Dissidenkt hat geschrieben:Viel schlimmer ist, dass die Medien diesen Krieg subtil unterstützen, anstatt die Kriegstreiber an den Pranger zu stellen.
Ich habe die bisherige Berichterstattung nicht als undifferenziert erlebt. Es gibt durchaus verständliche Gründe dafür, diesen Krieg zu führen. Einfach von Kriegstreibern zu sprechen und den Befürwortern damit niedere Beweggründe zu unterstellen, dürfte der Debatte kaum dienlich sein.
Dissidenkt hat geschrieben:stine hat geschrieben:Kann die Befriedung durch das Anlernen der dortigen Polizei überhaupt funktionieren
Selbstverständlich nicht. Polizei ist allenfalls zur Durchsetzung eines allgemein anerkannten kodifizierten Rechts geeignet. Eine Art bürgerliches Recht wird es in Afghanistan auch in 100 Jahren nicht geben, weil es dort schlicht und einfach kein Bürgertum gibt. Das einzige verwurzelte Rechtssystem dort ist die Scharia. Und wenn der letzte NATO-Besatzer gefallen oder abgezogen ist, wird die Scharia auch wieder Maß aller Dinge sein. Das was die kommenden Generationen dann dort über "westliche Werte" lernen, besteht aus Gräbern und Waffenschrott am Straßenrand.
Mal davon abgesehen, dass es ein Rechtssystem namens "Scharia" nicht gibt: Das Recht in Afghanistan besteht noch viel mehr als aus Scharia vor allem aus dem jahrtausendealten Stammesrecht, das sehr komplex und lokal ganz unterschiedlich ist.
Die Zukunft des Rechts wird im wesentlichen von der Zukunft der ökonomischen Entwicklung und der Entwicklung in den umliegenden Ländern abhängen. Sollte es dort zu einem Abflauen des islamistischen Fundamentalismus kommen, etwa, weil Iran die Wende zu einer freien Demokratie hinbekommt, und darüberhinaus ein stabiles Regime in Kabul regieren, das einen halbwegs friedlichen Interessensausgleich zwischen den Stämmen und Lokalfürsten hinbekommt, dann ist auch in Afghanistan irgendwann mit Wirtschaftsaufbau und Urbanisierung zu rechnen und das kann durchaus vor Beginn des 22. Jahrhunderts eintreten.
Dissidenkt hat geschrieben:stine hat geschrieben:oder findet hier lediglich ein Outsourcing von kriegerischen Auseinandersetzungen statt um billig abzurüsten und die Waffenhändler etwas verdienen zu lassen?
Die einzigen Profiteure sind Waffenhändler und -produzenten im Westen.
Und die Taliban.
Ich habe keine Ahnung, wo die Idee vom "billig abrüsten" herkommt. Es ist hundertmal billiger eine Rakete zu verschrotten, als sie auf einem Stahlkoloss um die halbe Welt zu schippern, sie bei horrenden Benzinkosten in den letzten Winkel der Erde zu bringen und sie dort auf einen Hügel zu ballern. Umständlicher wird man das Zeug wirklich nicht mehr los. Eine stehende Armee mag teuer sein, aber richtig teuer ist eine, die sich bewegt.
Die Kriegsziele, dem Terrorismus sein Rückzugsgebiet zu nehmen, nebenbei ein unmenschliches Regime zu erledigen und anschließend einen geostrategisch äußerst wichtigen Winkel der Erde einzunehmen, dürften viel entscheidender gewesen sein, als das - im Vergleich - bisschen Lobbyismus der Waffenindustrie.
smalonius hat geschrieben:stine hat geschrieben:Weiß jemand von euch, warum dieser Wahnsinn in
Afghanistan eigentlich noch von der Bundeswehr unterstützt werden muss?
Weil wir eine repräsentative Demokratie sind und die Politiker es besser wissen als du oder die Volksmeinung.

Sagen wir es mal so: Politiker sind dem Druck durch die Bündnispartner und dem Sachzwang, eine tragfähige Lösung zu finden, viel direkter ausgesetzt, als Otto Normalbürger, der in 10-Minuten-Umfragen zu Themen, von denen er mit 95%iger Wahrscheinlichkeit weniger als drei Zeitungsartikel gelesen hat, seine Meinung kundtut. Das ganze wird dann hochgerechnet, eingedost und mit dem bräunlichen Etikett "gesundes Volksempfinden" den Politikern vorgesetzt, die das dann irgendwie in ihre Gesamtstrategie einbauen müssen.
Das Wahlvolk ist nicht blöd und auch nicht immer durchweg uninformiert, aber es besteht halt ein deutlicher Unterschied zwischen einem deutschen Wohnzimmer, wo im trauten Familienkreis konsequenzenlos moralisiert werden kann und einem Sitzungstisch, an dem eine politisch durchsetzbare Lösung gefunden werden muss. "Sofort abziehen" lässt sich schön fordern, wenn man - wie der Bürger ja im Grunde auch - in der Opposition sitzt, aber dass eine tatsächliche Umsetzung eine humanitäre Katastrophe wäre, muss man dabei ja nicht beachten. Das muss nur die Regierung.
smalonius hat geschrieben:Die Liste westlicher Einmischung in Arabien ist lang. Die arabischen Länder waren im zwanzigsten Jahrhundert durchgehend Spielball der Westmächte.
Warum so unbescheiden? Die erste westliche Einmischung fand bereits mit Napoleons Ägypten-Expedition 1798 statt. Im 19. Jahrhundert kann über weite Strecken von einer tatsächlichen Unabhängigkeit im osmanischen Reich keine Rede mehr sein. Seit über 400 Jahren, richtig intensiv aber seit den letzten zwei Jahrhunderten, ist der arabische Raum ein "penetrated system"* (ein Begriff, der vom Nahostforscher
L. Carl Brown geprägt wurde) oder ein Gebiet des "indirekten Imperialismus", wo also keine formale Herrschaft ausgeübt wird, über politische Berater, Wirtschaftsmacht, militärische Drohungen und Geheimdienstaktionen aber extrem viel Einfluss ausgeübt wird.
*: Definition nach Brown (in: Brown, L. C.: International Politics and the Middle East, London 1984; S.5):
"
A penetrated political system is one that is neither effectively absorbed by the outside challenger nor later released from the outsider's smothering embrace. A penetrated system exists in continous confrontation with a dominant outside political system. The degree of penetration is perhaps best measured by the extent to which differences between local, national, regional, and international politics become blurred. That is, the politics of a thoroughly penetrated society is not adequatley explained – even at the local level – without reference to the influence of the intrusive outside system."
Korrekterweise müssen wir dazusagen, dass es sich bei Afghanistan nicht um einen arabischen, sondern einen multiethnischen Staat mit paschtunischer Bevölkerungsmehrheit handelt. Gesprochen wird neben Paschtu auch Farsi, da Afghanistan Teil des historischen Persiens ist. Die Behandlung durch die westlichen Mächte ändert das allerdings nicht, Afghanistan war aufgrund seiner zentralen Lage zwischen Russland und Indien immer schon ein Hauptschauplatz des "Greate Game", bei dem es neben genereller Kontrolle über Zentralasien für die Briten im 19. Jahrhundertvorrangig um die Sicherung Indiens und für die USA im 20. Jahrhundert u.a. um die Verhinderung eines russischen Zugangs zum Indischen Ozean ging.
smalonius hat geschrieben:Die Briten haben zwischen den Kriegen Giftgas im heutigen Irak eingesetzt, die Grenzen des Iraks wurden von Briten und Franzosen gezogen.
Das ist richtig. Nun muss man hier aber vorsichtig mit Pauschalurteilen sein, denn die künstliche Grenzziehung muss nicht zwangsläufig zur Katastrophe führen, auch wenn sie sicherlich anhand ethnischer Kriterien klüger gezogen hätte werden können. Es hat sich - sehr zum Erstaunen auch der Politikwissenschaft, die das so nicht erwartet hatte -, herausgestellt, dass es auch bei künstlichen, am Reißbrett entstandenen Staaten, eine nach relativ kurzer Zeit einsetzende Nationalisierung gibt. Im Irak wird das durch die extreme Inhomogenität der Bevölkerungsgruppen und das im arabischen Raum besonders schwere Erbe der Stammestraditionen überblendet, aber trotzdem lässt sich auch ein irakischer Nationalismus feststellen. Die Iraker fühlen sich mehr als Iraker als als Araber, die panarabische Idee ist seit gut 30 Jahren tot. Ausnahme bilden vielleicht die Kurden, aber bei den Schiiten gibt es derzeit nicht mal ansatzweise eine Mehrheit für einen Anschluss an den schiitischen Iran.
smalonius hat geschrieben:In den siebzigern und achtzigern handelte man dann nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Man hat Saddam Hussein unterstützt, als dieser im Krieg mit dem Iran lag.
Um den Bogen zu Afghanistan zu schlagen: Wir tun das ja auch heute noch. Der Westen, sprich: wir, paktiert dort mit zwielichtigen Warlords, über deren Menschen- und Bürgerrechtsverständnis nicht unbedingt viel positives bekannt ist, es wird eine Marionettenregierung unterstützt, der sofort mit Entzug der Hilfen gedroht wird, wenn sie aller politischen Klugheit folgend, einen Schritt auf die gemäßigten Taliban zumacht, obwohl genau das kurioserweise auch im Westen mittlerweile laufend erwogen wird.
smalonius hat geschrieben:Man hat die Aufständischen in Afghanistan unterstützt, weil sie im Krieg mit dem kommunistischen Erzfeind USSR lagen. *Einfüge: Zauberlehrling und gerufene Geister, die man nicht mehr los wird.*
Nunja, auch hier war nicht alles falsch: Prinzipiell war die Unterstützung moralisch durchaus zu rechtfertigen, schließlich hatten die Afghanen auch selbst etwas vom Abschütteln der Besatzer. Die eigentlichen Fehler wurden danach gemacht. Vielleicht kennt man einer hier den Film "Der Krieg des Charlie Wilson", der auf einer wahren Geschichte beruht. Am Ende gibt es eine Szene, die Anfang der 90er nach dem Fall des Ostblocks spielt und die das jahrelange zivile (!) Engagement Wilsons exemplarisch zusammenfasst. Dort bittet Wilson um ein paar Millionen Dollar für den Aufbau von Schulen und einfacher Infrastruktur, damit Afghanistan sich entwickeln kann, die Politbürokraten lehnen das aber mit gleichgültiger Miene ab.
Allerdings hat man sich in den 90ern durchaus um einen Rückkauf der Antiluftraketen bemüht, die seinerzeit geliefert worden waren, der auch einigermaßen erfolgreich war. Man hat also zumindest den Versuch gemacht, das gefährliche Zeug dort auch wieder herauszubekommen, das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man behauptet, das Hochrüsten durch die CIA wäre das Problem gewesen. Was eher das Problem war, war schlicht, dass der unterentwickelten Ökonomie des Landes nach dem Sieg keinerlei Aufmerksamkeit mehr geschenkt wurde.
smalonius hat geschrieben:Ron Paul, republikanischer Präsidentschaftskandidat in den Vorwahlen, hat es ausgesprochen: lassen wir die Leute in Ruhe, dann lassen sie uns in Ruhe. Er hat ziemlich viel Sperrfeuer dafür einstecken müssen.
Er hat zwar einerseits Recht, andererseits ist es so einfach nun auch nicht. Im Falle von Bedrohungen, z.B. durch Atomprogramme in politisch unterentwickelten Staaten (nur zur Erinnerung: Keine der derzeitigen Atommächte hat je offen die Absicht ausgedrückt, ein anderes Land "vernichten" zu wollen, im Gegensatz zum Iran), von Genoziden (wie in Darfur, wo meiner Meinung anch längst eine Viertelmillion UN-Soldaten stehen sollte) oder anderen humanitären Katastrophen wie Hungernöten, sind wir sowohl verpflichtet als auch ermächtigt, in anderen Erdteilen zu intervenieren. Die Tatsache, dass wir 500 Jahre Kolonialismus auf dem Buckel haben, heißt nicht, dass wir uns jetzt davonstehlen können und andere Völker komplett alleine mit dem Schlamassel lassen dürfen, in den wir sie reingeritten haben. Im Zweifel heißt das natürlich mehr Zurückhaltung als bisher, andererseits ist das Maß der gegenseitigen Abhängigkeiten derart groß, dass ich da keine saubere Trennung für realistisch halte. Allein durch Handel und Ressourcenhunger und durch ganz natürliches Einsickern anderer Kulturen durch Migration und Medien ist einer Auseinandersetzung mit den Problemen anderer Erdteile nicht aus dem Weg zu gehen. Einfach "in Ruhe lassen" geht schlicht nicht und muss auch nicht sein.
smalonius hat geschrieben:Letztlich ist hier ganz einfache Gruppendynamik am Werk. Wir sind die guten, die Sandneger sind die bösen. Man unterläßt es, die Dinge vom Standpunkt des Gegners aus zu betrachten. Und speziell in Afghanistan versucht man etwas zu erreichen, was die Sowjets mit einer 200 000 Mann starken Armee nicht geschafft haben.
Dabei sollten wir aber nicht unterschlagen, dass gerade anfangs die Sovjets nicht so unwillkommen waren, wie man denken könnte. Es gab durchaus positive Impulse, insbesondere bei der Emanzipation der Frauen, die erstmals arbeiten gehen konnten. Soziale Gerechtigkeit wollten die Afghanen durchaus mehr als bisher, wobei mit dem Sozialismus wiederum die wengisten etwas anfangen konnten. Es ist nur nicht so, dass die Sovjets bezüglich Modernisierung gar nichts geschafft hätten und ihre Niederlage geht ja zu einem großen Teil auch auf das Konto der Amerikaner. Damit rechtfertige ich keineswegs den unprovozierten Einmarsch der Sovjets, nur sollte man Afghanistan nicht von vornherein als das Armeengrab der Erde ansehen. Letztendlich bräuchte man in Afghanistan mehr Soldatenm aber vor allem viel mehr Geld für den Aufbau von Infrastruktur. Hätten wir da ordentlich geklotzt die letzten Jahre, müssten wir das Problem vielleicht nicht noch die nächsten 50 Jahre mit uns herumschleppen. Wer weiß, wann das nächste Land nolens volens entscheidet, dass es in Afghanistan wegen Drogenanbau, Gewaltherrschaft und Terrorismusverstecken mal wieder genug ist und der zweite Einmarsch im 21. Jahrhundert ansteht?
smalonius hat geschrieben:Die USA hatten vor dem ersten Weltkrieg eine aussenpolitische Doktrin namens splendid isolation - lassen wir die anderen machen und kümmern wir uns um unseren eigenen Kram. Eine Prise davon täte dem Westen heutzutage ganz gut.
Die USA hatten nie eine Devise dieses Namens, der Begriff ist ein rein britischer aus dem 19. Jahrhundert. Die USA hatten hingegen die Monroe-Doktrin, die den europäischen Mächten bedeutete, dass sie es mit den USA zu tun bekämen, wenn sie sich in inneramerikanische Fragen einmischen würden. Innerhalb Amerikas waren die USA aber schon früh mit dabei, ihren Einfluss zu entfalten und im Pazifikraum taten sie sich durchaus auch als Kolonialmacht hervor. Dass ihr Eifer da gebremst war, dürfte daran liegen, dass der Kolonialisierungsdrang bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vor allem darin befriedigt wurde, dass eine Unmenge Land innerhalb der USA einzunehmen war. Und es macht ads Vorgehen gegen die Indianer und Sklaven nicht unbedingt besser, dass es eine innenpolitische Frage war, oder?
Trotzdem gebe ich dir recht. Die Welt entwickelt sich meist dort am besten, wo wir uns rausgehalten haben, siehe Südostasien und Südamerika. Da, wo wir unsere Stellvertreterkriege abgehalten haben, im arabischen Raum und in Afrika bevorzugt, sieht die Welt aus wie ein Kornfeld nach einem Panzermanöver. Ich fände es allerdings großartig, wenn wir, sozusagen auch als Widergutmachung für in den letzten 500 Jahren begangene Schandtaten, den ärmsten Ländern der Welt eine ordentliche Ladung Infrastruktur bauen würden, denn neben anderen geographischen Voraussetzungen ist fehlende Infrastruktur das Haupthindernis für wirtschaftliche Entwicklung.