehr über den Autor aus, als der Autor manchmal preisgeben möchte. Freud hatte bemerkt, dass Menschen – vollkommen egal worüber sie reden – recht schnell auf ihr Thema kommen, das unbewusst zum Ausdruck drängt. Man kann sie nach dem Mittagessen fragen oder wie sie den Tatort gestern fanden. Davon lebt die psychoanalytische Textinterpretation, die zentrale Motive oder Auslassungen herausarbeitet.

Die polare Gefahr ist Überinterpretation. Sie ist verwandt mit der paranoiden Vorverurteilung oder der idealisierten Geniebiographie, aber hier lauert die Gefahr eher darin, dass der Interpret selbstbesoffen von seiner eigenen Deutung wird. Das perfekte runde Bild, alles passt irgendwie zusammen, man ist beglückt von der eigenen Leistung und dann kommt ein schnödes: „Aber so war das doch gar nicht.“ Das wird dann gerne überhört, weil das gezeichnete Bild, tief, ambivalent, sprachlich virtuos doch so schön geworden ist.

Dann gibt es die Möglichkeit, dass manche Autoren gar nicht wissen, was sie können. Ich hab mal eine Syntaxanalyse eines Rilkegedichtes gelesen, da schlackern Dir die Ohren, was da an Kniffen drin ist, vermutlich ohne dass Rilke das bewusst gesetzt hat. Ob er sich für grammatikalische Analysen interessierrt hat, ist eher fraglich, aber er ist natürlich ein Wort- und Bildgigant. Dass „Der Panter“ mehr ist als die Beschreibung einer Raubkatze im Zoo spürt jeder, der das Gedicht liest. „Herbsttag“ ( http://mcn.privat.t-online.de/rherbst.htm ) lässt einen die Stimmung des Abschieds, des nun heraufziehenden langen Wartens, Abwartenmüssens in einfachen Bildern spüren, in Bildern, die wir alle kennen, die jeder versteht, wenn er einen Zugang zu Gedichten hat. Und man kann über Sloterdijk sagen, was man will, sein Buchtitel „Du musst dein Leben ändern“ ist die letzte Strophe des Rilkegedichts „Archaischer Torso Apollos“ - ich hab's immer überlesen, aber Sloterdijks Interpretation ist wunderbar, das Gedicht tatsächlich auch.

Habe kürzlich eine schöne Definition von einem guten Gedicht gehört: Ein gutes Gedicht ist eines, bei dem man etwas versteht, aber nicht alles versteht.
Wenn keines der Bilder den Leser erreicht, ist das Gedicht versemmelt. Wenn sofort alles klar ist, liest man es kein zweites Mal.

Die Kunst der Interpretation hat so viele Seiten, dass einem schwindelig werden kann. Je mehr man sich um das Thema bemüht, umso komplizierter wird es.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon stine » Mo 24. Feb 2014, 10:12

Vollbreit hat geschrieben:Ich hab mal eine Syntaxanalyse eines Rilkegedichtes gelesen, da schlackern Dir die Ohren, was da an Kniffen drin ist, vermutlich ohne dass Rilke das bewusst gesetzt hat.

Das gleiche gilt für die Malerei, würd ich sagen. Mich schaudert vor den Kulturbeflissenen die vor einer grünen Leinwand stehen, das Grün definieren und genau wissen, was der Maler damit aussagen wollte. Manchmal wollte ein Maler nur was Schönes schaffen oder Geld verdienen, aber in der Szene bekommt das Werk den Hintergrund zugeschrieben, mit dem es sich besser verkaufen lässt.

Und da sind wir auch schon wieder bei meinem verhassten Deutschunterricht, der früher eben so abgelaufen ist, dass man Reklambüchlein inhaltlich genau in die Teile zerlegen musste, die ein akademischer Grad bereits vorher definiert hat. Und wehe, wenn man das anders verstanden hat. In jedem Akt eine Parabel sehen, da ist auch nicht sicher, ob der Autor das immer so wollte oder ob ein angezündeter Dachboden nicht einfach nur ein angezündeter Dachboden sein sollte und Biedermann nicht einfach nur ein blöder Hund war.

Interpretationen und Spekulationen eben. :wink:

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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Vollbreit » Mo 24. Feb 2014, 12:10

stine hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ich hab mal eine Syntaxanalyse eines Rilkegedichtes gelesen, da schlackern Dir die Ohren, was da an Kniffen drin ist, vermutlich ohne dass Rilke das bewusst gesetzt hat.

Das gleiche gilt für die Malerei, würd ich sagen. Mich schaudert vor den Kulturbeflissenen die vor einer grünen Leinwand stehen, das Grün definieren und genau wissen, was der Maler damit aussagen wollte. Manchmal wollte ein Maler nur was Schönes schaffen oder Geld verdienen, aber in der Szene bekommt das Werk den Hintergrund zugeschrieben, mit dem es sich besser verkaufen lässt.
Es ist erst weniger Tage her, dass ich mich mit einem Maler – in einer etwas surrealen Szenerie - darüber unterhalten habe, der sich selbst gerne unerkannt unter die Gäste seiner Ausstellungen mischt und einmal einer Schulklase lauschte und ihrer Lehrerin, die eifrig erklärte, warum gerade dieses Gelb genau dort hingehört.
Er kannte die wahre Geschichte. ;-)

stine hat geschrieben:Und da sind wir auch schon wieder bei meinem verhassten Deutschunterricht, der früher eben so abgelaufen ist, dass man Reklambüchlein inhaltlich genau in die Teile zerlegen musste, die ein akademischer Grad bereits vorher definiert hat. Und wehe, wenn man das anders verstanden hat.
Da haben (wohl nicht nur) wir, was gemeinsam. Was Lehrer und Schüler unterscheidet ist in schlechten Fällen, dass die Lehrer die erläuternde Ausgabe zum Text haben und dann läuft es genauso ab, wie von Dir beschrieben. Zu meiner Schulzeit war gerade Mode, das alles was falsch war, irgendwie auch richtig war und so wurde man sozialpädagogisch wertvoll auf den richtigen Weg gewiesen: „Ja, kann man so sehen, wer hat noch eine Idee?“ Solange bis man dann mit reichlich dirigistischer Nachhilfe, die das „Richtige“, was rauskommen musste offenbarte, endlich die allerrichtigste unter den lauter richtigen Lösungen hatte. Das war der Nachteil.
Der Vorteil war, das viele Lehrer selbst keine Ahnung hatten, man sich das Allerrichtigste am Ende der Stunde voller belanglosem Gesülze nur merken musste und schnell klar wurde, wo die interpretatorische Reise hinging. So habe ich dann, trotz der notorischen Herabstufung um eine Note wegen einer Unzahl formaler Fehler, immer gute Noten bekommen, auch wenn ich das Buch um das es ging, so gut wie nie gelesen habe.

stine hat geschrieben:In jedem Akt eine Parabel sehen, da ist auch nicht sicher, ob der Autor das immer so wollte oder ob ein angezündeter Dachboden nicht einfach nur ein angezündeter Dachboden sein sollte und Biedermann nicht einfach nur ein blöder Hund war.
Ja, ich hab's auch noch in schlechter Erinnerung. Zähe, endlose Stunden nagender Langeweile und Deutsch war noch eines von den besseren Fächern. (Hätte ich die Aussage, die Schulzeit sei die best Zeit des Lebens, auch nur eine Sekunde ernst genommen, wäre das für mich ein ernsthafter Grund gewesen, über Selbstmord nachzudenken. Ich hab den Quatsch nie geglaubt und kann mir meine Schulzeit auch rückwirkend nicht schönreden.)

stine hat geschrieben:Interpretationen und Spekulationen eben. :wink:
Alles ne Frage der Freiwilligkeit. Ich war als Schüler – in dieser Schulform - ein hoffnungsloser Fall und ab einem bestimmten Punkt konnte mich nichts und niemand mehr motivieren, dennoch habe ich nachher sogar (nicht ohne Verngügen) die sogenannte „Neuere Deutsche Literatur“ studiert. Das hat selbst die Schule nicht zerstören können.

Eine schöne Erfahrung im Leben ist immer, wenn sich die Kreise schließen und man an Dinge anknüpfen kann, die man früher mal gelernt hat, die Mosaiksteine ergeben so langsam eine ganzes Bild und die Disziplinen fließen zusammen.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Lumen » Do 27. Feb 2014, 15:06

@Stine
Ich habe Vollbreits Absichten auch nicht verstanden, und bin nach Erläuterung noch weniger schlau. Er meint, ein Text sei ein Ideal, der andere sei zutiefst mißlungen, im nächsten Schritt meint er beide Texte seien gut, aber auf unterschiedliche Weise und es zeichnet sich dann ab, dass er zwei vollkommen verschiedene Ebeben miteinander verlgleicht: einmal wie ein Biograph Kafka rezipiert, und einmal eine paranoide Person wie sie vom Autoren beschrieben wird.

Aus rein künstlerischer Sicht, finde ich Vollbreits Kombination gelungen. Denn in Kafkas "Der Nachbar" wird der Erzähler (also Kafka) immer paranoider. Aber der Biograph der über Kafka schreibt sitzt zwei Meta-Ebenen oben drüber. Kafkra beschreibt aus Sicht einer paranoiden Figur, die vom Nachbarn zunehmend verunsichert wird (meta-1) und der Biograph schreibt über Kafka, wie dieser über die paranoide Figur schreibt (meta-2). Im zweiten, blauen Text schreibt ein Autor (analog zum Biographen) über die Art und Weise, wie Paranoiker die Welt rezipieren. Ich glaube Vollbreit's "zutiefst Misslungenen" Urteil bezieht sich auf die Art wie der Paranoiker Dinge sieht also auf "meta-0" und vergleicht das dann mit der Sicht des Biographen, der über Kafka (meta-2) und wie Kafka seinerseits Charaktere entwirft (meta-1) bis zu den Charakteren selber, wie sie die Welt sehen (also beispielsweise den Nachbarn, meta-0). Lange Erklärung, kurzer Sinn: nachvollziehbar verwirrend.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Nanna » Do 27. Feb 2014, 19:00

Ich finde äußerst schlüssig und klar, worauf Vollbreit hinaus will. Nicht, dass das vermutlich jemanden überraschen wird, aber ich finde es gerade gut, hier eine Lanze für seine Darstellung zu brechen.
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon ujmp » Do 27. Feb 2014, 23:18

Eine Diskussion ist eben gerade dazu da, Wahrheit zu finden - was sonst? Geltungssucht befriedigen? Leute an der Nase rumführen? Schön, dass wir mal drüber geredet haben? Oder was sonst?
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Re: Fakten, Interpretationen, Spekulationen

Beitragvon Nanna » Fr 28. Feb 2014, 02:31

Wie wäre es damit, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln? Sich eine gute Ahnung davon zu erarbeiten, wie das Gegenüber die Welt wahrnimmt?

Meines Erachtens ist das eine Grundvoraussetzung dafür, Wahrheit zu finden, weil man dafür kompetent darin sein muss, Aussagen intersubjektiv zu prüfen, und das geht nur, wenn man kapiert, was das Gegenüber meint. Und das ist, wenn ich mir 99% der Diskussionen ansehe, keineswegs eine triviale Aufgabe.
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