Sie schreiben dem Menschen ad hoc eine besondere "Würde" zu, und die ist eben göttlichen Ursprungs.
Peter Singer hat dieser "Würde" mal die passende Wendung gegeben: Woher soll die Würde des Menschen kommen, wenn nicht von seiner geistigen Entwicklung? Gibt es etwa ein Gottesgen?
Meiner Ansicht nach, ergibt die Auffassung keinen Sinn, dass dem Menschen eine Würde zufällt, weil er Abbild irgendeines Gottes ist, oder gar nur dann eine solche Würde zufällt, wenn dieser Mythos wahr ist. Es ist etwas ganz anderes, wenn ich den Eifelturm zerstöre, als wenn ich eine Miniatur-Nachbildung von ihm vernichte. Es gibt keinen Grund, die Nachbildung genauso wie das Original zu behandeln. Das selbe ist beim Schöpfungsmythos der Fall: Es besteht kein logischer Zusammenhang zwischen den Rechten eines postulierten Gottes und denen eines Menschen.
In unserer Zeit kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Heute geben Theologen weitesgehend zu, dass wir Produkte der Evolution sind. Manche sagen, dass die Evolution unter einigen Eingriffen ihres Schöpfers litt, aber das Gros der Theologen akzeptieren - und auf so viel intellektuelle Redlichkeit können sie stolz sein -, dass wir evolutionär entstanden sind und der biblische Schöpfungsmythos falsch ist. Wenn der Schöpfungsmythos aber nicht den Tatsachen entspricht, kann man auch keine ethischen Schlussfolgerungen aus ihm ziehen.
Könnte das statt der Empfängnis auch die Geburt sein? Ja, aber das wäre ausgesprochen kontra-intuitiv. Wir sprechen von "dem kleinen Menschen da drinnen", lauschen auf seine Tritte, kommunizieren mit ihm und sind uns der Tatsache sehr bewusst, dass seine Gestalt nicht erst während der Geburt entsteht. Also bleibt nur die Empfängnis als Zeitpunkt des Erhalts gottgegebener Würde.
Diese menschliche Intuition, d.h. die Unfähigkeit in moralischen Angelegenheiten hinreichend zu differenzieren, hat meiner Erachtens evolutionäre Ursachen. In der Evolution hat es sich als Vorteil erwiesen, wenn wir uns unseren Artgenossen gegenüber nach gewissen Maßstäben verhalten. So behandeln wir andere so, wie sie uns behandeln, und man kann mittels der Spieltheorie zeigen, dass diese einfache Verhaltensmaxime "Wie er dir, so du ihm" sich am meisten auszahlt. Wir haben eine starke Hemmschwelle, einen anderen Menschen zu töten, zeigen ein gewisses Mitgefühl, etc. Aber all die Mechanismen sind sehr einfach, auch wenn der gesamte Apparat sehr komplex ist. In der Wildnis unserer Vorfahren hat es sich ausgezahlt, wenn er erkannte, dass ein Wesen ein Mensch ist, und es daher nicht getötet hat, ohne weiter nachdenken zu müssen. Komplizierte Denkapparate, die über Handlungsmöglichkeiten sinnieren und sich dann für das beste Verhalten entscheiden, hätten sich hingegen als Nachteil erwiesen.
Zusammengefasst: Die radikale Abtreibungsgegnerschaft setzt eine Menschenwürde voraus, die an kein Kriterium außer der Artzugehörigkeit gebunden ist und daher nur durch ein religiöses Dogma begründet werden kann.
D'Accord!