spacetime hat geschrieben:Viele sagen, wir leben in einem postideologischen Zeitalter, das von niemandem beherrscht wird, außer unserer Vernunft. Dieselben Leute sagen auch, wir folgen nur unserer eigenen Ideologie -> es gäbe nicht 'die Ideologie'.
Die Beobachtung mache ich auch. Es wird sehr gerne vom Ende der Ideologien gesprochen. Das finde ich ziemlich niedlich-doof, weil es eine Aussage ist, die ungefähr so sinnvoll ist wie das Ende der Kunst, der Politik oder der Wirtschaft herbeizufaseln, bloß weil die Rahmenverhältnisse sich verändert haben.
Bei dem Begriff Ideologie muss man tatsächlich erstmal klären, was gemeint ist. Ideologie bedeutet erstmal soviel wie allgemeines politisches Weltbild und da würde ein Ende der Ideologie auch ein Ende der Politik bedeuten, was - je nach der Definition des Politischen - ein Ende der Staaten oder sogar jeglicher sozialer Organisation wäre. Im Marxismus bezeichnet Ideologie den gesellschaftlichen Überbau bzw. das Bewusstsein und ist hier eher negativ konnotiert, weil angenommen wird, dass hier auch immer ein gerüttelt Maß Propaganda im Spiel ist (so gesehen war Stalin ungefähr so marxistisch wie G.W. Bush ein Pazifist ist).
Wenn vom Ende der Ideologien gesprochen wird, ist meist wohl zweiteres gemeint, also ein Ende der gleichgeschalteten Staatsideologien, wie sie heute in Reinform nur noch in Nordkorea anzutreffen ist. Diese Unterart von Ideologie hat es zumindest in der westlichen Welt heute schwer, das ist wahr, und sie gerät selbst in vordergründig totalitären Regimen wie China zunehmend unter Druck. Dass wir in der westlichen Welt keine die Gesellschaft überformenden Ideologien hätten, ist aber natürlich unsinnig. Auch Liberalismus und Pluralismus sind Ideologien (Stichwort postmoderner Relativismus und Kulturrelativismus) unda die Menschenrechte sind ebenfalls Teil einer ideologischen Weltsicht.
Das ist ja auch nicht per se schlecht, im Gegenteil, eine nichtideologische Weltsicht wäre die perfekte Orientierungslosigkeit ohne jegliche Normen, Regeln und zielgerichtetes soziales Handeln. Was meiner Meinung nach der zentrale Punkt ist, ist, dass die vorherrschende Ideologie transparent begründet wird, dass sie einem permanenten zivilgesellschaftlichen Diskurs ausgesetzt ist. Im Grunde heißt das die herrschende Ideologie laufend zu überprüfen und entsprechend umzustrukturieren, wenn neue Erkenntnisse dazu zwingen, also mehr oder weniger die wissenschaftliche Vorgehensweise anzuwenden.
Gewisse Teile einer Ideologie müssen aber axiomatisch angenommen werden, die Univeralität und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte beispielsweise und auch das damit verwandte Gebot, dass Politik und Wirtschaft dem Menschen dienen sollen und nicht umgekehrt.
Insofern macht xanders Aussage, dass "echte Verbesserungen" nicht Teil einer Ideologie seien, sondern nur solche, die einer Minderheit Vorteile verschaffen, auch keinerlei Sinn, denn von "Verbesserungen" zu sprechen setzt bereits einen normativen Bezugsrahmen voraus, der nur von einer Ideologie geschaffen werden kann.
Diese "Verbesserungen" in "echte" und nicht echte zu teilen und echte als nichtideologisch zu bezeichnen und sie der Mehrheit zuzurechnen ist zum einen ein altbekanntes Muster, das man in allen (teil-)kollektivistischen und teleologischen Ideologien, wie z.B. dem Marxismus, findet, zum anderen schlichtweg unmöglich objektiv zu beurteilen. Was echte und unechte Verbesserungen sind, ist politisch und damit ideologisch zu beantworten.
Eine reine Effizienzrechnung aufzumachen, hilft uns hier auch nicht weiter, denn ob es besser ist, zwei Arbeiter und eine Maschine fünf Produkte pro Stunde produzieren zu lassen, was weniger Arbeitslosigkeit, mehr Konsum und auch mehr Sozialabgaben bedeutet oder ob es besser ist zehn Produkte mit einem Arbeiter und zwei Maschinen pro Stunde herstellen zu lassen, was mehr Arbeitslosigkeit, weniger Sozialabgaben und Konsum, aber trotzdem mehr Umsatz und wohl auch mehr Gewinnn bedeutet, das kann nur entschieden werden, wenn man sich vorher klargemacht hat, was man will. Ökonomen und Soziologen können einem halbwegs ausrechnen, was das günstigste Szenario ist, wenn man eine bestimmte Zielvorstellung vorgibt, z.B. Maximierung des Industrieprofits oder maximale Reduktion sozialer Spannungen. In einem anderen Bereich wäre eines der bekannten Spannungsszenarien das zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit, etwa, wenn es um SIcherheitsgesetze geht. In allen Szenarien ist aber kaum bestimmbar, was allgemein die "bessere Verbesserung" wäre. Man muss sich eben für die entscheiden, die einem ideologisch am ehesten liegt, sowohl als Individuum wie auch als Souverän.
Noch kurz zum eigentlichen Thema:
Präventivstrafen sind ein zweischneidiges Schwert. Zuerstmal würde mich aber interessieren, spacetime, was mit Präventivstrafen genau gemeint ist. Geht es um tatsächliche präventive Verbrechensbekämpfung á la Hollywoods "Minority Report", wo schon die unterbewusste Verbrechensabsicht bestraft wird ("Gedankenverbrechen"), oder sind auch hohe Strafen auf Alkohol am Steuer in deiner Definition schon Präventivstrafen?