Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » So 6. Jun 2010, 22:36

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Das, was Darwin Upheaval unter 'akademischer Philosophie' versteht ist dann das, was übrig bleibt, wenn man den Geisteswissenschaften den Status der Wissenschaftlichkeit abspricht. Darauf hast Du ja auch schon implizit hingewiesen.


Versteht er denn unter "akademische Philosophie" "naturalisierte Philosophie" im Sinne dessen, was ich als "metaphilosophischer Szientismus" bezeichne:

Die Philosophie ist zu verwissenschaftlichen, d.h. der Erfahrungswissenschaft und vor allem der Naturwissenschaft anzugliedern und deren Verfahren und Ergebnissen (so weit wie möglich) anzupassen.
Motto: Weg von apriorischer Geisteswissenschaft, hin zu aposteriorischer Erfahrungswissenschaft!

?

ich vermute, dass es am sinnvollsten ist, wenn er selber dazu etwas sagt.

Meine unmaßgebliche Meinung: Darwin Upheaval hält meines Wissens viel von Riedl, der wieder viel von Lorenz hält, der immerhin den Lehrstuhl Kants innehatte (auch wenn er die Arbeiten, die er in dieser Zeit schrieb, lange Zeit lieber nicht mehr erwähnte) und in Wien mit Popper Indianerles spielte, und davon ausging, dass die A prioris des Verstands die A posterioris der Evolution seien, womit wir wieder bei der Evolutionären Epistemologie wären. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass er Dein Motto unterschreibt.
Benutzeravatar
El Schwalmo
 
Beiträge: 1938
Registriert: Do 12. Jul 2007, 16:33

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » So 6. Jun 2010, 23:21

Myron hat geschrieben:X weiß genau dann, dass A (wahr ist), wenn die X bekannte Beweislage bezüglich A alle (aus Sicht der Vernunft) unabwegigen möglichen Fälle ausschließt, in denen die Beweislage dieselbe, aber A falsch ist.
Die schwierige Frage ist nun freilich, welche nicht logisch ausschließbaren Alternativhypothesen irrelevant oder (aus Sicht der Vernunft) abwegig sind und damit legitimerweise ignoriert werden dürfen. Da kommt es dann auf den Kontext bzw. die Situation an.


Ein Beispiel:
Peter ist mit Frank befreundet und er weiß, dass dieser einen Zwillingsbruder namens Ralf hat, der haargenau so aussieht wie Frank. Eines Tages wird Peter zufällig aus der Ferne Zeuge, wie ein Mann, der haargenau so aussieht wie Frank, einen anderen auf der Straße niederschlägt und dann flüchtet. Nun glaubt Peter, dass Frank der Täter ist, was ja durchaus gerechtfertigt ist, da ihm Franks Aussehen bestens bekannt ist. Aber weiß Peter damit auch, dass Frank der Täter ist? Nein, denn aufgrund des Umstandes, dass Frank einen Zwillingsbruder hat, ist die Möglichkeit, dass nicht Frank, sondern Ralf der Täter ist, mitnichten abwegig oderr irrelevant, sodass sie nicht mit Recht außer Acht gelassen werden darf. Folglich weiß Peter auch als Augenzeuge der Tat nicht, dass Frank der Täter ist. Denn die Beweislage (= Der Täter ist ein Mann, der haargenau so aussieht wie Frank) schließt den unabwegigen möglichen Fall nicht aus, dass Ralf der Täter ist.
(Die Sache würde sich anders verhalten, wenn Frank ein Einzelkind wäre.)

Aber selbst wenn Frank tatsächlich der Täter ist und Peter damit zufällig recht hat, weiß er nicht, dass Frank der Täter ist, und das obschon Peters Glaube sowohl gerechtfertigt als auch wahr ist. Edmund Gettier lässt wieder einmal schön grüßen!
Gemäß der Lewis'schen "Ähnlichkeitsregel" darf keine Alternativmöglichkeit ignoriert werden, die einem relevanten, unabwegigen Fall ähnelt, wobei ein wirklicher, tatsächlicher Fall grundsätzlich relevant, unabwegig ist.
In meinem Beispiel besteht eine maximale Ähnlichkeit zwischen dem wirklichen Fall, dass Frank der Täter ist, und dem möglichen Fall, dass Ralf der Täter ist, sodass diese unabwegige Alternativmöglichkeit nicht ausgeschlossen ist. Und das bedeutet eben, dass Peter auch dann nicht weiß, dass Frank der Täter ist, wenn er aus gutem Grund glaubt, dass Frank der Täter ist, und er damit zufällig recht hat.
Benutzeravatar
Myron
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 4808
Registriert: So 1. Jul 2007, 17:04

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mo 7. Jun 2010, 02:43

Myron hat geschrieben:"S knows that P iff S's evidence eliminates every possibility in which not-P – Psst! – except for those possibilities that we are properly ignoring."
(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In: David Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. pp. 425)


@DarwinUpheaval:
In der obigen Definition erwähnt Lewis den Wahrheitsaspekt nicht, was aber keineswegs bedeutet, dass er an die Möglichkeit faktisch unwahren Wissens glaubt. Denn kraft einer seiner Regeln bezüglich des legitimen Ignorierens unbeseitigter Irrtumsmöglichkeiten darf eine Möglichkeit, die wirklich ist, niemals ignoriert werden.
Das heißt, wenn es um Wissen und nicht um bloßes Glauben geht, dann ist die Wahrheit, die Wirklichkeit, sind die Tatsachen immer und überall relevant.

"[T]here is the RULE OF ACTUALITY: The possibility that actually obtains is never properly ignored; actuality is always a relevant alternative; nothing false may properly be presupposed. It follows that only what is true is known, wherefore we did not have to include truth in our definition of knowledge. The rule is 'externalist'—the subject himself may not be able to tell what is properly ignored. In judging which of his ignorings are proper, hence what he knows, we judge his success in knowing—not how well he tried."

(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In: David Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. pp. 426-27)

Das heißt, keine noch so gut begründete wissenschaftliche Hypothese, die die Wirklichkeit verfehlt, kann als wahr gewusst werden. Und keine der wohlbestätigten wissenschaftlichen Theorien, auf die die Wissenschaftler gegenwärtig einen Wissensanspruch erheben, wird jemals eine gewusste Theorie gewesen sein, falls sie irgendwann in der Zukunft widerlegt wird.
Benutzeravatar
Myron
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 4808
Registriert: So 1. Jul 2007, 17:04

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mo 7. Jun 2010, 03:20

El Schwalmo hat geschrieben:Meine unmaßgebliche Meinung: Darwin Upheaval hält meines Wissens viel von Riedl, der wieder viel von Lorenz hält, der immerhin den Lehrstuhl Kants innehatte (auch wenn er die Arbeiten, die er in dieser Zeit schrieb, lange Zeit lieber nicht mehr erwähnte) und in Wien mit Popper Indianerles spielte, und davon ausging, dass die A prioris des Verstands die A posterioris der Evolution seien, womit wir wieder bei der Evolutionären Epistemologie wären. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass er Dein Motto unterschreibt.


Gegen eine Kooperation der traditionellen Erkenntnistheorie mit der "naturalisierten", d.i. "empirisierten" Erkenntnistheorie habe ich nichts einzuwenden, solange erstere nicht durch letztere ersetzt werden soll. Naturwissenschaftliche Untersuchungen der Beschaffenheit und Entstehung unseres Wahrnehmungs-, Denk- und Erkenntnisvermögens sind für die Naturalisten unter den philosophischen Erkenntnistheoretikern durchaus von Interesse, insbesondere für die Reliabilisten unter ihnen:

"Reliabilism. The view in epistemology that follows the suggestion that a subject may know a proposition p if (i) p is true; (ii) the subject believes p; and (iii) the belief that p is the result of some reliable process of belief formation. The third clause is an alternative to the traditional requirement that the subject be justified in believing that p, since a subject may in fact be following a reliable method without being justified in supposing that she is, and vice versa. For this reason, reliabilism is sometimes called an externalist approach to knowledge: the relations that matter to knowing something may be outside the subject's own awareness."

(Blackburn, Simon. The Oxford Dictionary of Philosophy. 2nd ed. Oxford: Oxford University Press, 2005. pp. 315-16)

http://plato.stanford.edu/entries/reliabilism

http://www.iep.utm.edu/reliabil
Benutzeravatar
Myron
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 4808
Registriert: So 1. Jul 2007, 17:04

Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 7. Jun 2010, 04:06

Die szientistischen Naturalisten scheinen an einem horror normarum, einer Angst vor Normen, dem Normativen zu leiden, und deswegen flüchten sie sich in eine rein deskriptive, "naturalisierte" Erkenntnistheorie.
Doch ich fürchte, wir Naturalisten werden allgemein nicht umhinkommen, uns den Fragen nach den normativen Aspekten des Epistemischen, Ethischen und Ästhetischen innerhalb einer für uns ganz natürlichen Welt explizit zu stellen.
Dabei darf auch aus ideologietaktischen Erwägungen heraus nicht übersehen werden, dass uns die Theisten, die "Supers" ja gerade die "normative Kompetenz" absprechen. Wir Naturalisten sollten also besser möglichst gute Erwiderungen auf deren Einwände und Vorwürfe parat haben!

"[T]he major battles in contemporary metaphysics concern the status of the normative: one side claiming it as a sui generis aspect of nature, and the other side treating such a conception as supernatural, and so reducing norms to something nonnormative, on a more restrictive, scientific conception of nature. In this debate also, both 'naturalism' and 'supernaturalism' are contested terms, and there is no neutral understanding of either to settle the dispute."

(De Caro, Mario, and David Macarthur. "Introduction: The Nature of Naturalism." In Naturalism in Question, edited by Mario de Caro and David Macarthur, 1-17. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2004. p. 3)

Zu dieser delikaten Thematik erscheint übrigens demnächst ein Buch, das auch von De Caro & Macarthur herausgegeben wird:

http://cup.columbia.edu/book/978-0-231- ... ormativity

"Normativity concerns what we ought to think or do and the evaluations we make. For example, we say that we ought to think consistently, we ought to keep our promises, or that Mozart is a better composer than Salieri. Yet what philosophical moral can we draw from the apparent absence of normativity in the scientific image of the world? For scientific naturalists, the moral is that the normative must be reduced to the nonnormative, while for nonnaturalists, the moral is that there must be a transcendent realm of norms.

Naturalism and Normativity engages with both sides of this debate. Essays explore philosophical options for understanding normativity in the space between scientific naturalism and Platonic supernaturalism. They articulate a liberal conception of philosophy that is neither reducible to the sciences nor completely independent of them-yet is one that maintains the right to call itself naturalism. Contributors think in new ways about the relations among the scientific worldview, our experience of norms and values, and our movements in the space of reason. Detailed discussions include the relationship between philosophy and science, physicalism and ontological pluralism, the realm of the ordinary, objectivity and subjectivity, truth and justification, and the liberal naturalisms of Donald Davidson, John Dewey, John McDowell, and Ludwig Wittgenstein."
Benutzeravatar
Myron
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 4808
Registriert: So 1. Jul 2007, 17:04

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » Mo 7. Jun 2010, 11:27

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Das, was Darwin Upheaval unter 'akademischer Philosophie' versteht ist dann das, was übrig bleibt, wenn man den Geisteswissenschaften den Status der Wissenschaftlichkeit abspricht. Darauf hast Du ja auch schon implizit hingewiesen.


Versteht er denn unter "akademische Philosophie" "naturalisierte Philosophie" im Sinne dessen, was ich als "metaphilosophischer Szientismus" bezeichne:


Nett, dass Ihr über mich redet, als wäre ich gar nicht da.

Aber warum fragst Du nicht den, den es betrifft, sondern den, der mit Vorliebe rabulisiert, bis sich die Balken biegen?


Myron hat geschrieben:Die Philosophie ist zu verwissenschaftlichen, d.h. der Erfahrungswissenschaft und vor allem der Naturwissenschaft anzugliedern und deren Verfahren und Ergebnissen (so weit wie möglich) anzupassen.
Motto: Weg von apriorischer Geisteswissenschaft, hin zu aposteriorischer Erfahrungswissenschaft!


Das habe ich doch nirgendwo behauptet. Lies bitte durch, was ich oben dazu geschrieben habe.

Die Philosphie ist nicht die Magd der Wissenschaft, aber eine Philosophie kann sich nicht ohne Substanzverlust von den Wissenschaften und ihren Grundbegriffen und Erkenntnissen isolieren. Und ein Wissensbegriff, der mit der wissenschaftlichen Forschungspraxis nichts zu tun hat, ist schlicht ein Unbegriff. Das kannst Du gerne anders sehen, aber Du kannst Deine Wissens-Definition nicht mit Anspruch auf Geltung vertreten.

Im übrigen fand ich Kanitscheiders Bekenntnis zur "Naturalisierung der Philosophie" recht instruktiv, Du nicht?
Benutzeravatar
darwin upheaval
 
Beiträge: 159
Registriert: Fr 16. Mai 2008, 14:11

Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Mo 7. Jun 2010, 13:45

Auf Wunsch eines Forenmitgliedes wurden zwei jeweils eigene Beiträge in diesem Thread etwas weiter oben entfernt.
Benutzeravatar
1von6,5Milliarden
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 5236
Registriert: Sa 25. Nov 2006, 15:47
Wohnort: Paranoia

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Mo 7. Jun 2010, 15:57

darwin upheaval hat geschrieben:Nett, dass Ihr über mich redet, als wäre ich gar nicht da.

aus diesem Grunde schrieb ich ja

ich vermute, dass es am sinnvollsten ist, wenn er selber dazu etwas sagt.


und nun hast Du mehr dazu gesagt, als Du im Forum stehen lassen wolltest. Nun können wir alle über 'rabulisieren' lachen und die Welt ist in Ordnung.
Benutzeravatar
El Schwalmo
 
Beiträge: 1938
Registriert: Do 12. Jul 2007, 16:33

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mo 7. Jun 2010, 21:02

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Versteht er denn unter "akademische Philosophie" "naturalisierte Philosophie" im Sinne dessen, was ich als "metaphilosophischer Szientismus" bezeichne:

Nett, dass Ihr über mich redet, als wäre ich gar nicht da.
Aber warum fragst Du nicht den, den es betrifft, sondern den, der mit Vorliebe rabulisiert, bis sich die Balken biegen?


Pardon, die Frage ist natürlich indirekt auch an dich gerichtet.

darwin upheaval hat geschrieben:Die Philosphie ist nicht die Magd der Wissenschaft, aber eine Philosophie kann sich nicht ohne Substanzverlust von den Wissenschaften und ihren Grundbegriffen und Erkenntnissen isolieren. Und ein Wissensbegriff, der mit der wissenschaftlichen Forschungspraxis nichts zu tun hat, ist schlicht ein Unbegriff. Das kannst Du gerne anders sehen, aber Du kannst Deine Wissens-Definition nicht mit Anspruch auf Geltung vertreten.


Inwiefern hat ein—der—Wissensbegriff, der den Wahrheitsbegriff in sich schließt, nichts mit der wissenschaftlichen Forschungspraxis zu tun? Du scheinst immer noch zu meinen, dass ein solcher Wissensbegriff nicht mit dem Begriff des fehlbaren Wissens vereinbar ist. Ich habe dir aber doch anhand autoritativer Zitate aus der einschlägigen Fachliteratur vor Augen geführt, dass der Wahrheitsbegriff ein wesentliches Merkmal sowohl des infallibilistischen als auch des fallibilistischen Wissensbegriffs ist.
(Selbst der unter Naturalisten beliebte Reliabilismus arbeitet mit einem wahrheits- bzw. tatsachenabhängigen Wissensbegriff: http://plato.stanford.edu/entries/knowl ... lysis/#REM)
Du wirfst praktisch der gesamten Epistemologen-Elite vor, mit einem Unbegriff zu arbeiten!
Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Herren Professoren vom wissenschaftlichen Tuten und Blasen keine Ahnung haben.
Ein schon angeführtes Zitat:

"It is generally agreed that a person S knows a proposition P only if S believes P and P is true. …[A]ll theories accept this knowledge-truth connection[.]"
(http://plato.stanford.edu/entries/reliabilism)

Der Mann, der dies schreibt, Alvin Goldman, ist "nebenbei" auch Professor für Kognitionswissenschaft.

Und was den kontextualistischen Wissensbegriff à la Lewis und Dretske betrifft, so ist dieser alles andere als "unrealistisch":

"The serious business of science has to do not with knowledge per se; but, rather, with the elimination of possibilities through the evidence of perception, memory, etc., and with the changes that one's belief system would (or might or should) undergo under the impact of such eliminations."

(Lewis, David. "Elusive Knowledge." 1996. In: David Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, 418-445. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. p. 440)

Die wissenschaftliche Forschung dient der Ausschaltung von Fehlerquellen und der Beseitigung von Irrtumsmöglichkeiten, d.h. der Eliminierung von Alternativhypothesen. Denn nur so kommen wir an die Wahrheit, die Wirklichkeit heran.

darwin upheaval hat geschrieben:Im übrigen fand ich Kanitscheiders Bekenntnis zur "Naturalisierung der Philosophie" recht instruktiv, Du nicht?


"Eine glaubwürdige Philosophie muss sich heute im Verein mit den Einzelwissenschaften bemühen, den Menschen, die Welt und deren kognitive Wechselwirkung zu begreifen. Nicht nur die Philosophie, die Geisteswissenschaften schlechthin können sich ohne Substanzverlust nicht von den Neuro-, den Informations- und den Kognitionswissenschaften isolieren. Die Geisteswissenschaften sind nicht mehr allein die genuinen Verwalter von Vernunft, Subjektivität und Emotion."

(Kanitscheider, Bernulf. "Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele: Grundzüge einer naturalistischen Philosophie und Ethik." 2003.)

Jawohl, die Geisteswissenschaften und insbesondere die Philosophie sollen sich nicht von den Naturwissenschaften isolieren, sondern mit diesen kommunizieren und, wenn's geht, kooperieren. Aber umgekehrt sollen und können die Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften und insbesondere die Philosophie nicht absorbieren.
Die positivistische Auffassung, dass nur "A-posteriori-Philosophie", "empirische Philosophie", "wissenschaftliche Philosophie" gute Philosophie sei, teile ich nicht.
Benutzeravatar
Myron
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 4808
Registriert: So 1. Jul 2007, 17:04

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Mo 7. Jun 2010, 21:25

Myron hat geschrieben:Du wirfst praktisch der gesamten Epistemologen-Elite vor, mit einem Unbegriff zu arbeiten!

das in etwa war der Hintergrund für meine Frage.
Benutzeravatar
El Schwalmo
 
Beiträge: 1938
Registriert: Do 12. Jul 2007, 16:33

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mo 7. Jun 2010, 21:38

El Schwalmo hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Du wirfst praktisch der gesamten Epistemologen-Elite vor, mit einem Unbegriff zu arbeiten!

das in etwa war der Hintergrund für meine Frage.


"I do not think that there has ever been any serious doubt that it is a necessary condition for knowledge that what is known be true. As the catchphrase has it: 'If you know, you can't be wrong.' Knowledge is here contrasted with belief, which can be false as well as true. … The word ['knowledge'] has a demand for truth built into its meaning[.]"

(Armstrong, D. M. Belief, Truth and Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press, 1973. pp. 137-38)

Auch abseits der akademischen Sphäre geht doch jeder normale Mensch davon aus, dass wenn ein Wissensanspruch erhoben wird, zugleich ein Wahrheitsanspruch erhoben wird.
Benutzeravatar
Myron
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 4808
Registriert: So 1. Jul 2007, 17:04

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Mo 7. Jun 2010, 21:51

Myron hat geschrieben:Auch abseits der akademischen Sphäre

in dem Sinn, wie Darwin Upheaval 'akademische Philosophie' verwendet?

Myron hat geschrieben:geht doch jeder normale Mensch davon aus, dass wenn ein Wissensanspruch erhoben wird, zugleich ein Wahrheitsanspruch erhoben wird.

Hier sollte man beachten, was Darwin Upheaval in einem seiner auf seinen Wunsch gelöschten Postings betonte. Es geht ihm nur um einen Teilaspekt der Frage. Das ist auch der Grund, warum ich davon ausgehe, dass Ihr aneinander vorbei redet. Darwin Upheaval geht es nur darum, was im Bereich der Naturwissenschaften relevant ist. Du redest als Philosoph von Sachverhalten, die für sein Weltbild, oder allgemeiner, Bindestrich-Philosophien, keine Rolle spielen.

Hier ist er durchaus konsequent. Supranaturalisten sind kein Problem für ihn, solange sie seine Kreise ('wie betreibe ich Naturwissenschaft') nicht stören. Das, was Du darstellst, dürfte aus seiner Sicht so relevant sein wie ein Gott, der nicht eingreift, oder eine 'Seele', die erst nach dem Tod geschaffen wird.

Vielleicht irre ich mich auch in meiner Einschätzung. Es steht Darwin Upheaval selbstverständlich frei, mich zu korrigieren. Möglichst in Form von Postings, die eine längere Halbwertszeit als ein paar Stunden haben.
Benutzeravatar
El Schwalmo
 
Beiträge: 1938
Registriert: Do 12. Jul 2007, 16:33

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » Mo 7. Jun 2010, 22:23

El Schwalmo hat geschrieben:Möglichst in Form von Postings, die eine längere Halbwertszeit als ein paar Stunden haben.


Es liegt bei Dir, ob ich das wieder hier einstelle - ich wollte Dir nur einen Gefallen tun. Die flüchtigen Leser müssen nicht unbedingt mit der Nase darauf stoßen, dass Du Dich mit Deinen peinlichen Auslassungen über Gott und die Welt selbst aus der ernstzunehmenden Diskussion kegelst. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, dann werde ich gerne nochmals das hier einstellen, was ich löschen ließ. Inhaltlich und in der Form stehe ich zu jedem einzelnen Wort.
Benutzeravatar
darwin upheaval
 
Beiträge: 159
Registriert: Fr 16. Mai 2008, 14:11

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » Mo 7. Jun 2010, 22:34

El Schwalmo hat geschrieben:Hier ist er durchaus konsequent. Supranaturalisten sind kein Problem für ihn, solange sie seine Kreise ('wie betreibe ich Naturwissenschaft') nicht stören. Das, was Du darstellst, dürfte aus seiner Sicht so relevant sein wie ein Gott, der nicht eingreift, oder eine 'Seele', die erst nach dem Tod geschaffen wird.


Sieh an, Du kannst doch ab und zu, wenn Du nachdenkst, die Diskussion relativ vernünftig analysieren. Respekt, das hätte ich Dir nicht zugetraut. :2thumbs:

Vielleicht kommst Du auch noch darauf, was "Wissenschaftsrevisionismus" bedeuten könnte?
Benutzeravatar
darwin upheaval
 
Beiträge: 159
Registriert: Fr 16. Mai 2008, 14:11

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Mo 7. Jun 2010, 23:19

Myron hat geschrieben:Auch abseits der akademischen Sphäre geht doch jeder normale Mensch davon aus, dass wenn ein Wissensanspruch erhoben wird, zugleich ein Wahrheitsanspruch erhoben wird.


Man sollte wohl zwischen der objektiven und der subjektiven Perspektive unterscheiden.
Hier noch einmal eine pragmatische Definition:

[objektiv:]
X weiß genau dann, dass A (wahr ist), wenn (i) A (wahr ist), (ii) X glaubt, dass A (wahr ist), (iii) X im Licht der Beweislage alle erwägenswerten Möglichkeiten ausschließen kann, in denen A falsch ist.

[subjektiv:]
X darf genau dann mit Recht behaupten zu wissen, dass A (wahr ist), wenn (i) X glaubt, dass A (wahr ist), und (ii) X im Licht der Beweislage alle erwägenswerten Möglichkeiten ausschließen kann, in denen A falsch ist.

(Nicht erwägenswert sind logische Möglichkeiten, die nur ein Zweifelsüchtiger berücksichtigt.)

Beispiel: Wenn ein Physiker mittels eines funktionierenden und ordnungsgemäß geeichten Messgerätes die Ausprägung einer bestimmten physikalischen Größe feststellt, dann ist die abwegige Möglichkeit, dass ein böswilliger Geist das Messergebnis heimlich verfälscht, sodass der angezeigte Wert nicht dem wahren Wert entspricht, nicht erwägenswert. Der Physiker darf diese logische Möglichkeit also mit Recht ignorieren und dem Messergebnis vertrauen.

P.S.: Aus "X darf mit Recht behaupten zu wissen, dass A" folgt nicht notwendigerweise "Es ist der Fall, dass A" und damit auch nicht notwendigerweise "X weiß, dass A".
Benutzeravatar
Myron
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 4808
Registriert: So 1. Jul 2007, 17:04

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon darwin upheaval » Mo 7. Jun 2010, 23:34

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Du wirfst praktisch der gesamten Epistemologen-Elite vor, mit einem Unbegriff zu arbeiten!

das in etwa war der Hintergrund für meine Frage.


"I do not think that there has ever been any serious doubt that it is a necessary condition for knowledge that what is known be true. As the catchphrase has it: 'If you know, you can't be wrong.' Knowledge is here contrasted with belief, which can be false as well as true. … The word ['knowledge'] has a demand for truth built into its meaning[.]"

(Armstrong, D. M. Belief, Truth and Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press, 1973. pp. 137-38)

Auch abseits der akademischen Sphäre geht doch jeder normale Mensch davon aus, dass wenn ein Wissensanspruch erhoben wird, zugleich ein Wahrheitsanspruch erhoben wird.


Meinst Du nicht auch, dass Du etwas kleinere Brötchen backen solltest? Oder willst Du einen Autoritätsbeweis mit der Brechstange führen? Ich könnte jetzt kontern und sagen, seit Popper geht jeder normale Mensch davon aus, dass es hypothetisches (und damit fehlbares!) Wissen gibt. Und für jedes Deiner Statements gibt es ein Gegenstatement.

Da sich El Schwalmo von länglichen Zitaten beeindrucken lässt und dem Kontrahenten sogleich die Kompetenz abspricht, wenn der nicht augenblicklich über das Stöckchen des Autoritäsbeweises springt, bitte sehr:


"Evolutionary epistemology is inseparably connected with hypothetical realism. This is a modest form of critical realism. Its main tenets are: All knowledge is hypothetical, i.e., conjectural, fallible, preliminary..... According to this position all knowledge is hypothetical, i.e., uncertain. This claim is itself part of a theory, hence of knowledge. It must therefore apply to itself. But this must lead -it is said- to a contradiction" [Vollmer 1987, p. 188].

Vollmer's answer points out first that hypothetical realism claims all synthetic statements to be hypothetical, and continues:

"Now this statement is itself either analytic or synthetic..... It is, however, not evident whether it is analytic or not..... Let's suppose, then, our statement 'all synthetic statements are hypothetical' to be itself synthetic. Then it should be true for itself, hence self-applicable. It then claims to be itself, qua synthetic, also hypothetical, that is, false or true-and-unprovable. In particular, it might be false: There could exist, as was mentioned above, provable synthetic statements. Should they exist, then the main thesis of hypothetical realism would be false. But this does not -despite all self-reference- lead to any contradiction. According to hypothetical realism it is of the very essence of synthetic statements to be possibly false. Our statement could not be provable, however. For, assuming it to be provable, it would become false, hence unprovable again. The assumption that it is unprovable does not, on the other hand, lead to a contradiction. For, this is precisely what it asserts for itself" [Vollmer 1987, p. 189]."


http://www.unav.es/cryf/english/conocim ... lismo.html



"… science is first and foremost a body of factual and theoretical knowledge about the world (Gooding 1992:65f.). The self-assigned task of the philosopher is to prescribe some „method of science“ that will lead scientific knowledge to approximate [!] Truth through gradual improvements."

http://www.jstor.org/pss/1389440



"Scientific theories, for him [POPPER], are not inductively inferred from experience, nor is scientific experimentation carried out with a view to verifying or finally establishing the truth of theories; rather, all knowledge is provisional, conjectural, hypothetical —we can never finally prove our scientific theories, we can merely (provisionally) confirm or (conclusively) refute them; hence at any given time we have to choose between the potentially infinite number of theories which will explain the set of phenomena under investigation.

Even observation statements, Popper maintains, are fallible, and science in his view is not a quest for certain knowledge, but an evolutionary process in which hypotheses or conjectures are imaginatively proposed and tested in order to explain facts or to solve problems. Popper emphasises both the importance of questioning the background knowledge when the need arises, and the significance of the fact that observation-statements are theory-laden, and hence fallible. For while falsifiability is simple as a logical principle, in practice it is exceedingly complicated—no single observation can ever be taken to falsify a theory, for there is always the possibility (a) that the observation itself is mistaken, or (b) that the assumed background knowledge is faulty or defective.
"

http://plato.stanford.edu/entries/popper/#GroHumKno



Hier noch ein nettes Paradoxon auf der Grundlage "sicheren Wissens":

"6.2 Dogmatism paradox: A puzzle about losing knowledge Gilbert Harman attributes this paradox to Saul Kripke:

If I know that h is true, I know that any evidence against h is evidence against something that is true; I know that such evidence is misleading. But I should disregard evidence that I know is misleading. So, once I know that h is true, I am in a position to disregard any future evidence [!] that seems to tell against h. (1973, 148) [Hervorhebung von M.N.]
Dogmatists accept this reasoning. For them, knowledge closes inquiry. Any “evidence” that conflicts with what is known can be dismissed as misleading evidence. Forewarned is forearmed.

This conservativeness crosses the line from confidence to intransigence. To illustrate the excessive inflexibility, here is a chain argument for the dogmatic conclusion that my reliable colleague Doug has given me a misleading report (from Sorensen 1988b):

(C1) My car is in the parking lot.
(C2) If my car is in the parking lot and Doug reports otherwise, then Doug's report is misleading.

(C3) If Doug reports that my car is not in the parking lot, then his report is misleading.

(C4) Doug reports that my car is not in the parking lot.

(C5) Doug's report is misleading.

By hypothesis, I am justified in believing (C1). Premise (C2) is a certainty because it is analytically true. The argument from (C1) and (C2) to (C3) is valid. Therefore, my degree of confidence in (C3) must equal my degree of confidence in (C1). Since we are also assuming that I gain sufficient justification for (C4), it seems to follow that I am justified in believing (C5) by modus ponens. Similar arguments will lead me to dismiss further evidence such as a phone call from the towing service and my failure to see my car when I confidently stride over to the parking lot.

Gilbert Harman diagnoses the paradox as follows:

The argument for paradox overlooks the way actually having evidence can make a difference. Since I now know [my car is in the parking lot], I now know that any evidence that appears to indicate something else is misleading. That does not warrant me in simply disregarding any further evidence, since getting that further evidence can change what I know. In particular, after I get such further evidence I may no longer know that it is misleading. For having the new evidence can make it true that I no longer know that new evidence is misleading. (1973, 149)

In effect, Harman denies the hardiness of knowledge. The hardiness principle states that one knows only if there is no evidence such that if one knew about the evidence one would not be justified in believing one's conclusion. New knowledge cannot undermine old knowledge. Harman disagrees.

Harman's belief that new knowledge can undermine old knowledge may be relevant to the surprise test paradox. Perhaps the students lose knowledge of the test announcement even though they do not forget the announcement or do anything else incompatible with their credentials as ideal reasoners. A student on Thursday is better informed about the outcomes of test days than he was on Sunday. He knows the test was not on Monday or Wednesday. But he can only predict that the test is on Friday if he continues to know the announcement. Perhaps the extra knowledge of the testless knowledge undermines knowledge of the announcement.

The dogmatism paradox shows how new knowledge can undermine old knowledge.
"

http://plato.stanford.edu/entries/epist ... zAboLosKno
Benutzeravatar
darwin upheaval
 
Beiträge: 159
Registriert: Fr 16. Mai 2008, 14:11

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Di 8. Jun 2010, 04:57

darwin upheaval hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Möglichst in Form von Postings, die eine längere Halbwertszeit als ein paar Stunden haben.


Es liegt bei Dir, ob ich das wieder hier einstelle - ich wollte Dir nur einen Gefallen tun. Die flüchtigen Leser müssen nicht unbedingt mit der Nase darauf stoßen, dass Du Dich mit Deinen peinlichen Auslassungen über Gott und die Welt selbst aus der ernstzunehmenden Diskussion kegelst. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, dann werde ich gerne nochmals das hier einstellen, was ich löschen ließ. Inhaltlich und in der Form stehe ich zu jedem einzelnen Wort.

ich hatte erst vermutet, dass Hemminger hier das geschafft hat, womit Beyer im FGH scheiterte.

Du musst wohl den Weg gehen, den Du gehen musst.
Benutzeravatar
El Schwalmo
 
Beiträge: 1938
Registriert: Do 12. Jul 2007, 16:33

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Di 8. Jun 2010, 05:02

darwin upheaval hat geschrieben:Vielleicht kommst Du auch noch darauf, was "Wissenschaftsrevisionismus" bedeuten könnte?

vielleicht kommst auch Du noch darauf, was eine mäeutische Frage ist.
Benutzeravatar
El Schwalmo
 
Beiträge: 1938
Registriert: Do 12. Jul 2007, 16:33

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon El Schwalmo » Di 8. Jun 2010, 05:08

darwin upheaval hat geschrieben:Da sich El Schwalmo von länglichen Zitaten beeindrucken lässt

beeindrucken lassen würde ich mich, wenn aus Deinem Posting hervorgehen würde, dass Du verstanden hast, was Myron Dir sagen will.

Das mit den 'kleinen Brötchen' betrifft eher Dich. Es spielt keine Rolle, ob es große Brötchen gibt.
Benutzeravatar
El Schwalmo
 
Beiträge: 1938
Registriert: Do 12. Jul 2007, 16:33

Re: Der interne "Naturalismusstreit"

Beitragvon Myron » Di 8. Jun 2010, 05:51

darwin upheaval hat geschrieben:Meinst Du nicht auch, dass Du etwas kleinere Brötchen backen solltest? Oder willst Du einen Autoritätsbeweis mit der Brechstange führen?


Wenn die eigene Meinung von der überwältigenden Mehrheit der professionellen Philosophen und Logiker geteilt wird, dann darf man, denke ich, mutig sein und "größere Brötchen backen".
Im Übrigen habe ich nicht nur Autoritäten, sondern auch den Common Sense ins Feld geführt.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich beziehe mich hauptsächlich nur auf diesen einen Punkt:

"If I am to know that there is someone outside the door, then there really must be someone outside the door. Before the belief is entitled to be called 'knowledge', what is believed must be true. If I say 'I know that P' and then find out that P is false, I will withdraw my claim to knowledge: I will say that I thought I knew that P but did not really know it."

(Musgrave, Alan. Common Sense, Science and Scepticism: A Historical Introduction to the Theory of Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press, 1993. p. 2)

(Musgrave is übrigens ein Schüler Poppers.)

darwin upheaval hat geschrieben:Ich könnte jetzt kontern und sagen, seit Popper geht jeder normale Mensch davon aus, dass es hypothetisches (und damit fehlbares!) Wissen gibt.


Noch einmal: Fehlbares Wissen ist nicht gleich falsches Wissen!

"Conjectural knowledge requires truth: the fallibilist accepts that 'I know that P' entails 'P is true', accepts that 'false knowledge' is a contradiction in terms."

(Musgrave, Alan. Common Sense, Science and Scepticism: A Historical Introduction to the Theory of Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press, 1993. p. 300)

Das heißt, auch das fehlbare "Vermutungswissen" ist wahrheitsabhängig!

Dein Denkfehler besteht darin, dass du meinst, der fallibilistische Standpunkt erfordere die Ablehnung des Axioms Kp –> p, was aber gar nicht der Fall ist.
Die Fallibilisten lehnen es de facto nicht ab!
Folglich ist meine Argumentation zugunsten dieses Axioms nicht per se eine Argumentation gegen den Fallibilismus und für den Infallibilismus!

darwin upheaval hat geschrieben:"Evolutionary epistemology is inseparably connected with hypothetical realism. This is a modest form of critical realism. Its main tenets are: All knowledge is hypothetical, i.e., conjectural, fallible, preliminary..... According to this position all knowledge is hypothetical, i.e., uncertain. This claim is itself part of a theory, hence of knowledge. It must therefore apply to itself. But this must lead -it is said- to a contradiction" [Vollmer 1987, p. 188].
(http://www.unav.es/cryf/english/conocim ... lismo.html)


Die Hypothetizität hypothetischen (fehlbaren, unsicheren) Wissens kann doch nur darin bestehen, dass ein aus guten Gründen für wahr und damit für Wissen gehaltener Glaube sich unerwarteterweise als falscher Glaube (nicht als falsches Wissen!) und damit als Scheinwissen herausstellen könnte.

darwin upheaval hat geschrieben:Vollmer's answer points out first that hypothetical realism claims all synthetic statements to be hypothetical, and continues:
"…According to hypothetical realism it is of the very essence of synthetic statements to be possibly false. …" [Vollmer 1987, p. 189]."
(http://www.unav.es/cryf/english/conocim ... lismo.html)


Das heißt ja nur, dass keine synthetische Aussage eine (logisch) notwendige Wahrheit ist.

(Apropos, ich erinnere daran, dass [](Kp –> p) nicht mit Kp –> []p verwechselt werden darf. Das heißt, Wissen impliziert notwendigerweise Wahrheit, aber Wissen impliziert nicht notwendigerweise notwendige Wahrheit.)

darwin upheaval hat geschrieben:"… science is first and foremost a body of factual and theoretical knowledge about the world (Gooding 1992:65f.). The self-assigned task of the philosopher is to prescribe some „method of science“ that will lead scientific knowledge to approximate [!] Truth through gradual improvements."
(http://www.jstor.org/pss/1389440)


"factual knowledge"—Es sollte einleuchten, dass Tatsachenwissen das Vorhandensein entsprechender Tatsachen voraussetzt, da man ja kein Tatsachenwissen über Nichttatsachen, d.h. über nicht bestehende Sachverhalte, besitzen kann.

"…to approximate Truth":

"Vermutungswissen:
Eine andere Möglichkeit ist die von Karl Popper entwickelte: weiter nach Erkenntnis und damit nach inhaltlicher Wahrheit zu streben, aber den Anspruch auf absolute Begründung und damit auf Gewissheit aufzugeben. Unser gesamtes Wissen besteht dann aus Hypothesen, deren Wahrheit nie sicher ist ('Vermutungswissen'), die wir aber dennoch strengen Prüfungen aussetzen können, damit sie auch zukünftigen Prüfungen immer standhalten werden. Als Beispiel mag die Newtonsche Mechanik dienen. Sie hat 200 Jahre lang das physikalische Denken beherrscht, bis die Einsteinsche Theorie an ihre Stelle trat. Warum wurde die Newtonsche Auffassung so lange als sicher akzeptiert? Weil sie eine solche Fülle von Tatsachen einheitlich erklärte, dass man sich kaum vorstellen konnte, es seien Irrtümer in ihr enthalten. Sie ließ sich daher ohne Schwierigkeiten im Sinne des klassischen Erkenntnisideals deuten. Nun zeigte sich aber, dass die Einsteinsche Theorie außer den Tatsachen, die mit Hilfe der Newtonschen erklärbar waren, noch weitere erklären (und sogar vorhersagen) konnte, mit denen die Newtonsche nicht fertig wurde. Überdies ist sie mit der Newtonschen unvereinbar, so dass nicht beide zugleich wahr sein können. Man kann sich hier zwar so helfen, dass man behauptet, die Newtonsche Theorie sei nur annähernd wahr, sie liefere also sogenannte approximative Erklärungen, aber das bedeutet u.a. auch, dass sie – strenggenommen – falsch ist. [meine Beton.]"


(Albert, Hans. "Kritischer Rationalismus." In Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, hrsg. v. Helmut Seiffert u. Gerard Radnitzky, 177-182. München: dtv, 1992. S. 180-81)

Tja, wie gesagt: Knapp vorbei ist auch daneben!

darwin upheaval hat geschrieben:"…hence at any given time we have to choose between the potentially infinite number of theories which will explain the set of phenomena under investigation."
(http://plato.stanford.edu/entries/popper/#GroHumKno)


Ja, es geht in der Wissenschaft um Theorienselektion im Lichte empirischer Beweise, nach dem Motto:
"Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen!"

Wie David Lewis sagt, es geht darum, Irrtumsmöglichkeiten durch systematische empirische Forschung zu eliminieren oder zumindest zu minimieren, sodass die Gefahr möglichst gering wird, dass sich die Wissenschaftler irrtümlicherweise für eine de facto falsche Theorie entscheiden.

darwin upheaval hat geschrieben:Hier noch ein nettes Paradoxon auf der Grundlage "sicheren Wissens":
"6.2 Dogmatism paradox: A puzzle about losing knowledge Gilbert Harman attributes this paradox to Saul Kripke:[/b]
……
The dogmatism paradox shows how new knowledge can undermine old knowledge."

(http://plato.stanford.edu/entries/epist ... zAboLosKno)


Die pragmatisch-kontexualistische Wahrheitstheorie kommt mit diesem "Paradoxon" prima klar:

X weiß genau dann, dass A (wahr ist), wenn (a) A (wahr ist), und (b) X im Licht der Beweislage alle relevanten Möglichkeiten ausschließen kann, in denen A falsch ist.

Das Wissen von X, dass A, wird folglich zu Nichtwissen, wenn (a) A aufhört, wahr zu sein, oder (b) X im Licht der (aktuellen) Beweislage nicht mehr alle relevanten Möglichkeiten ausschließen kann, in denen A falsch ist – oder beides.

Wenn ich weiß, dass mein Auto auf dem Parkplatz steht, dann weiß ich das so lange, wie es tatsächlich dort steht oder sich die Beweislage nicht derart ändert, dass eine neue relevante Möglichkeit der Falschheit der Aussage "Mein Auto steht auf dem Parkplatz" ins Spiel kommt, die ich nicht ausschließen kann.
Wenn nun ein Arbeitskollege in mein Büro kommt und zu mir sagt, dass er sich darüber wundere, dass mein Auto nicht auf dem Parkplatz steht, dann wird diese Zeugenaussage Teil der aktuellen Beweislage und ich darf sie nicht ignorieren. Und nun kann ich die angesichts der Aussage meines Kollegens durchaus relevante Möglichkeit, dass mein Auto aus irgendeinem Grund nicht mehr auf dem Parkplatz steht, nicht mehr ausschließen, was bedeutet, dass ich nicht mehr weiß, dass es sich dort befindet.
Benutzeravatar
Myron
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 4808
Registriert: So 1. Jul 2007, 17:04

VorherigeNächste

Zurück zu Philosophie

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast