Leistungsfähigkeit der Kulturanthropologie?

Leistungsfähigkeit der Kulturanthropologie?

Beitragvon Demdawkinsseinkumpel » Mi 8. Jul 2009, 15:29

Liebe Leute,

gleich nach meiner Anmeldung möchte ich auch schon mit einem Thema an Euch herantreten, das mich seit längerem umtreibt:

Grundsätzlich sind doch in den Debatten um Kreationismus, Intelligent Design usw. die Argumente der Naturwissenschaften die leistungsfähigsten.

Die Sozial- und Kulturwissenschaften treten erst dann auf den Plan, wenn die Frage nach der Nichtexistenz oder zumindest der enormen Unwahrscheinlichkeit einer Gottesexistenz oder in einem allgemeineren Sinne des Übernatürlichen in unserem (brighten) Sinne geklärt sind und die Frage nach einer sozialen/kulturellen Funktion von Religion und Übernatürlichkeitsglauben sich stellt.

Auf diesem Feld erweist sich die Kulturanthropologie als sehr stark, insofern Ritual, Glaubenssysteme usw. zu den traditionellen und ausführlichst beackerten Themenfeldern gehören.

Meine Frage ist aber diejenige: Kann die Kulturanthropologie (oder jede beliebige andere Kultur- oder Sozialwissenschaft - ich frage allein deshalb so eng gefasst, weil ich von Haus aus Kulturanthropologe bin) auf anderen Ebenen bzw. in anderen Zusammenhänge in die o. g. Debatten eintreten als im Zusammenhang der sozialen/politischen/kulturellen Funktion von Religion?

Herzlich,

Euer Kumpel vom Dawkins
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Re: Leistungsfähigkeit der Kulturanthropologie?

Beitragvon Mark » Fr 10. Jul 2009, 09:58

WIllkommen im Forum !

Obwohl ich wirklich glaube die Frage verstanden zu haben, hätte ich sie doch gerne umformuliert.
Wie kann die Kulturanthropologie mit einem anderen Ansatz Argumente für die Thesen der Brights liefern, als dem über die Analyse der kulturellen Entwicklung der Religionen ? Hmm...
Warum ist das nötig um über die "Leistungsfähigkeit" der Kulturanthropologie zu sprechen ? Sollte man nach der Leistungsfähigkeit nicht lieber dort suchen wo die Leistung steckt und dann versuchen zu beurteilen wie stark sie dort wirklich ist ? Mir scheint als würdest Du annehmen die Leistung würde hier noch in unerkannten Grössen wo versteckt liegen... welche Anhaltspunkte hast Du dafür ?
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Re: Leistungsfähigkeit der Kulturanthropologie?

Beitragvon Demdawkinsseinkumpel » Fr 10. Jul 2009, 15:13

Mark hat geschrieben:WIllkommen im Forum !


Dankeschön!

Mark hat geschrieben:Obwohl ich wirklich glaube die Frage verstanden zu haben, hätte ich sie doch gerne umformuliert.
Wie kann die Kulturanthropologie mit einem anderen Ansatz Argumente für die Thesen der Brights liefern, als dem über die Analyse der kulturellen Entwicklung der Religionen ?


Ganz genau!

Mark hat geschrieben:Warum ist das nötig um über die "Leistungsfähigkeit" der Kulturanthropologie zu sprechen ?


Vielleicht eine kurze Klärung, wie ich den Begriff der "Leistungsfähigkeit" - zugegebenermaßen ein wenig unscharf - gebraucht habe: 1) Hat eine Wissenschaft zu einem Thema ÜBERHAUPT was zu sagen, liegt also die Debatte in ihrer inhaltlichen Reichweite? 2) Wie schlagkräftig sind ihre Argumente & wie solide können sie einer Gegenargumentation standhalten?

Für mich heißt das: Die Kulturanthropologie hat zum Thema Kosmologie eigentlich nix zu sagen (ungleich der Phyisk); ihre Leistungsfähigkeit in diesem Bereich ist also gleich null. Umgekehrt (und ohne er Argumentation zu Deiner weiter unten zitierten Frage vorgreifen zu wollen) liegt die ganz große Stärke der Kulturanthropologie in der Analyse der verschiedenen Erscheinungsformen von Religion - der Physiker zuckt in diesem Zusammenhang mit den Schultern.

Und darum ist es dann nötig von einer "Leistungsfähigkeit" der Kulturanthropologie zu sprechen: Es geht für mich darum, herauszufinden, wie und wo ich mich als Anthropologe im Diskurs verorten kann, und zwar in interdisziplinären Zusammenhängen und vielleicht an Orten und in Zusammenhängen, auf die ich selbst noch gar nicht gekommen bin. Und selsbtverstädndlich geht es auch um die Frage, wann ich lieber den Mund halten sollte, wenn ich keinen konstruktiven Beitrag leisten kann. Für mich ist dieser Thread hier also sowas wie eine Ideensammlerei für weiteres Nachdenken (alleine komm ich da nämlich nicht weit, habe ich gemerkt).

Mark hat geschrieben:Sollte man nach der Leistungsfähigkeit nicht lieber dort suchen wo die Leistung steckt und dann versuchen zu beurteilen wie stark sie dort wirklich ist ?


Die Stärken der Kulturanthropologie liegen auf der Hand, und deshalb muss man sie nicht lange suchen: Es gibt z. B. ausgezeichnete Analysen, wie Religion und Politik miteinander verknüpft sind und welche Mechanismen am Wirken sind, wenn es darum geht, Menschen via der Religion bei der Stange zu halten (lesenswert: Bloch, Maurice: Prey into Hunter oder: Kertzer, David: Ritual, Politics and Power). Die ganze Angelegenheit kann man dann wunderbar interkulturell & historisch vergleichen, und schon sieht man die eigene Gesellschaft/Religion in einem ganz anderen Licht.

Über das gesellschaftliche Wirken (wertneutral gefasst) der Religion gibt uns die Kulturanthropologie Auskunft, und da ist ihre argumentative Leistungsfähigkeit am größten: 1) Sie hat da ganz schön was zu erzählen, 2) Der gegenargumentierende Theologe wird einiges an empirischen Material auffahren müssen, um die Thesen der Kulturanthropologie zu entkräften

Mark hat geschrieben:Mir scheint als würdest Du annehmen die Leistung würde hier noch in unerkannten Grössen wo versteckt liegen...


Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Deine Aussage richtig verstanden habe: Meintest Du, die Leistung müsste noch irgendwo zu suchen sein?

Tatsächlich interessiere ich mich für die Möglichkeit kulturanthropologischer Beiträge jenseits o. g. ausgetretener Pfade. Und da liegt die potentielle Leistung natürlich noch versteckt und muss gesucht werden, ganz klar!

Mark hat geschrieben:welche Anhaltspunkte hast Du dafür ?


Mein Bauchgefühl...


Was ich übrigens noch anmerken wollte: Schon diese Frage einmal anderen Leuten als mir zu stellen, davon profitiere ich schon gewaltig, und ich bin selbst bereits auf einige Ideen gekommen, die ich bei Interesse Eurerallerseits (und weniger Zeitdruck meinerseits) posten werde. Nicht mehr allein sich diese Fragen zu stellen und sie einmal auszuformulieren, das ist schon den Forumsbeitritt wert!!!!
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Re: Leistungsfähigkeit der Kulturanthropologie?

Beitragvon Mark » Sa 11. Jul 2009, 02:05

Vielleicht bekommt man mehr Leute zum mitdiskutieren, wenn diese bessere Kenntnis über die Kulturanthropologie an sich hätten.
Ist das nicht sehr ähnlich zur Soziologie ? Oder mehr wie eine verallgemeinernde Ethnologie ?
Habt ihr mathematisch fruchtbare Modelle ?
Kannst Du uns ein "Musterbeispiel" einer kulturanthropologischen Abhandlung zeigen damit wir uns ein Gefühl von dieser recht unbekannten Disziplin machen können ?
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Re: Leistungsfähigkeit der Kulturanthropologie?

Beitragvon Demdawkinsseinkumpel » Mo 13. Jul 2009, 14:05

Eigentlich ist das Zweite ganz richtig: Kulturanthropologie ist grundsätzlich Ethnologie, aber ich würde sagen, sie ist "an den Grenzen offen". Anthroplogie im Allgemeinen ist ja eine sehr interdisziplinäre Angelegenheit, und daher dürfen sich die Psychologie, die verschiedenen Biologien (v. a. Human-, Sozio-, Evolutions-), die Soziologen, die Historiker und die Archäologen einmischen.

Mit mathematischen Modellen bin ich in der Kulturanthropologie noch nicht in Kontakt gekommen, was auch sehr gut ist, denn ich bin ein unwahrscheinlich schlechter Mathematiker. Ich bin mir jetzt auch gar nicht sicher, ob es sowas überhaupt gibt, aber wenn ja, dann mit Sicherheit nicht erfolgreich.


Eine Superstudie ist Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. http://de.wikipedia.org/wiki/Mary_Douglas#Hauptwerk:_Purity_and_Danger Im Prinzip geht es um die Frage, wie Reinheitsvorstellungen zu allen möglichen Zeiten und in allen möglichen Kulturen soziale Ungleichheiten legitimieren - Schmutz und Reinheit sozusagen als ontologische Kategorien, die die Ungleichheit gleich mit ontologisieren. Beispiele gibts zuhauf: "Schmutzige Jobs" (Müllabfuhr...) haben weniger Prestige und geben weniger Geld. Schmutzige Menschen haben umgekehrt schlechtere Chancen auf Jobs mit Prestige & Geld. Das Ganze spielt auch in der Religion eine Rolle: In Indien stützen Vorstellungen ritueller Reinheit ein komplettes Sozialsystem. Im Mittelalter trank Katharina einen Becher voll Eiter und wurde heilig gesprochen - Unreinheit also als erster Schritt auf dem Weg ins Himmelreich! :2thumbs: Das regt dann natürlich auch zum Nachdenken über säkulare Reinheitsvorstellungen an, inwiefern wir also mit Hygienevorstellungen (auch im Gewand der Naturwissenschaften) gesellschaftliche Ungleichheiten legitimieren.
Der Punkt ist eben - und das macht die Sache so anthropologisch - dass Douglas versucht, auf einer breiten Grundlage bestimmte Grundstrukturen herauszuarbeiten, die grundsätzlich in allen Kulturen vorkommen, selbst in unserer.

Ich bin leider ein unglaublich schlechter Bücherzusammenfasser, aber bei Interesse kann ich das gerne nochmal ausführlicher versuchen.

In jedem Fall werde ich auch nochmal versuchen, meine Fragen an Euch alle ein bisschen reflektierter und strukturierter abzufassen und dann nochmal zu posten.
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