Mark hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:,
Was das übertragbare Wahlrecht angeht, bin ich ganz mit dir einer Meinung: Schlechte Idee! Und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen:
[list][*]Die Idee verlagert das Problem nur: Statt für einen Abgeordneten oder eine Partei muss man jetzt einen Aktivisten wählen, an den man sein Entscheidungsrecht delegiert. Was ist dabei bitte gewonnen?
Bitte mal ein klein wenig eingehender überdenken. Diesen Aktivisten oder Bürgerrechtler meines Vertrauens kann ich mir aussuchen, und jederzeit kann ich ihm meine Stimme wieder entziehen. Bei den Wahlen selber muss ich jedoch wählen was man mir vorsetzt.
Ich verstehe schon, was dir an der Idee sympathisch ist, aber die Vervielfachung der Wahlmöglichkeit tritt ja gar nicht ein. Bei den Wahlen müssen die "Stimmmänner" ja doch auch wieder aus den Parteien auswählen, der inhaltliche Flaschenhals wird also überhaupt nicht angetastet. Letztlich kann ein Blogger auch nicht mehr sagen als "Ich werde am Wahlabend Partei XYZ wählen" und das kann der Wähler nunmal selber auch machen. Noch problematischer: Während die Parteien in den Hauptnachrichten vertreten sind und jeder Interessierte selbst ohne gezieltes Vorgehen mitbekommt, was diese Partei ungefähr tut und während das Parteiprofil über Jahre gewachsen ist, können irgendwelche Aktivisten Fähnchen im Wind sein, die allenfalls zu ihrem Spezialthema etwas relevantes zu sagen haben. Kaum ein Blogger oder Aktivist hat aber (im Gegensatz zu einem arbeitsteiligen Parteiapparat!) die Ressourcen, sich zu allen relevanten Themen eine Meinung zu bilden und diese übersichtlich kundzutun. Der Aufwand für den Bürger bei der Auswahl eines Wahlmannes ist also wesentlich höher (!), als wenn er einfach direkt eine Partei wählen würde - was zu dem Problem führt, dass nur politisch äußerst versierte Bürger überhaupt sinnvollerweise von dieser Stimmübertragung Gebrauch machen könnten und das sind genau die, die am Wahltag ohnehin im Wahllokal aufmarschieren.
Mir ging es aber hauptsächlich um einen anderen Punkt: Du hast oben geschrieben, dass du im übertragbaren Wahlrecht ein Mittel gegen Politikverdrossenheit siehst. Die Zumutung der politischen Meinungsbildung wird dem Bürger aber nicht abgenommen, indem man ihm anbietet, den Pool an Wahlmöglichkeiten (und auch das nur scheinbar, s.o.) zu vergrößern. Das Übertragen des Wahlrechts wäre ein so komplizierter, genauso viel Denkarbeit verlangender Vorgang, wie das simple Meinungbilden und am Wahltag Wählen gehen. Und überhaupt ist das letzte, was gegen Politikverdrossenheit wirken wird, eine Verkomplizierung des politischen Systems.
Mark hat geschrieben:Solche Stimmensammler würden als mächtigere Volksvertreter direkt mit den Parteien verhandeln, es gäbe Ausschüsse der Stimmreichsten Wahlmänner, eine gemeinsame Politik vor dem Level der Parteienwelt mit all ihrem Schranzentum. Das wäre eine ständig lebbare direkte Demokratie ohne wirklich etwas direkt demokratisch zu entscheiden. Ich finde die Idee grundsätzlich garnicht mal soo schlecht.
Was dir vorschwebt ist die Bildung eines Parallelsystems, das in weiten Teilen recht stark an das Rätesystem erinnert. Dabei gibt es mehrere Probleme:
Ein prinzipielles Problem ist, dass du ein System mit einer Modifikation versehen willst, für die das ursprüngliche System nicht gedacht war. In der parlamentarischen Demokratie vertritt das Parlament als Volksvertretung
direkt die Interessen des Volkes (Art. 38 GG!). Jetzt möchtest du ein völlig fremdes Element in diese Unmittelbarkeit einbringen, nämlich eine Art Wählerlobbyismus mit einem repräsentativem Schattensystem. Dadurch bringst du die klare Ordnung des parlamentarischen Systems und die Zuweisung von demokratischer Legitimation in ihm gehörig durcheinander. Legitimation ist in deinem System nicht mehr derart eindeutig zugewiesen, weil ein gewichtiger Teil der politischen Willensbildung plötzlich außerhalb des Parlaments stattfindet. Das ist mehr als ein kosmetisches Problem, weil das Parlament mit seinen angegliederten Ausschüssen in einer Demokratie nunmal DIE Arena der zentralen politischen Auseinandersetzung ist. Wenn nun plötzlich außerparlamentarische Delegierte existieren, ist das Parlament wahlweise auf halbseidene Art und Weise ausgeweitet worden (mit Halbabgeordneten, die nicht an institutionelle Kontrolle gebunden sind, was immense Transparenzprobleme nach sich zieht) oder aber in seiner Bedeutung entwertet worden. Beides kann keinesfalls wünschenswert sein!
Ein anderer großer Denkfehler ist die Wunschannahme, mit dem übertragbaren Wahlrecht ließe sich mit einfachen Mitteln eine direkte Demokratie realisieren, ohne all die Hässlichkeiten eines Totalumbaus des parlamentarischen Systems zu haben. Aber würde wirklich passieren, was du dir da erträumst? Für mich sehr klar: Nein, keineswegs!
Zuerstmal ein Hinweis auf ein gewichtiges Missverständnis: Du behauptest, die Stimmensammler wären "mächtige Volksvertreter", die "direkt mit den Parteien verhandeln" könnten. Autsch. Lass mich das mal umformulieren: "Mächtige Volksvertreter verhandeln direkt mit anderen mächtigen Volksvertretern und beide sind gewählt worden." BEIDE sollen sich kontern und BEIDE sollen GLEICHZEITIG den "echten" Wählerwillen zum Ausdruck bringen. Das kommt hoffentlich nicht nur mir hochgradig widersprüchlich vor. Man bekämpft Überschwemmungen nicht mit Wasser, oder?
Und da sind wir wieder beim Punkt, das sich in Wirklichkeit für den Wähler gar nichts ändert, außer dass das Repräsentationssystem gedoppelt wird: Du möchtest ein aus deiner Sicht dysfunktionales (parlamentarisches) politisches System dadurch kurieren, dass du ein anderes (rätedemokratisches) politisches System parallel dazu etablierst, ohne die Zuständigkeiten klar zu regeln, so dass am Ende ZWEI Instanzen, die direkt vom Volk bestimmt werden, erbittert streiten und keifen werden, wer mit mehr Legitimation gewählt wurde und wer das Recht hat, wem was abzutrotzen. Das ist ungefähr so, als würde man zwei Parlamente wählen lassen, wobei das erste nur dafür da ist, das zweite teilweise zu wählen. Anstatt daraus aber ein sauberes Zweikammersystem zu machen, bleiben Zuständigkeiten völlig im Ungefähren, was Tür und Tor für Blockadepolitik und damit den totalen politischen Stillstand inklusive damit einhergehender Hysterisierung der Debatten befördert (Paradebeispiel: USA) ODER zu einem Einpendeln in politische Lager aus Parteien und Wahlmännern führt, so dass am Ende wieder eine relativ stabile politische Arena besteht, in der die immergleichen Protagonisten die immergleichen Parolen ausgeben (überspitzt gesagt) und der Wähler außer Unübersichtlichkeit nichts dazugewonnen hat. Prost Mahlzeit!
Ich gehe davon aus, dass letzteres passieren würde: Rätesysteme haben den gravierenden Nachteil, dass sie keine Kontinuität zulassen. Partei XYZ hat keinerlei Gewissheit, dass sie, wenn sie sich auf Verhandlungen mit Blogger ABC einlässt, nicht in drei Wochen mit jemandem diskutiert, den keiner mehr relevant findet. Außerdem setzt du eine diskursorische Dynamik voraus, der viele Bürger und auch Aktivisten gar nicht folgen könnten, weil eben auch Verlässlichkeit wichtig ist und sich wahrscheinlich schnell ein eingefahrenes System wichtiger Volkstribunen bilden würde, die regelmäßig durch die Talkshows tanzen. Die Stimmsammler würden sich früher oder später wahrscheinlich auch irgendwie inhaltlich und auf die Wahlperioden abgestimmt an den Parteibetrieb ankoppeln. Die "Ausschüsse der Stimmreichsten Wahlmänner" erinnern ja schon vom Namen nach an irgendwelche Parteikommitees, gar keine Frage, dass bei denen mehr früher als später genau jenes Schranzentum einziehen würde, von dem du loskommen willst.
Mir ist schon klar, die Blogosphäre, die es ja erst ein paar Jahre gibt, atmet frischen Wind, alle sind jung und in Aufbruchstimmung, aber ich bin sicher, binnen zehn Jahren hätte sich ein stabiles Gleichgewicht an einigen wenigen einflussreichen Köpfen herauskristallisiert, die als eine Art Ein-Mann-Parteien (in Deutschland ist die innerparteiische Verfasstheit aus SEHR gutem Grund festgeschrieben und Ein-Mann-Parteien wie die von Geert Wilders in den Niederlanden sind zum Glück verboten) das mediale Geschehen dominieren würden - vermutlich wären nicht wenige davon erratische Quatschköpfe wie Guttenberg - und der parlamentarische Betrieb müsste sich neben Meinungsumfragen, Lobbyisten und strategischen Mehrheitsschätzungen mit einem weiteren unnötigen Störfaktor herumschlagen, der der jetzt schon geringen Planbarkeit den letzten Rest Gestaltungsspielraum nähme.
Zuguterletzt stellte sich die Frage, ob der in Art 38 Absatz 1 GG festgelegte Grundsatz der gleichen Wahl nicht verletzt wäre, wenn ein Wahlmann aufgrund seiner Stimmenakkumulation mehr für "seine" Wähler bei den Parteien herausschlagen könnte als ein Einzelwähler, dem keiner gesondert im Parteihauptquartier bei einer teuren Flasche Bordeaux zuhört. Der Grundsatz der geheimen Wahl wäre wahrscheinlich auch hinüber, der der unmittelbaren sowieso. Weitere verfassungsrechtliche Fragen wären die Vorschrift aus Art. 42, dass der Bundestag öffentlich zu verhandeln habe (mit dem Einfluss der Wahlmänner wäre ein weiterer Teil der politischen Verhandlungen der direkten Kontrolle der Öffentlichkeit entzogen, was, wie schon gesagt, massive Transparenzprobleme und Einfallmöglichkeiten für Korruption mit sich bringt), auch die in Art. 43 und 44 dargelegten Verantwortungspflichten der Abgeordneten wären zumindest der Intention nach verletzt.
Ich habe das alles jetzt vielleicht nicht so übersichtlich dargelegt, wie ich zu ausgeschlafener Stunde gekonnt hätte, aber ich denke, das Grundproblem wird klar: Wir würden ein System, dessen Mängel wir kennen und die zumindest ich für überschaubar halte, eintauschen gegen eines, bei dem wir selbst im Idealfall wenig zusätzlichen Nutzen gewinnen würden und bei dem die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass es anders und schlimmer kommt, als gewünscht. Ne, sorry, nein danke.