ganimed hat geschrieben:Nanna und du sagen: Naturwissenschaft ist immer streng deskriptiv und sie ist deshalb nicht autorisiert, Deutungen oder Wertungen vorzunehmen, kann insbesondere keine Regeln oder Empfehlungen ableiten.
Nein, wir reden noch immer aneinander vorbei.
Man
kann sehr wohl Empfehlungen ableiten, aus wissenschaftliche Erkenntnissen und das wird ja auch andauernd gemacht.
Keine Grundstücke in Istanbul und an der Holländischen Küste kaufen, Erdbeben und Überschwemmungsgefahr. Nicht rauchen, Krebs. Nicht übermüdet oder besoffen fahren, Unfallgefahr. Und so weiter, geht alles.
Aber dann sind die normativen Fragen schon beantwortet.
Wenn es Studien gibt, die überprüfen, wie man Krankheiten vermeidet, dann steht schon fest, dass man sie vermeiden will. Das sind oft diese: „Hä? Ist doch wohl klar“ Fragen, mit denen sich die Philosophie abgibt.
Ist es immer so klar?
Natürlich will man sein Haus behalten, kein Krebs bekommen und nicht in einen Unfall verwickelt werden. Darum raucht auch niemand und keiner käme auf die Idee besoffen Auto zu fahren. Weil, man will ja nicht sterben.
Aber eine Zigarette bringt keinen um. Und mit dem Trinken… wer das Auto noch selbst aufschließen kann, kann es auch fahren, oder? Außerdem ist man erwachsen und kann selbst bestimmen, was man tut. Und meistens geht es ja auch gut. Wirklich lästig ist nur die Polizei und die Sache mit dem Führerschein. Man selbst passt schon auf sich auf, auch wenn’s mal’n Bier zu viel war. Und die anderen, naja gut, man passt auch da auf, muss ja nicht auch noch schnell fahren.
Und man will ja auch Spaß haben am Leben, schließlich arbeitet man die Woche über. Hat man ja wohl auch ein Recht drauf. Wer sagt denn, dass man nur zum Arbeiten geboren ist?
Und was will man nun? Beides vielleicht. Gesund sein und Spaß haben, von allem etwas? Aber was ist jetzt der richtige Ansatz? Gibt es so was überhaupt: ein richtiges Leben zu führen, ein gutes, ein erfülltes? Was ist das eigentlich, ein gutes Leben? Eines, wo man die Sau rausgelassen hat? Eines als ehrenamtlicher Helfer? Ein kurzes, intensives oder eine möglichst lange Ausdehnung der Lebensdauer? Das sind normative Fragen, die man nicht unbedingt durch Statistik beantworten kann.
Oder vielleicht auch doch, aber auch das kann man sich als Frage vorlegen.
ganimed hat geschrieben:Jetzt sage ich: Die für die Deutungen und Wertungen nötigen Zielkriterien können ebenfalls beschrieben, erforscht und ermittelt werden. Sie stehen der Naturwissenschaft also prinzipiell zur Verfügung. Und mit diesen Zielkriterien kann man andere Fakten bewerten, beurteilen und daraus dann Folgerungen ableiten. Oder etwa nicht?
Schon die Forschung, die Fragestellung impliziert ja ein Ziel. Manchmal ein unhinterfragtes. Wie kann ich mehr Freunde auf facebook gewinnen? Ja, muss ich das denn wollen? Ist nicht Deine Frage, klar, aber gesund willst Du schon sein. Und rauchst nicht, trinkst nie Alkohol, gehst immer zur Vorsorgeuntersuchung, machst Sport, aber auch nicht zu intensiv (freie Radikale), nimmst Vitamine zu Dir, aber möglichst nicht künstlich (Finnland Studie) und auch nicht zu viel, könnte die Nieren belasten. Lüftest Du ausreichend? Du weißt doch, die Radioaktivität in den Räumen. Aber nicht zu lange, der Lärm von draußen, das ist purer Stress, weißt Du doch. Und überhaupt, Ernährung. Fleisch ist ja wohl nicht drin bei Dir, Darmkrebs und so. Ist das noch ganz gesund oder schon mittelgradig paranoid? Also nicht zu viele Sorgen machen und auch mal Fünfe gerade sein lassen. Lebe froh und leben heiter, wie der Spatz am Blitzableiter. Schade wenn man’s nicht kann, aber bloß nicht ärgern, ungeheuer schlecht fürs Herz. Depressionen sind ungesund. Guter Tipp, nicht? Und schon gar keinen Beziehungsstreit. Der pure Wahnsinn, gesundheitlich betrachtet. Gefährliche Sportarten machst Du ja wohl auch nicht, oder? Also Skifahren is nich, bestimmt nicht Abfahrt, Langlauf wenn’s hoch kommt und immer schön vorher zum Arzt, wegen Fitnesscheck. Und dann die kalte Luft, Gift für die Lungen.
Oder nimmst Du doch für das Zauberwort Lebensqualit… mööööp, gibt’s ja nicht für Dich. Also brichst Du auch mal aus, aus dem Vernunftkorsett, just for the taste of it? Wird im Detail eigentlich immer komplizierter. Oder wie löst Du das für Dich?
Gibt es da so Kriterien, die wirklich für alle gleichermaßen gelten? Oder hat jeder seine eigenen? Kann man das sagen, wie man leben sollte? Darf man anderen das vorschreiben? Warum (nicht)?
Rauchen ist ja wohl für alle blöd, nicht? Auch für Helmut Schmidt? Klar, der hätte 140 werden können.
ganimed hat geschrieben:Ein Forscher kann herausfinden, was genau beim Rauchen passiert und wie das Krebsrisiko ursächlich beeinflusst wird. Dann könnte er der Vollständigkeit halber noch eine Studie durchführen, um herauszufinden, ob die Menschen Krebs gut oder schlecht finden. Und schon kann er logisch einwandfrei schlußfolgern, dass Rauchen genau so doof ist wie der Krebs, den man dadurch bekommt.
Sagt der Nichtraucher. Motorradfahren ist auch doof. Viel zu riskant. Am besten man bleibt zu Hause, unter perfekten klimatischen Bedingungen auf seinem ergonomischen, knieschonenden Fitnessgerät.
Bewegung muss, Fett am Bauch, ganz schlecht, gerade für uns Männer.
Man kann sich auch ohne Risiko das Leben zur Hölle machen.
Aber Du wirst schon Deine Ideen haben, was kalkuliert ist und was nicht, was noch geht, Du wirst Deine Ziele haben, sowohl ein „Man sollte“ als auch ein „Ich will“, wenn man mal die angeblichen Unmöglichkeiten das zu formulieren großzügig übersieht.
ganimed hat geschrieben:Deine Argumente, dass die Bewertungsmaßstäbe (braune Haut ist gut) ja nicht ewig und überall gültig seien, sind völlig irrelevant. Dann muss der Forscher eben darauf achten, die Bewertungsmaßstäbe aus diesem Jahrzehnt zu verwenden und nicht jene aus dem vorletzten Jahrhundert.
Wenn heute das Gegenteil von gestern gut und richtig sein kann, was heißt das dann für uns und unsere Werte? Kann sich alles ändern? Doch keine moralischen Universalien? Oder nur manches? Und warum das eine, das andere aber nicht. Ist Mord oder nicht eine andere Frage als Scheitel oder nicht? Warum?
Was heißt es denn,
dass man sich Werte gibt? Sagt das irgendwas aus, oder machte man das nur, weil Poker noch nicht erfunden war?
Du hast Recht, vieles ergänzt sich da, ganz wunderbar, man sollte das auch nicht gegeneinander ausspielen, aber eben auch nicht verwechseln.
ganimed hat geschrieben:Denkbar ist jedenfalls, dass der Forscher sorgfältig genug ist, das zu tun. Die kategorische Behauptung, dass Naturwissenschaften niemals deuten und bewerten könnten, ist jedenfalls völlig falsch.
Sie deuten und bewerten ständig, sie haben ja auch Werte, aber Naturwissenschaft hat als Naturwissenschaft nicht das Instrumentarium (nach Ansicht der meisten) um diese Fragen zu beantworten. Man hat es sehr wohl als Mensch. Wenn ein Forscher, der mit gefährlichen Substanzen arbeitet, sich fragt, ob er es verantworten kann, seine Ergebnisse zu veröffentlichen, dann tut er das, weil er ein Gewissen hat, aber das ist keine naturwissenschaftliche Fragestellung, die würde lediglich schauen, wie und ob man dies und das herstellen oder erklären kann. Ob man es sollte, steht in diesem Kontext schon nicht mehr zur Debatte. Ich meine nicht, dass die Wissenschaft oder die Wissenschaftler sich diese Fragen nicht stellen, nur sind und bleiben das ethische Fragen.
Mehr meine ich erst mal nicht.