Arathas hat geschrieben:Ich würde eher sagen, dass die Demokratie außer Kraft gesetzt wird, wenn das Volk ganz offensichtlich etwas anderes will als die Regierung, die Regierung sich aber über den Willen des Volkes (notfalls mit Gewalt) hinweg setzt.
Zwei Fragen hierzu:
1. Entspricht diese Prämisse im konkreten Falle von Stuttgart21 überhaupt den Tatsachen? Will das Volk tatsächlich derart geschlossen etwas anderes als die Regierung oder ist es ein bestimmtes soziales Milieu (im Kern die in die Jahre gekommene Protestgeneration der 60er und 70er), das ein Grundmisstrauen gegenüber technischen Großprojekten hat?
2. Ist das Projekt, das sämtliche demokratischen Institutionen passiert hat, plötzlich delegitimiert, weil das Volk plötzlich seine Meinung geändert hat (was bei Einzelthemen gerne, schnell und nicht immer aus vernünftigen Gründen tut)? Beantwortete man die Frage positiv, was sagt dies generll über die Planbarkeit längerfristiger Projekte in einer Basisdemokratie aus?
Arathas hat geschrieben:Es ist meiner Meinung nach an der Zeit für viel mehr Volksabstimmungen, denn: Wer fühlt sich und seine Meinung heute schon noch von Politikern repräsentiert?
Ich bin mir nicht sicher, ob die Befürworter von Volksabstimmungen sich immer darüber klar sind, was sie fordern. Volksabstimmungen, das ist empirisch gut belegt, neigen immer stark in Richtung Konservation. Komisch, dass es ausgerechnet oft die "Progressiven" sind, die sich erhoffen, damit ihre Ziele durchsetzen zu können. Ein Paradebeispiel ist das Internetsperrengesetz von Ursula von der Leyen, gegen das sich massiver Widerstand im Internet organisierte, der viele Netzaktivisten zu der dümmlichen Annahme verleitete, zu glauben, im Falle einer basisdemokratischen Grundordnung in Deutschland wäre das Gesetz sang- und klanglos abgelehnt worden. Quatsch, die Masse hätte das ganze unter tatkräftiger Mithilfe vereinfachender Artikel in der Vierbuchstabenzeitung für sich in "Gesetz gegen Pädophilie" übersetzt und zugestimmt, der populistische Ansatz wäre voll aufgegangen.
Ein ähnlicher Fall ist letztlich in der Schweiz aufgetreten, als eine aufgehetzte Bevölkerungsmehrheit doch tatsächlich der Ansicht war, mit einem Baustopp für Minarette irgendetwas produktives gegen islamistische Fundamentalisten zu tun. Die Schweiz ist überhaupt ein gutes Beispiel dafür, wie Basisdemokratie Fortschritt verschleppt anstatt ermöglicht. Das Frauenwahlrecht wurde peinlichst spät eingeführt, die Schweiz ist nach wie vor nicht Teil der EU (ja, ich weiß, nicht der populärste Verein derzeit, aber das mit der Friedens- und Wohlstandssicherung hat bisher schon 60 Jahre lang geklappt, wird leider bei allem Wohlstandsgejammer gerne mal vergessen!), was übrigens auch andere Länder nicht sind, beispielsweise Norwegen, in denen man den Beitritt zur Abstimmung gestellt hat.
Fortschritt ist fast immer ein reines Elitenprojekt, das hat sich auch in den Zeiten massenhaft verbreiteter Internetanschlüsse und damit einhergehender flächendeckender Versorgung mit Allgemeinbildung durch Wikipedia und bloggende Hobbyjournalisten nicht verändert. Ich stehe von daher den Rufen nach Basisdemokratie eher kritisch gegenüber. Volksabstimmungen sollten öfter möglich sein, es sollte aber einen klar und eng definierten Rahmen dafür geben. Viele Fragen kann der eingespielte Verwaltungsapparat besser lösen, andere verbieten sich aus menschenrechtlichen Gründen zur Abstimmung gestellt zu werden und auch das blockierende Potential einer verängstigten Volksmasse sollte nicht unterschätzt werden. Wenn die Folge von mehr Volksabstimmungen ist, dass die Bürger selbst aus Ängstlichkeit die Reformierbarkeit des Systems blockieren - und in schöner Regelmäßigkeit sinkende Umfragewerte für refomierende Politiker legen genau dies nahe -, dann sind Volksabstimmungen nichts, was uns weiterbringen wird.
Man wird diese Blockade nämlich auch nicht mehr los. Als Beispiel sei der fast bankrotte US-Staat Kalifornien genannt, dessen Bürger über eine Steuererhöhungssperre abstimmten und nun vor einem kaputtgesparten Scherbenhaufen von Staatsapparat stehen, aber nicht die kollektive Visionsfähigkeit aufbringen, diese Entscheidung zurückzunehmen.
Die Zustimmung zu Volksabstimmungen rührt meiner Meinung nach vor allem daher, dass "das Volk" sich einig über seine Opposition zu "denen da oben" ist. Dieses Einigkeitsgefühl, das über das gemeinsame Feindbild des unfähigen oder gar korrupten Politikers ("Labersäcke") hergestellt wird, täuscht darüber hinweg, dass ein Parlament von 82 Millionen kaum produktivere oder wenigstens befriedigendere Entscheidungen fällen würde als das derzeitige System. Es täuscht vor allem über die tatsächlich immer mehr zunehmende Zergliederung der Gesellschaft hinweg. Seien wir mal ehrlich, in welcher politischen Frage fände sich heute noch die Mehrzahl der Milieus zu einer gemeinsamen Entscheidung zusammen? Stuttart21, das ist in meinen Augen nur ein Stellvertreterkrieg. Schauen wir nach Hamburg, wo ein Mittelstand in der Bildungspolitik seine Privilegien mit gewetzten Klauen verteidigt hat, das gibt eher einen Eindruck davon, wie Volksabstimmungen ablaufen würden. Der Stärkste gewinnt, was denn sonst? Glaubt einer ernsthaft, dass das Volk plötzlich ganz staatstragend würde und die Mehrheit auch immer brav das allgemeine Wohl im Blick hätte, wenn es plötzlich mehr Volksabstimmungen gäbe?
Es gibt davon abgesehen noch eine systemimmanente Schwäche von Volksabstimmungen, und zwar ihre starke Reduzierung einer komplexen Frage auf eine simple Ja-Nein-Antwortmöglichkeit. Solche Abstimmungen nehmen zum einen jeglichen Raum für Verhandlungen, Kompromisse oder Alternativlösungen, zum anderen gaukeln sie falsche Relevanzen vor, indem sie durch die alleinige Stellung der Frage schon implizieren, dass der abzustimmende Sachverhalt eine Frage ist, die tatsächlich wichtig wäre. Auf diese Weise ist z.B. auch in der Schweiz der Eindruck enstanden, die Abstimmung über den Minarettbau (selbst Befürworter des Verbotes müssen sich über die Wirkungslosigkeit gegenüber dem eigentlich angestrebten Ziel klar sein, denn der Islam wird in seiner Ausbreitung nicht durch ein Turmbauverbot gestoppt, genausowenig wie ein Vollverschleierungsverbot die Frauen befreit oder ein Internetsperrengesetz die Pädophilie abschafft) sei eine Frage von großer Wichtigkeit, die unbedingt diskutiert werden müsse. Tatsächlich hätte es wichtigere Fragen, z.B. über das Wesen der Integrationspolitik gegeben, über die man hätte sprechen müssen, das ist aber nicht geschehen, weil die Abstimmung über eine Nebelkerze alles andere dominiert hat.
Man mag der Verhandlung wichtiger Fragen in "dunklen Hinterzimmern" durch irgendwelche Delegationen misstrauen, aber zur Ausarbeitung von Detaillösungen sind Ausschüsse im Allgemeinen leistungsfähiger und haben auch mehr Spielraum zur Findung tragfähiger Kompromisse. Eine Volkabstimmung ist dagegen schwerfällig und hat ein äußerst grobes Raster. Dazu noch ein abschließendes Beispiel, die Wiederwahl von Jaques Chirac 2002. Die Mehrheit der Franzosen hat Chirac nur deshalb gewählt, weil Lionel Jospin als dritte Option gar nicht mehr zur Verfügung stand und das Schreckgespenst Le Pen nun wirklich keiner haben wollte. Hier sieht man wirklich besonders gut, wie der Verhandlungsmodus aufgrund der in einer Volksabstimmung auch im Allgemeinen nötigen Simplifizierung die Möglichkeiten so weit eingeschränkt hatte, dass die favorisierte Lösung gar nicht mehr zur Auswahl stand - und genau das würde in breit eingeführten Volksabstimmungen die ganze Zeit geschehen. Von daher rate ich wirklich dazu, dieses Instrument mit Vorsicht zu genießen. Die Legitimation mag für die gestellte Frage direkter und damit besser sein, aber man erhält bezogen auf die komplexe Realsituation deshalb noch lange nicht die bessere Lösung.