Gottesvergiftung
Verfasst: So 23. Sep 2007, 21:43
Bin gerade auf ein Zitat gestossen, dass mich beeindruckt hat:
Aus: Tilmann Moser, Gottesvergiftung. Suhrkamp 1976.
Hier gefunden: http://dk3hn.homepage.t-online.de/phirel_wahn.htm
Lieber Gott, ... Du bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit, als mein Körper und meine Seele klein waren ... Indem ich dir zeige, wie du als Krankheit in mich eingezogen bist, und als Krankheit fast über mich hinweggewachsen warst, hoffe ich, mich ein Stück weit von dir heilen zu können. Ich weiß, daß du in den Narben, falls ich dich aus mir vertreiben kann, bis zu meinem Tode hausen wirst. Sie werden mich beißen, und du wirst mich noch mit Phantomschmerzen quälen, wenn du längst wegamputiert bist. Ein Teil meines Hasses auf meine Familie rührt daher, daß sie mir die Gotteskrankheit eingegeben hat. Du wurdest mir eingeträufelt, kaum daß die ersten Zeichen der Empfänglichkeit, der Verwundbarkeit sichtbar wurden. Das Anwachsen der Krankheit wurde, alter Familientradition gemäß, mit Freude betrachtet. Sie haben das Wuchern der Tumore in meiner Seele nach dem Kalender des Kirchenjahres verfolgt und gefeiert. Die Feste waren die Höhepunkte des Krankheitsverlaufs. ... "Herr erhebe dein Antlitz über uns...", so haben wir am Ende jedes Gottesdienstes gefleht, als gäbe es keine größere Sehnsucht, als immerzu dein ewig-kontrollierendes big-brother-Gesicht über uns an der Decke zu sehen. Du als Krankheit in mir bist eine Normenkrankheit, eine Krankheit der unerfüllbaren Normen, die Krankheit des Angewiesenseins auf deine Gnade, die von beamteten Herabflehern zusätzlich zu meinem Geflehe bei dir erbettelt werden mußte. ... Du hast mir so gründlich die Gewißheit geraubt, mich jemals in Ordnung fühlen zu dürfen, mich mit dir aussöhnen, mich o.k finden zu können ... ich weiß von Patienten, Freunden und Bekannten, daß du für Millionen noch immer die schlimmste Kinderkrankheit bist, die man sich denken kann, in vielen Fällen unheilbar, ansteckend vor allem für Kinder und Kindeskinder. ... Du gedeihst in den Hohlräumen sozialer Ohnmacht und Unwissenheit. Du blühst aus der Lebensangst meiner Vorfahren, aus allem Unverstandenen, das sie heimgesucht hat, vor allem aber: aus ihrer Ungeborgenheit, aus ihren seelischen Entbehrungen, gegen die sie dich wie eine riesige Plombe in einen faulenden Zahn gesetzt haben. ... Dich überstanden zu haben gibt mir Selbstbewußtsein; von der riesigen Krücke nicht erschlagen worden zu sein. ...
Aus: Tilmann Moser, Gottesvergiftung. Suhrkamp 1976.
Hier gefunden: http://dk3hn.homepage.t-online.de/phirel_wahn.htm