Nanna hat geschrieben:Diese Diskussion war damals eine von denen, die besonders deutlich den Doppelstandard aufgedeckt haben, nach dem manche Brights urteilen, und das hat mich ziemlich auf die Palme gebracht. Trotzdem bedeutet das aber nicht, dass ein Religiöser entschuldigt ist, der sich nicht-konstruktiv am Diskurs beteiligt. Jeder ist da in der Pflicht, egal auf welcher Seite.
Durchaus, nur kann ich die verstehen, die dann irgendwann resigniert mit den Schultern zucken, nicht nach drei Versuchen, eher nach 300 und dann sagen, dann eben nicht.
Polemik, so meine Erfahrung, ist aber durchaus auch ein Stilmittel, mit dem man in einen Diskurs hineinkommen kann. Es wäre naiv zu glauben, dass im Diskurs nur Argumente zählen.
Vielleicht sollte das im idealen herrschaftsfreien Diskurs der Fall sein, aber der Weg ist weit und dornenreich, bis man den anderen so weit hat, dass er einem überhaupt mal zuhört, von vollumfänglicher Perspektivübernahme ist hier noch längst nicht die Rede.
Nanna hat geschrieben:Mir brennt sowieso schon seit längerem die Frage auf den Nägeln, wie sich ein Dialog zwischen Säkularen und Religiösen organisieren ließe und welche Ziele sich dabei theoretisch erreichen ließen. Vielleicht muss ich da mal einen Thread dazu eröffnen, das Forenklima ist momentan geeignet, auch solche heißen Eisen mal anzupacken und trotzdem was Konstruktives heraus zu bekommen.
Das ist auch mein bevorzugtes Projekt.
Hier bin ich dann wieder ganz bei Habermas, der das auch anregen will und der mitunter vielleicht bewusst missverstanden wird.
Ansonsten gäbe es gerade im Internetzeitalter genügend Möglichkeiten. (Ich habe selbst mal ein ähnliches Experiment gemacht, ist nur so halb gelungen, will ich aber momentan nicht mehr zu sagen.)
Wohl gegen den Anschein, gilt meine Sorge da eher den Atheisten. Um Religionen und deren Fortbestand mache ich mir überhaupt keine Sorgen, die machen was das angeht, alles richtig.
Ihr müsst konfrontieren, dass um euer Überleben geht. Wenn ich sage, dass der Atheismus stirbt, dann tue ich das nicht um Stimmung zu machen, sondern, weil ich der Meinung bin, dass das stimmt und alle demographische Zeichen stark in diese Richtung gehen.
Europa ist da eine Insel der Seligen, die aber schwer den Blick verzerrt. Von 20% Europäern um 1900 wird der Anteil der Weltbevölkerung auf 4% in 2100 fallen (mache sagen in 2050), was mit einer zunehmenden politischen Bedeutungslosigkeit einhergehen wird.
Es gäbe also viel zu bereden und zu tun.
Nanna hat geschrieben:Ich kenne ja nun studienbedingt einige Unterschiede zwischen dem Diskurs in Nahen Osten und in Europa, wenn es um die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Religion und Politik geht. Was Europa seit der Aufklärung vom Rest der Welt abhebt, ist, dass die Vernunft als universaler Standard entwickelt wurde, der dem religiösen Denken vorausgeht - wobei das eben kein spezifisch europäisches Konzept ist, sondern der Universalismus nur hier entdeckt und formuliert wurde. Die Religionsfreiheit wurde ja bekanntlich vor allem aus der Erfahrung des religiös durchzogenen Dreißigjährigen Krieges entwickelt und diente von Anfang an als rationales (nicht religiöses!) Prinzip dazu, religiösen Traditionen mit jeweils eigenem totalen Gültigkeitsanspruch die friedliche Koexistenz zu ermöglichen.
Und an dieser Stelle möchte ich einhaken und Dich bitten, Dich mal mit Habermas zu beschäftigen.
Der sagt in „Zwischen Naturalismus und Religion“ nämlich explizit, dass auch die Religion eine Form ist Rationalität zu lehren und weiter zu geben. Die ganze katholische Geschichte dreht sich im Kern um die Versöhnung von Glauben und Intellekt, mindestens seit Thomas von Aquin, aber da kann Dir laie sicher ungleich mehr zu sagen.
Man muss einfach den Unterschied erkennen, zwischen der Machtpolitik der Kirche und den internen Standards und dem was historisch gewesen ist und was sich eben nicht nur in Inquisition erschöpft. Als jemand der der Mystik nahesteht, kann ich auch nur den Kopf schütteln wie die Kirche mit ihren Mystikern umgegangen, noch vor wenigen Jahren wurde Willigis Jäger Lehrverbot erteilt, aber das ist eine Seite der Kirchenpolitik.
Der wesentliche Affront der von einem Meister Eckhart ausging, war nicht, dass er sagte, „das ich und Gott eins sind“, sondern, dass die implizite Kernbotschaft all seiner Predigten war, dass man auf die Kirche im Grunde genommen verzichten kann. Man braucht keine zwischengeschaltete Instanz und die Kirchenfürsten, die selten wirklich dämlich waren, rochen den Braten sofort.
Ob Eckhart das klar war, weiß ich gar nicht.
Nanna hat geschrieben:Heute haben wir, glücklicherweise sogar international, die Menschenrechte und den Begriff der Menschenwürde, die ebenfalls mit rationalen Überlegungen begründet werden und die den jeweiligen Religionen einen Rahmen zur Religionsausübung bieten - und eben nicht andersherum!
Ich glaube eher, dass der Begriff der Würde rational ausgesprochen schwer abzuleiten ist und ideologisch gesetzt werden muss. Lies mal Peter Singer dazu, auch so jemand der Freude an der Provokation hat. Ich weiß nicht, ob er sich explizit zur Würde geäußert hat, aber man sieht hier schon früh, was passiert, wenn man implizite Einigungen radikal infrage stellt.
Nanna hat geschrieben:In manchen Weltregionen, gerade im Nahen Osten, herrschen dagegen auch unter den liberaleren Denkern immer noch Argumentationen vor, die universale, rationale Ideen wie die Menschenrechte in religiöse Umfelder einbetten. Auf die Weise tut man sich natürlich schwer, ein universal vermittelbares, weltanschaulich weitgehend neutrales Rechtegerüst zu erstellen, weshalb die Kairiner Menschenrechtserklärung beispielsweise auch als widerspruchsgeladener Schuss in den Ofen gilt, der nicht universalismustauglich ist, weil die Ersteller zwanghaft die Menschenrechte in einen islamischen Kontext einzupassen versuchten, anstatt den Islam in einem universalistisch-menschenrechtlichen Rahmen, der die Anschlussfähigkeit auf Augenhöhe für andere Weltanschauungen bewahrt hätte.
Ich fürchte das wird sich dort auch so schnell nicht ändern.
Um so wichtiger, hier sozialen Druck aufzubauen, der die hier lebenden Moslems nicht nur einfach ausgrenzt, sondern ihnen auch klar macht, was von ihnen erwartet wird um nicht ausgegrenzt zu werden, sondern als willkommene Bereicherung empfunden zu werden.
Vielleicht geht das von unten sogar besser, als über irgendwelche sterilen Integrationsgipfel.
In einer unsicheren Zeit sehen sich viele nach Orientierung. Gibt man ihnen keine, suchen sie sich die simplen Wahrheiten mitunter der Neonazis oder der Islamisten. Der großspurige Verzicht auf Ethik und Moral der aus den Reihen der organisierten Atheisten immer wieder zu hören ist, ist da schlechterdings eine Katastrophe.
Wieso kann man nicht zugeben, dass es zur Moral so gut wie aller Religionen erhebliche Schnittmengen gibt?
Nanna hat geschrieben:Von daher halte ich die Akzeptanz und Ausschließlichkeit eines Diskurses, der sich auf rationale Regelungen und Argumente beschränkt, für unabdingbar.
Aber damit sind wir doch bereits gescheitert. Demokratie, Wissenschaft und rationaler Diskurs als Exportschlager, den bald die ganze Welt singt, vergiss es, komm runter, mach die Augen auf.
Wir erleben schon in Deutschland und Europa eine Regression, große Teile der Welt sind meilenweit davon entfernt an einem rationalen Diskurs (der Dir vorschwebt) überhaupt teilnehmen zu können.
Und die religiösen Führer werden sich ihre Dominanz in den Regionen nicht nehmen lassen.
Nanna hat geschrieben:Vernunft ist die einzige Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren, wenn man unterschiedliche kulturelle Hintergründe hat, deshalb muss die Vernunft im interreligiösen (+ sonstige Weltanschauungen) und interkulturellen Diskurs einfach vorgehen.
Das klappt auch immer wunderbar wenn sich Broder und Ates unterhalten oder der Papst und Habermas. Viele wachsen jedoch in dem Bewusstsein auf so etwas wie Evolutionslehre, Psychoanalyse und weiteres sei Teufelszeug und da brauchen wir keine Frontalattacken, sondern Brückenbauer zwischen den Kulturen. Die Botschaft, dass Religion und Wissenschaft sich kategorisch ausschließen, ist vielleicht keine Katastrophe aber ein grober Fehler.
Nanna hat geschrieben:Was ich also von jedem erwarte, der sich am Diskurs beteiligt ist, dass er a) rationale Argumente für seine Sichtweise vorbringt, die andere nachvollziehen und kritisieren können, und dass er b) Menschenwürde und Menschenrechte als grundlegende, erste Voraussetzungen für den Diskurs begreift, die den äußeren Rahmen überhaupt bilden - anders gesagt, es gilt das Primat der universalen Menschenrechte, nicht der partikularen Religionsvorstellungen. Auch ein Durschschnittsreligiöser muss das hinkriegen und wenn er etwas tun möchte, was im Sinne der Menschenrechte rational und substantiell problematisierbar ist (und ich denke, das ist bei Körperverletzung gegeben), muss er rational, nicht religiös, begründen können, warum er jenes tun möchte.
Es ist die Frage, was Du als rationales Argument gelten lässt.
Würdest Du von einer Kuh erwarten, dass sie rationale Argumente einbringt, warum sie gegen Massentierhaltung ist?
Würdest Du von Kindern sagen, dass man sie nur ernst nehmen kann, wenn sie rationale Gründe vorbringen? Was ist mit Dementen, geistig Behinderten?
Auch dann, wenn jemand argumentativ ungeschickt ist, muss man dennoch versuchen ihn zu verstehen und seine Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Man muss wenigstens soviel Empathie voraussetzen dürfen, dass man erkennt, was den Kern einer Kultur ausmacht, um keine unerfüllbaren Forderungen zu stellen, denn die Aussage, dass das alles ganz einfach ist, wenn Religiöse ganz einfach auf alles was nicht europäisch-wissenschaftlich ist, verzichten können, ist und bleibt schwierig.
Nanna hat geschrieben:Topoi nach dem Muster "Der Prophet hat's vorgeschrieben, also ist es nicht verhandelbar" verletzen sowohl das Primat des rationalen Diskurses als auch das der universalen ethischen Prinzipien.
Nicht unbedingt, wenn man anerkennt, dass es beim anderen eine rote Linie gibt, die man nicht überschreiten darf. Stell Dir den gentechnisch optimierten Menschen der Zukunft vor, der z.B. keine Angst mehr hat und der allen anderen rät, sich doch gentechnisch optimieren zu lassen oder einfach über die Ängste von Dir und mir hinweggeht. „Schöne neue Welt.“
Nanna hat geschrieben:Beide Primate müssen erfüllt sein, damit wir in einer pluralistischen Gesellschaft miteinander reden und auskommen können und Religiosität entschuldigt hier nicht, eher sogar im Gegenteil.
Wir sind aber keine pluralistische Gesellschaft, in dem Sinne, dass alle Menschen in Deutschland im Kern Pluralisten sind. Ich fand interessant was K.O. Apel dazu geschrieben hat:
Karl-Otto Apel hat geschrieben:"„Am Letztbegründungsanspruch der Ethik brauchen wir auch nicht mit Rücksicht auf deren präsumptive Relevanz für die Lebenswelt festzuhalten. Die moralischen Alltagssituationen bedürfen der Aufklärung der Philosophen nicht. In diesem Falle scheint mir ein therapeutisches Selbstverständnis der Philosophie, wie es von Wittgenstein inauguriert worden ist, ausnahmsweise am Platz zu sein. Die philosophische Ethik hat eine aufklärende Funktion allenfalls gegenüber den Verwirrungen, die sie im Bewusstsein der Gebildeten angerichtet hat – also nur insoweit wie der Werteskeptizismus und der Rechtspositivismus sich als Professionsideologien festgesetzt haben und über das Bildungssystem ins Alltagsbewusstsein eingedrungen sind. Beide haben die im Sozialisationsprozess naturwüchsig erworbenen Intuitionen mit falschen Deutungen neurtralisiert; unter extremen Umständen können sie dazu beitragen, die von Bildungsskeptizismus erfassten Akademikerschichten moralisch zu entwaffnen." (Habermas)
An dieser Passage, die außer mir auch viele andere Habermaskenner schockiert bzw. ratlos gemacht hat, möchte ich nicht etwa die These kritisieren, dass die Philosophie durch die angegebenen Positionen ... Verwirrungen im Bewusstsein der Gebildeten angerichtet hat. Diese Tatsache, die in der Tat seit der philosophischen Aufklärung zu beobachten ist, lässt sich m.E. relativ leicht als Verwirrung des postkonventionellen Denkens auf der Kohlbergschen Krisenstufe 4 ½ (des noch nicht bewältigten Übergangs von der konventionellen zu einer rational begründeten postkonventionellen Moral) verständlich machen – und dies ganz auf der Linie von Habermas selbst im Sinne der „rekonstruktiven Wissenschaft“ (also der Kritischen Theorie) rezipierten und tentativ auf die Phylogenese angewandten Entwicklungslogik im Sinne von Piaget und Kohlberg. Wie aber soll gerade mit diesem rekonstruktiven Verständnis die Vorstellung zu vereinbaren sein, die „unbefangene substanzielle Sittlichkeit“ (Hegel) der Lebenswelt vor der philosophischen Aufklärung – also im Sinne Kohlbergs: die konventionelle Binnenmoral der Stufen 3 und 4 (grob gesprochen: die der Stammesgesellschaften und der frühen staatlich organisierten Gesellschaften) - sei gewissermaßen eine moralisch problemlose heile Welt gewesen; oder, in aktueller Version: die nach Kohlberg heute noch für ca. 80% der westlichen Industriegesellschaft maßgebende Orientierung an der konventionellen Moral repräsentiere die Basis der „moralischen Alltagssituationen“, die der philosophischen Aufklärung (nach Kohlberg also: der universalistischen Orientierungen im Sinn der utilitaristisch begründeten Vertragstheorie und, darüber hinausgehend, das Prinzip der „vollständig reversiblen Reziprozität des role taking“ bzw, der Gerechtigkeit als Fairness) prinzipiell nicht bedürften. Hat denn nicht die philosophische Aufklärung ... die Metainstitution des argumentativen Diskurses überhaupt erst geschaffen, ohne die doch eine radikale oder rationale Einlösung oder Verwerfung von Geltungsansprüchen jenseits aller offenen und verdeckten Gewaltlösungen (also auch jenseits von Ritualen und Verhandlungen) gar nicht als möglich gedacht werden kann? Und hat nicht andererseits die Infragestellung, ja Ridikülisierung universalisitisch-humanitärer Rechts- und Moralvorstellungen im Nationalsozialismus (z.B. die Parole „Recht ist, was dem Volke nutzt“) mir großem Erfolg an die vorphilosophischen, also konventionelle Solidaritätsgefühle einer völkischen Binnenmoral appellieren können?“
(K.-O. Apel, Auseinandersetzungen, Suhrkamp 1998, S. 661f)
Neben den anderen interessanten Aussagen geht es mir darum, dass 80% der westlichen Welt auf der Stufe der konventionellen Binnenmoral sind. Bei der Frage, was man dagegen tun kann, kann ich Dir die Lösungsversuche der Integralen vorstellen, die m.E. gut sind, aber ihrerseits ihre bedenklichen Tendenzen haben und denen es an Akzeptanz in der Breite fehlt.
Heute geht das nicht mehr, der leidige Broterwerb.
Nanna hat geschrieben:Wir haben auch als pluralistische Gesellschaft das Recht, solche Argumentationen nicht zum Diskurs zuzulassen. Es ist, anders gesagt, schlichtweg kein Argument, dass eine Tradition alt ist und einer Gruppe als heilig gilt. Die Menschenrechte und der rationale Diskurs sind dem vorgeschaltet, das ist so ein bisschen wie wenn Verfassungsrecht Bundesrecht bricht und Bundesrecht das Landesrecht.
Das zerrinnt Dir wie Sand zwischen den Händen, indem Moment, wo Du in eine Gruppe kommst, die diese a priori Spielregeln nicht stillschweigend oder offen akzeptiert.
Nanna hat geschrieben:Und sorry, wenn das eine Herausforderung für manche ist, kann ich da nicht helfen. Es ist ja, wie du selber festgestellt hast, auch für die Säkularen oft schwierig, diese Bedingungen zu erfüllen. wir sitzen da alle im selben Boot. Einen Mitleidsbonus für Religiosität oder ein durchschnittliches Dasein mit durchschnittlicher intellektueller Begabung gibt's nicht.
Sehe ich im Grunde genauso, deshalb muss man sich die Frage stellen, ob alle Menschen diskursfähig sein müssen um diesen pluralistischen Diskurs zu führen (ich denke man wird sich schnell einigen können, dass das nicht der Fall sein muss) und darüber hinaus, ob es eine kritische Masse geben muss, die pluralstisch denken können muss und wie groß diese ggf. sein müsste.
Nanna hat geschrieben:Wer in einer pluralistischen Gesellschaft lebt, muss da ganz einfach durch und wenn im Prozess ein paar althergebrachte Traditionen über den Jordan gehen, liegt das häufig ganz einfach daran, dass diese Traditionen unter diesen anspruchsvollen, aber eben auch notwendigen Diskursbedingungen nicht bestehen können.
Gegen so ein wenig gesunde Härte habe ich auch nichts einzuwenden.