provinzler hat geschrieben: Das hängt wohl vom jeweiligen Gerechtigkeitssinn ab. Mein persönlicher (übrigens relativ stark ausgeprägter) Gerechtigkeitssinn steht mit Freiheit nicht in einem Spannungsverhältnis, weil er nicht beinhaltet, dass irgendjemand oder eine Gruppe sich anmaßen darf, Güter "gerechter" zu verteilen, weil er bzw. die Gruppe der Meinung ist, der Status quo wäre irgendwie ungerecht.
Das wäre dann wohl besser mit Barmherzigkeit und Gnade umschrieben, oder?
Im Begriff für Gerechtigkeit steckt IMHO "Recht" oder "Anrecht" mit drin, d.h. ich oder eine Gruppe hat eine gewisse Verpflichtung, jemandem oder einer anderen Gruppe etwas abzutreten (Steuern, Grundlohn, gewisse Grundrechte, Chancen etc.). Weil ich z.B. vom Schicksal bevorzugt bin (stark, schön, erfolgreich, nicht-behindert, glücklich verheiratet, im richtigen Land zur richtigen Zeit geboren etc. pp.), weil es dem Gemeinwesen abgesehen von meinem Eigennutz insgesamt nützt, weil mir nahestehende Personen davon profitieren könnten usw. Das geht so in die Richtung von Rawls Gerechtigkeitstheorie: Wir würde eine gerechte Gesellschaft aussehen, wenn wir nicht im voraus wissen könnten, in welcher Rolle (König, Bettler, Systemgewinner oder -verlierer, edler Gönner oder Bittsteller, Schuldner oder Gläubiger) wir in ihr leben müssten? Ich würde mich als Systemverlierer nicht unbedingt auf die Gnade der freiheitlich in Ihr lebenden Mitglieder verlassen müssen, Du?
Natürlich kannst Du zu Recht fragen: Mit welchem Recht kann eine Gruppe oder jemand eine gewissen Entscheidung erwarten oder gar für mich (mit)entscheiden . Das ist eine schwierige Frage, aber Sie entspringt ja grade aus dem Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.
Ein möglicher Ausweg wäre es, wenn in deinem Begriff von Freiheit ein moralischer Anspruch mit drinstecken würde (das geht vielleicht über den Weg "Die Freiheit des Einen endet da, wo die Freiheit des Anderen endet" und allgemeinen Glück- oder Wohlfahrtsdefinitionen, man fragt sich aber sobald: Warum, soll mich das jucken? Und endet dann bald bei außerfreiheitlichen Werten/Zwängen/Begriffe - whatsoever), d.h er wäre sozusagen mit nichtfreiheitlichen Begriffen kontaminiert. Außerdem wäre das ein ziemlich komplexer Begriff; ich denke das ist entweder ein nicht zuende gedachter Ausweg oder es wäre ein sehr theoretisches und komplexes Konstrukt.
Ich glaube im Übrigen zunehmend, das Libertäre / Liberale ein ziemlich positives (um nicht zu sagen naiv-positives) Menschenbild haben. Wenn alle Menschen reflektiert, moralisch, intelligent, gewaltablehnend und diskursbereit wären, dann könnte so was natürlich klappen. Das ist aber vollkommen realitätsfern und hat vor allem mit Freiheit nichts zu tun, bzw. ist mit ihr nicht hinreichend begründet. Nicht jeder hat ein so hohen moralischen Anspruch an sich, wie Du.