Nanna hat geschrieben:Ich teile aber nicht deinen Drang, jedes gesellschaftliche Problem ausschließlich auf Gene und eine ungünstige Nachwuchssituation zurückzuführen. Gene sind Anlagen, keine Garantien, sie müssen auf eine Umwelt treffen, die ihnen ihre Entfaltung ermöglicht, sonst werden sie abgeschaltet und wegselektiert. Stärkere Bildungs- und Lebensführungsanleitungen in der Unterschicht würden vielleicht auch einmal dazu führen, dass sich in diesen Milieus sowohl eine leistungsorientiertere Kultur als auch entsprechende Gene durchsetzen.
Ich hebe überhaupt nicht nur auf Gene ab. Eltern geben an ihre Kinder viel mehr weiter als nur Gene. Es wurde bereits erwähnt: Wer nie erlebt, dass Eltern ein Buch lesen oder einmal angeregt über etwas diskutieren, wird dies auch nicht oder nur selten tun. In dem von mir verlinkten FAZ-Artikel "Ich war Unterschicht" schreibt der Autor sehr deutlich:
Ererbte und persönliche Einflüsse spielten auch eine Rolle. Meine Mutter hat - das war schon damals untypisch für ihre Kreise - nie geraucht und nicht getrunken. Das Grauen, das besoffene und stinkende Eltern bei Kindern erregen, sah ich nur im Freundeskreis mit an. Und mein Vater scheint so eine Art proletarischer Intellektueller gewesen zu sein. Jedenfalls hatte er bei uns ein gelbes Goldmann-Taschenbuch mit Baudelaires Aufsatz über „Das Wesen des Lachens“ liegenlassen.Unlängst wurde im Fernsehen eine Frau vorgestellt, der vom Jugendamt alle 9 Kinder wegen Verwahrlosung abgenommen worden waren. Jetzt hatte sie vom nächsten Mann bereits wieder ein Kind, gleichzeitig war sie hochschwanger. Ich halte dieses Verhalten nicht für hinnehmbar, sondern für ein Verbrechen.
Kultur wird sehr stark von den Menschen getragen, die gebildet sind. Und wenn die sich so organisieren, dass sie kaum Kinder bekommen können und dies in der Folge vor allem denjenigen überlassen, die unsere Kultur quasi aussondert, dann ist die Katastrophe vorprogrammiert. Die Vorstellung, man müsste nur die Bedingungen dieser Schichten verbessern, und schon würde sich alles zum Guten wenden, ist sehr naiv. Ich möchte sagen: Sie ist gescheitert.
Der Staat hat überhaupt kein Interesse daran, dass immer mehr Menschen in die Armut abrutschen. Die Wirtschaft hat dieses Interesse gleichfalls nicht, denn die wollen verkaufen. Die suchen Märkte. Wir haben uns jedoch mittlerweile so organisiert, dass diese Verarmung zwangsläufig passieren wird. Dahinter steckt keine bewusste Absicht dunkler Hintermänner, sondern ein eigendynamischer Prozess, der all dies bewirkt. Wenn es für bildungsfern leichter und auch ökonomisch sinnvoller ist, ein paar Kinder großzuziehen, als für bildungsnah, dann müssen wir uns nicht mehr über den zunehmenden Bildungsverfall wundern. Der ist dann vorprogrammiert.
Und ja: die Gesellschaft sollte endlich genauso ökonomisch denken, wie es die Unternehmen tun. Im Grunde haben wir hier eine Aufgabenteilung: Die Unternehmen produzieren und liefern all das, was wir für den täglichen Bedarf benötigen. Die Gesellschaft liefert dafür die Menschen (das Humankapital) und auch die Infrastruktur, damit die Unternehmen in unserem Land ihre Aufgaben gut erledigen können. Vergleicht man das mit einer Jäger-Sammler-Gesellschaft, in der die Männer zur Jagd gingen und sich die Frauen um die Zelte, die Kleidung und den Braten kümmerten (wie bei den Indianern), dann könnte man sagen: Unternehmen sind männlich, die Gesellschaft ist weiblich. Und wenn die Gesellschaft in diesem Spiel nicht untergehen möchte, weil die Unternehmen immer mehr qualifizierte Kräfte für ihre Belange abziehen, sollte die Gesellschaft ihnen im Wettkampf um das Humankapital Konkurrenz machen, frei nach dem Motto: „Wir brauchen nicht alle Frauen, aber einige, um unser Humankapital zu erneuern. Und damit diese jetzt nicht alle zu den Unternehmen überlaufen, weil die viel Geld für nervige Arbeit bieten, werden wir euch ein attraktiveres Angebot machen, zumal dann einige von euch dem überhitzten Arbeitsmarkt entzogen werden.“ So oder so ähnlich muss es in Zukunft laufen, d.h. vor allem viel sachlicher und nicht so schrecklich religiös, wenn es um die Nachwuchsfrage geht. Ich bin sicher, dass man sich mit einer solchen Strategie wieder aus dem Abwärtsstrudel, in dem wir aktuell stecken, herausziehen könnte. Auch dürften die sich daraus ergebenden Effekte für die jetzigen Unterschichtskinder groß sein. Ich selbst saß in der Schule neben einem begabten „Unterschichtskind“. Jahre später hat er mir gesagt, dass ich für ihn die Orientierung gewesen sei. Meine Eltern erkannten dessen Begabung gleichfalls sehr rasch, woraufhin auch deren lautlose Förderung einsetzte (mal hier ein Buch, mal dort ein kleiner Zoobesuch etc.). Ein Unterschichtskind, das von anderen Unterschichtskindern umzingelt ist, die alle die gleichen Schwierigkeiten haben, wird dagegen so gut wie keine Chance haben. Gerade die Kinder aus den bildungsfernen Schichten brauchen die bildungsnahen Kinder als Orientierung und Motivation. Wenn man sie allein lässt, versinken sie immer mehr in ihrer desolaten Situation.
Was wir aktuell betreiben, spottet jeder Beschreibung.
Ich bin nicht gegen Förderung und bessere Bildungsmaßnahmen. Ich behaupte nur: Egal wie wir uns anstrengen werden, wir werden die aktuellen Bildungsprobleme auf diese Weise nicht lösen können. Daher kommt dann auch mein möglicherweise bereits erkennbarer Unwille. Ich bin nicht mehr bereit, über die ständig gleichen Lösungswege zu sprechen, wenn die eigentlichen Ursachen in der Diskussion stets ausgeklammert werden.