Sterbehilfe

Alles, was sonst nirgendwo hinpasst, findet hier seinen Platz.
Neue Mitglieder sind herzlich eingeladen, sich hier vorzustellen.

Beitragvon Nox » Sa 2. Jun 2007, 13:59

Kurt hat geschrieben:Ich behaupte, alles was Menschen und Tiere tun, dient der Arterhaltung
Nein, sogar ganz sicher nicht. Ist als erste Näherung nicht schlecht, aber so nachweislich falsch.

Zum einen wirkt Selektion nicht auf Arten oder Individuen, sondern eben (wie wir spätestens seit Dawkins wissen) auf Genen. Infantizit ist eines der Beispiele, das mit einer hypothetischen Gruppenselektion oder einem Arterhaltungstrieb nicht erklärt werden kann - mit "egoistischen" Genen aber schon.

Der andere wichtige Punkt ist, dass wir eben nicht mehr "Sklave der Evolution" sind, sondern uns bewusst dagegen Entscheiden können unsere Gene so oft wie möglich weiterzugeben - und dies auch alle tun.


Kurt hat geschrieben:Ein Wesen mit Handlungsweisen, die der Arterhaltung nicht dienlich sind, wird aussterben. Daher habe ich auch geschrieben, dass Suizidgefahr bei solchen Menschen am höchsten ist, die meinen, für die Gesellschaft (Familie, Art...) keinen Nutzen mehr zu haben. Die Evolution hat uns wohl so programmiert, dass wir den Willen zum Leben verlieren, wenn wir keinen Nutzen mehr bringen. Das gilt gleichermaßen für Selbstmörder wie für Todkranke.
Der erste Satz ist schlicht falsch. Ich komme nicht mal eben von einem Individuum auf die ganze Art oder andersherum. Wenn sich hinreichend viele Individuen hinreichend verrückt verhalten stirbt die ganze Art - vielleicht sind wir da ein Beispiel für... Andersherum gibt es Beispiele, dass Individuen bestraft werden, die einer Gruppe schaden - nicht nur in menschlichen Gesellschaften, sondern auch durch Ausschluss aus einem Rudel/einer Herde.

Der Rest ist wirklich interessant. Aber ich sehe nicht sofort, wie das mit Evolution begründet werden könnte. *grübel* Auf Individuen die - oder Lebensabschnitte in denen sich jemand - nicht fortpflanzen kann wirkt Evolution nur indirekt, zum Beispiel dadurch, dass Verwandten geholfen wird ihre Gene weiterzugeben.

Angenommen es herrscht Futterknappheit (oder es gibt irgend einen anderen limitierenden Faktor).
Angenommen ein Individuum ist "nutzlos", es besteht aber zumindest die Möglichkeit, dass noch andere Individuen "seine" Gene mit sich herumtragen. Dann wäre es für die (indirekte) Weitergabe seiner Gene sinnvoll zu sterben.

Hmm... Ist das eine schlüssige evolutionäre Begründung für Selbstwertgefühl und Selbstmordgedanken? Gefällt mir noch nicht, aber ist es sicher Wert genauer drüber nachzudenken. Wäre definitiv überrascht, wenn "programmierte Selbstzerstörung" spontan in einer Evolutionssimulation auftauchte. Denkbar wäre sogar, dass sich Individuen selbst ausselektieren (Darwin Award *g*) und damit die Chancen erhöhen, dass ihre Gene (indirekt) weitergegeben werden.


Aber wie gesagt: Wie es sich entwickelt hat impliziert nicht, wie wir uns verhalten sollten. Es kann aber durchaus erklären (oder dabei helfen) warum es verschiedene Verhaltensweisen gibt und warum wir sie wie wahrnehmen...
Nox
 
Beiträge: 347
Registriert: Di 19. Dez 2006, 19:51

Beitragvon Kurt » Sa 2. Jun 2007, 14:20

Nox hat geschrieben:
Kurt hat geschrieben:Ich behaupte, alles was Menschen und Tiere tun, dient der Arterhaltung
Nein, sogar ganz sicher nicht. Ist als erste Näherung nicht schlecht, aber so nachweislich falsch.

Du hast Recht, ich meinte der Erhaltung der eigenen Gene. Das klärt auch Infantizid, z.B. die Tötung der "alten" Kinder der neuen Frau.

Nox hat geschrieben:Zum einen wirkt Selektion nicht auf Arten oder Individuen, sondern eben (wie wir spätestens seit Dawkins wissen) auf Genen. Infantizit ist eines der Beispiele, das mit einer hypothetischen Gruppenselektion oder einem Arterhaltungstrieb nicht erklärt werden kann - mit "egoistischen" Genen aber schon.

Der andere wichtige Punkt ist, dass wir eben nicht mehr "Sklave der Evolution" sind, sondern uns bewusst dagegen Entscheiden können unsere Gene so oft wie möglich weiterzugeben - und dies auch alle tun.


Wenn wir uns entscheiden, nicht mehr Sklave der Evolution zu sein, sterben wir aus. Das ist aber bisher nicht in Sicht. Wir müssen also irgendwas richtig machen, aus der Sicht der Evolution. Es ist (oft) rational und nützlich, seine eigenen Gene indirekt weiterzugeben, indem man z.B. keine eigenen Kinder kriegt, aber auf die der Geschwister mit aufpasst. Z.B. weil man selbst ein schlechter Familienvater wäre, aber eine Menge Geld verdient. Insofern entscheidet man sich nicht gleich gegen die Evolution, wenn man keine Kinder kriegt.

Nox hat geschrieben:
Kurt hat geschrieben:Ein Wesen mit Handlungsweisen, die der Arterhaltung nicht dienlich sind, wird aussterben. Daher habe ich auch geschrieben, dass Suizidgefahr bei solchen Menschen am höchsten ist, die meinen, für die Gesellschaft (Familie, Art...) keinen Nutzen mehr zu haben. Die Evolution hat uns wohl so programmiert, dass wir den Willen zum Leben verlieren, wenn wir keinen Nutzen mehr bringen. Das gilt gleichermaßen für Selbstmörder wie für Todkranke.
Der erste Satz ist schlicht falsch. Ich komme nicht mal eben von einem Individuum auf die ganze Art oder andersherum. Wenn sich hinreichend viele Individuen hinreichend verrückt verhalten stirbt die ganze Art - vielleicht sind wir da ein Beispiel für... Andersherum gibt es Beispiele, dass Individuen bestraft werden, die einer Gruppe schaden - nicht nur in menschlichen Gesellschaften, sondern auch durch Ausschluss aus einem Rudel/einer Herde.



Wie oben, es müsste heißen, "die der Verbreitung der eigenen Gene nicht dienlich sind".


Nox hat geschrieben:Der Rest ist wirklich interessant. Aber ich sehe nicht sofort, wie das mit Evolution begründet werden könnte. *grübel* Auf Individuen die - oder Lebensabschnitte in denen sich jemand - nicht fortpflanzen kann wirkt Evolution nur indirekt, zum Beispiel dadurch, dass Verwandten geholfen wird ihre Gene weiterzugeben.

Angenommen es herrscht Futterknappheit (oder es gibt irgend einen anderen limitierenden Faktor).
Angenommen ein Individuum ist "nutzlos", es besteht aber zumindest die Möglichkeit, dass noch andere Individuen "seine" Gene mit sich herumtragen. Dann wäre es für die (indirekte) Weitergabe seiner Gene sinnvoll zu sterben.


Es herrscht immer Knappheit. Wohnraum, Geld, Arbeitszeit. Jemand der diese Ressourcen beansprucht ohne eine Gegenleistung zu bringen (wie ein Todkranker), hat aus evolutionärer Sicht keinen Nutzen mehr. Und wird vielleicht auch nicht mehr leben wollen.

Nox hat geschrieben:Hmm... Ist das eine schlüssige evolutionäre Begründung für Selbstwertgefühl und Selbstmordgedanken? Gefällt mir noch nicht, aber ist es sicher Wert genauer drüber nachzudenken. Wäre definitiv überrascht, wenn "programmierte Selbstzerstörung" spontan in einer Evolutionssimulation auftauchte. Denkbar wäre sogar, dass sich Individuen selbst ausselektieren (Darwin Award *g*) und damit die Chancen erhöhen, dass ihre Gene (indirekt) weitergegeben werden.


Das ist meine absolute Überzeugung, dass Selbstzerstörung zum Wohl der Gesellschaft (der eigenen Gene) geschieht. Wenn es nicht so wäre, hättest du die Evolutionstheorie widerlegt. Ich empfehle (wiedermal) das Buch "Evolutionäre Psychologie" von David Buss. Ein exzellentes Buch, das unsere Verhaltensweisen aus der Sicht der Evolution erklärt. http://www.amazon.de/Evolution%C3%A4re- ... 827370949/
Kurt
 
Beiträge: 704
Registriert: Fr 19. Jan 2007, 16:55
Wohnort: Bayern

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Sa 2. Jun 2007, 14:31

Kurt hat geschrieben:Es herrscht immer Knappheit. Wohnraum, Geld, Arbeitszeit. Jemand der diese Ressourcen beansprucht ohne eine Gegenleistung zu bringen (wie ein Todkranker), hat aus evolutionärer Sicht keinen Nutzen mehr. Und wird vielleicht auch nicht mehr leben wollen.
Vielleicht auch nicht. (Sehr wahrscheinlich auch nicht.)
Es gibt genügend Beispiele von "evolutionär-nutzlosen Individuen" die durchaus noch leben wollen, ich würde sagen, sogar die absolute Mehrzahl.
Egal ob im Tierreich (ohne Menschen) oder innerhalb der Spezies Mensch.
Benutzeravatar
1von6,5Milliarden
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 5236
Registriert: Sa 25. Nov 2006, 15:47
Wohnort: Paranoia

Beitragvon HF******* » Sa 2. Jun 2007, 14:37

Fischermans Friend schrieb:
Wir haben mal bei meinem Vater sozusagen passive Sterbehilfe geleistet, indem wir durchsetzten, dass ab einem bestimmten Punkt keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr durchgeführt werden.


?
Das müsste näher erläutert werden: Die Person hat noch gelebt (war also zumindest noch nicht hirntot) und dann hat man was genau abgebrochen? Die Äußerung ist etwas diffus.

Es ist allgemein wichtig in diesem Bereich, genau zu sagen, wovon man spricht.

I.
Es ist gegenwärtig unproblematisch, wenn eine Person etwa die Einnahme von Medikamenten ablehnt oder eine bestimmte Behandlung ablehnt und dann stirbt. Nur zur Information: Ein Herzkranker etwa, der eine OP ablehnt oder seine Medikamente bewusst absetzt, kann nebenher auch Schmerzmittel verlangen, auch wenn er die Schmerzen bei (richtiger) Medikamentierung nicht hätte. Auf diese weise hat z. B. meine Großmitter ihr Sterben beschleunigt, nac h einer Woche war sie tot. Streng christlich war sie übrigens.

II.
Wenn man z. B. bei einer bewusstlosen Person lebenserhaltende Maschinen abschaltet, weil diese Person früher etwa eine entsprechende Patientenverfügung abgegeben hat, dann halte ich das für äußerst bedenklich, um es vorsichtig zu formulieren - erst recht, wenn man die Verwandten dazu befragt (die Erben am besten noch…). Soetwas ist sicherlich nur unter ganz engen Voraussetzungen überhaupt akzeptabel.

III.
Das „Töten“ eines Hirntoten halte ich für unproblematisch. (Wo ist Kival? Es wird um Kritik gebeten... :sauer: )

IV.
Der Suizid (Selbsttötung) ist bei uns straflos. Interessant ist das, weil auch (ansich) die Beihilfe zum Suizid damit straflos ist (so!).
D. h. auch bei uns kann man jemandem seine geladene Schrotflinte bringen, wenn er darum bittet… oder eine Kanüle mit tödlicher Giftdosis mit einer Steuerung über einen Computer legen, wobei das Gift erst bei Drücken einer Computertaste einfließt (so in Australien praktiziert?).

Problematisch wird es aber auch hier, wenn etwa der Betroffene etwa an einer schweren Depression leider und deshalb etwa nicht mehr zurechnungsfähig ist: Dann kann etwa Mord oder Totschlag in mittelbarer Täterschaft vorliegen, wenn etwa die Person aufgrund krankhafter Störung gar nicht mehr anders handeln kann. Strafrechtlich muss eine solche Depression natürlich für eine Verurteilung des Helfers nachgewiesen werden. Ansonsten kommt auch unterlassene Hilfeleistung in Frage.

Noch skurriler wird es, wenn die helfende Person in einer Garantenstellung ist, so etwa der Arzt ider nahe Angehörige, denn die können etwa auch Totschlag oder Mord durch Unterlassen begehen:

Angenommen ein nicht depressiver alter Mann will sich erhängen, und seine Frau sitzt danenen. Er knüpft den Strick an die Decke und stellt sich den Stul bereit: Soweit ok, die Frau macht sich nicht strafbar - verhindern darf sie das genaugenommen auch gar nicht, das wäre möglicherweise Nötigung (die dann auch wieder entschuldigt sein kann...). Nun erhängt sich der Mann: Die Frau mit der Garantenstellung muss jetzt (erst jetzt!) aufspringen, ihren Mann schnellstmöglich abschneiden und ggf. mit der Widerbelebung beginnen: Ansonsten begeht sie eine uneterlassene Hilfeleistung oder möglicherweise sogar Totschlag durch Unterlassen (letzteres wegen der Garantenstellung denkbar).

Dieser etwas skurrile Fall (Vorlesungsfall von Prof. C. F. Schröder aus Regensburg) zeigt recht deutlich, dass in unserem Rechtssystem etwas nicht ganz richtig läuft: Wenn jemand die Freiheit hat, sich selbst zu töten und die Person nicht an krankhafter Depression leider, dann kann es nicht angehen, dass andere Personen sich strafbar machen sollen, wenn sie beim (missglückten oder noch nicht vollendeten) Suizid keine Hilfe leisten.

Wenn diese irrsinnige Regelung (so!) aufgehoben wird, dann haben wir den halben Weg zur Selbstbestimmung hinter uns. Diese Position hat Prof. Schröder damals auch vertreten.

V.
Ich denke nicht, dass ein Mensch einen Anspruch darauf hat, aktiv durch andere Menschen getötet zu werden, so lange er/sie noch einen Finger heben kann und einen Knopf auf einem Computer drücken kann: Einer solche Person kann aber in der Ausübung ihrer Freiheitsrechte nicht deshalb benachteiligt werden, weil sie physisch nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu töten: Eine solche Person muss geradezu einen Anspruch erhalten, dass ihr entsprechend geholfen wird.

Ist das die Auffasung der Brights?
Das oben genannte ist meine ganz persönliche Auffassung und ergibt sich meines Erachtens aus dem moralischen System des Grundgesetzes und des Strafgesetzbuches (realistische Moralvorstellung), wobei dem Grundgesetz in diesem Bereich zu Unrecht kein Vorrang eingeräumt wird. Meines Erachtens ergibt sich das Recht zur Selbsttötung aus der Menschenwürde, dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Der evolutionäre Humanismus
Der evolutionäre Humanismus ist zu dem Thema übrigens sehr viel undifferenzierter, er bejaht die Sterbehilfe (welche?) und das Recht zur Selbsttötung, wenn ich es richtig in Erinnerung habe - ohne in Richtung psychischer Krankheiten zu denken.
Zuletzt geändert von HF******* am Sa 2. Jun 2007, 14:38, insgesamt 1-mal geändert.
HF*******
 
Beiträge: 2651
Registriert: Do 19. Okt 2006, 11:59

Beitragvon Kurt » Sa 2. Jun 2007, 14:38

1von6,5Milliarden hat geschrieben:
Kurt hat geschrieben:Es herrscht immer Knappheit. Wohnraum, Geld, Arbeitszeit. Jemand der diese Ressourcen beansprucht ohne eine Gegenleistung zu bringen (wie ein Todkranker), hat aus evolutionärer Sicht keinen Nutzen mehr. Und wird vielleicht auch nicht mehr leben wollen.
Vielleicht auch nicht. (Sehr wahrscheinlich auch nicht.)
Es gibt genügend Beispiele von "evolutionär-nutzlosen Individuen" die durchaus noch leben wollen, ich würde sagen, sogar die absolute Mehrzahl.
Egal ob im Tierreich (ohne Menschen) oder innerhalb der Spezies Mensch.


Auch dir sei das o.g. Buch ans Herzen gelegt. Da ist recht schön beschrieben, warum wir scheinbar nutzlose Investitionen tätigen, z.B. alte Menschen pflegen. Natürliches menschliches Verhalten ist immer rational aus Sicht der Evolution. Das ist quasi meine Prämisse. Und selbst wenn man den evolutionären Nutzen einer Verhaltensweise nicht auf Anhieb erkennt, dann liegt das an unserern mangelnden Einsichtsfähigkeit, nicht daran, dass mit der Evolutionstheorie was nicht stimmt.
Kurt
 
Beiträge: 704
Registriert: Fr 19. Jan 2007, 16:55
Wohnort: Bayern

Beitragvon taotne » Sa 2. Jun 2007, 14:38

Kurt hat geschrieben:Wenn wir uns entscheiden, nicht mehr Sklave der Evolution zu sein, sterben wir aus. Das ist aber bisher nicht in Sicht. Wir müssen also irgendwas richtig machen, aus der Sicht der Evolution.
Wir machen etwas "richtig". Wir haben uns eine Umgebung geschaffen, in der es äußerst schwer fällt-im Vergleich zur "natürlichen Welt"- ausselektiert zu werden. Wir haben uns die Umwelt so eingerichtet, dass es eigentlich keine natürlichen Feinde gibt. Wir haben uns ein soziales Netzwerk geschaffen, dass dem einzelnen hilft zu überleben. Insofern sind wir keine Sklaven der "natürlichen" Selektion mehr. Und ich denke, dass nicht alle Verhaltensweisen, die Menschen zutage legen rein aufgrund der natürlichen Selektion zu erklären sind. Man darf -finde ich- die kulturelle Evolution nicht vergessen, die unsere Verhaltensweisen sehr stark beeinflusst. Gedanken beeinflussen Menschen manchmal mehr als die Reliquien der natürlichen Selektion.

Wenn ich Blödsinn verzapft habe, bitte darauf Hinweisen.
Benutzeravatar
taotne
 
Beiträge: 281
Registriert: Sa 9. Dez 2006, 22:01

Beitragvon Kurt » Sa 2. Jun 2007, 14:49

taotne hat geschrieben:Wir machen etwas "richtig". Wir haben uns eine Umgebung geschaffen, in der es äußerst schwer fällt-im Vergleich zur "natürlichen Welt"- ausselektiert zu werden. Wir haben uns die Umwelt so eingerichtet, dass es eigentlich keine natürlichen Feinde gibt. Wir haben uns ein soziales Netzwerk geschaffen, dass dem einzelnen hilft zu überleben. Insofern sind wir keine Sklaven der "natürlichen" Selektion mehr. Und ich denke, dass nicht alle Verhaltensweisen, die Menschen zutage legen rein aufgrund der natürlichen Selektion zu erklären sind. Man darf -finde ich- die kulturelle Evolution nicht vergessen, die unsere Verhaltensweisen sehr stark beeinflusst. Gedanken beeinflussen Menschen manchmal mehr als die Reliquien der natürlichen Selektion.

Wenn ich Blödsinn verzapft habe, bitte darauf Hinweisen.


Ich würde sagen, wir haben uns eine Umgebung geschaffen, in der andere Selektionskräfte wirken als in der Steinzeit. Wilde Tiere stellen heute keine Gefahr mehr dar, trotzdem (ein Relikt unserer evolutionären Anpassung) haben wir unsere Schlafzimmer meistens nicht im Erdgeschoss, sondern im zweiten Stock, wenn wir es uns aussuchen können. Offensichtlich ist die Angst vor wilden Tieren irgendwo noch einprogrammiert. Die Umwelt hat sich so schnell geändert, dass die Evolution den Menschen noch nicht vollständig auf die neue Situation angepasst hat. Entsprechend sind auch einige Verhaltensweisen heute nicht mehr sinnvoll, andere haben sich noch nicht genug verbreitet. Zu den neuen Gefahren im Bereich der natürlichen Selektion zählen der Straßenverkehr, AIDS, Alkoholismus usw. Zweitens gibt es aber noch die sexuelle Selektion. D.h. ein Hartz-IV-Empfänger wird es wohl schwerer haben, eine Frau zu finden als ein Anwalt mit nem schicken Porsche. Worauf ich hinaus will: Die Evolution ist nicht tot, sie hat sich nur geändert. Die Umstände sind anders geworden. In Zeiten von Nahrungsknappheit waren dicke Bäuche schick, heute legt kein Mensch mehr darauf Wert. Früher musste man ein guter Jäger sein (manche Leute geben heute noch damit an), heute muss man viel Geld verdienen, um begeht zu sein.
Kurt
 
Beiträge: 704
Registriert: Fr 19. Jan 2007, 16:55
Wohnort: Bayern

Beitragvon Max » Sa 2. Jun 2007, 15:30

Die aktive Sterbehilfe ist meiner Erachtens sinnvoller als die passive. Man erzielt dasselbe Ziel (den Tod) auf die bessere Weise (weniger Schmerzen, Zeit für die Angehörigen und, wenn auch unwichtiger, weniger Kosten). Ob so etwas gegen einen von Menschen konzipierten Eid verstößt oder nicht, ist für die ethische Frage eher unwichtig. Außerdem zeigt sich durch solch ein Beispiel eher, dass der Eid falsch konzipiert ist.
Max
 
Beiträge: 2038
Registriert: So 10. Sep 2006, 09:55

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Sa 2. Jun 2007, 16:52

Max hat geschrieben:Die aktive Sterbehilfe ist meiner Erachtens sinnvoller als die passive. Man erzielt dasselbe Ziel (den Tod) auf die bessere Weise (weniger Schmerzen, Zeit für die Angehörigen und, wenn auch unwichtiger, weniger Kosten).

Da machst du es dir m.E. etwas einfach, bzw. du siehst vermutlich nur den Idealfall.
Bei einer passiven Sterbehilfe stirbt der Patient ja von "sich aus", recht hast du, dass dies in der Regel 'etwas' länger dauert, als wenn ein Arzt ihm eine ultimative Spritze gibt. Aber nach menschlichem Selbstverständnis ist dies eben Töten durch eine Tat.
Und das riesige Problem ist eben einerseits die vom Fischerfreund angesprochene "bucklige Verwandtschaft", auch eine nicht "ideale", unabhängige Kontrolle. Es ist unter Berücksichtigung dieser Nebenfaktoren ein gewaltiger Schritt ob ich jemanden durch Unterlassung sterben lasse oder jemanden aktiv umbringe. Auch wenn der Übergang durchaus und problematisch fließend ist.
Denn ein Vorenthalten von Flüssigkeit bringt jeden um, also könnte hier eine "Bucklige Verwandschaft", ein XY (was auch immer) eine "unliebsame Person" genauso loswerden, nur die höhere Geschwindigkeit durch aktives Setzen einer tödlichen Spritze ist eben auch ein zweischneidges Schwert, erleichtert es beiden Seiten.

Auch glaube und hoffe ich, dass ein aktives Töten, den Tötenden mehr belastet. Und diese Belastung sollte man doch auch minimieren.
Einen Arzt dem es egal ist ob er mir eine tödliche Spritze gibt, hätte ich übrigens ganz allgemein auch nicht so gerne.
Zuletzt geändert von 1von6,5Milliarden am Sa 2. Jun 2007, 17:20, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
1von6,5Milliarden
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 5236
Registriert: Sa 25. Nov 2006, 15:47
Wohnort: Paranoia

Beitragvon Klaus » Sa 2. Jun 2007, 17:16

Letztlich habt ihr beide Recht. Aktive Sterbehilfe ist die vernünftigtste Variante. Das die Vernunft hier nicht so einfach praktikabel ist, ist auch gut. Es müssen mehrere Faktoren stimmig sein. Vllt kommen wir ja an den Punkt, das man rechtzeitig, und potentiell schon zu einem Zeitpunkt mitteilen kann, im Falle von schwerer Krankheit möchte ich so oder so behandelt werden. Ich möchte keine lebenserhaltenden Maßnahmen, aber Schmerzmittel, damit ich nicht leide, genauso vice versa.
Und sicherlich habt ihr Recht wenn ihr sagt, die Tränen der Hinterbliebenen sind nicht immer nur Tränen der Trauer. Aber ein jeder sollte die Möglichkeit haben zu entscheiden, wie mit ihm zu verfahren ist. Ich habe das für mich festgelegt, da hat keiner meiner Sippe eine Chance rechtlich dagegen vorzugehen, das ist hinterlegt.
Wer einmal einen Alzheimer Patienten bis zum letzten Tag begleitet hat, und die letzten Wochen, sind bei aller Technik und ärztlichen Kunst ein Verrecken, welches kein Tier auf dieser Erde erleben muss. Der Arzt hatte klar gesagt, sie können technisch alles aufrechterhalten, auf Jahre, die Familie hat dann entschieden, das hat sie nicht verdient. Alle Technik wurde abgklemmt, sie bekam Morphium gegen die Schmerzen und nach 4 Wochen ist die Person eingeschlafen.
Also, aktive Sterbehilfe mit Regularien die den Willen desjenigen respektieren und nicht den seiner Nachkommen.
Benutzeravatar
Klaus
 
Beiträge: 4704
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:43
Wohnort: get off the Net, I´ll meet you in the Streets

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Sa 2. Jun 2007, 17:22

Klaus hat geschrieben:Wer einmal einen Alzheimer Patienten bis zum letzten Tag begleitet hat, und die letzten Wochen, sind bei aller Technik und ärztlichen Kunst ein Verrecken, welches kein Tier auf dieser Erde erleben muss.
Bin gerade dabei, danke für die gefühlvolle Vorbereitung. :/
(der zweite Halbsatz ist natürlich nicht ernst gemeint, der erste leider schon)
Benutzeravatar
1von6,5Milliarden
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 5236
Registriert: Sa 25. Nov 2006, 15:47
Wohnort: Paranoia

Beitragvon Klaus » Sa 2. Jun 2007, 17:30

Sorry, wußte ich nicht.
Die Verläufe sind aber unterschiedlich, in dem von mir geschilderten Fall dauerte die Krankheit 10 Jahre, den Rest spare ich uns.
Benutzeravatar
Klaus
 
Beiträge: 4704
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:43
Wohnort: get off the Net, I´ll meet you in the Streets

Beitragvon Fisherman's Fellow » Sa 2. Jun 2007, 18:05

HFRudolph hat geschrieben:Die Person hat noch gelebt (war also zumindest noch nicht hirntot) und dann hat man was genau abgebrochen?

Es lag multiples Organversagen vor. Mein Vater war irrtümlich als Kassenpatient eingeliefert worden und wurde auch so behandelt (es war Wochenende, und strenggenommen wurde gar nichts gemacht - ein Krankenzimmer mit Dritte-Welt-Charme und Klima, keine Dialyse oder sonstwas trotz Nierenversagen, die zuständige Ärztin war krank, deren Vertretung hatte noch die Ambulanz, auf der Station meine Vaters tauchte sie nie auf - ein Pfleger auf der Station meinte, wenn es sein Vater wäre, würde er ihn mit nach Hause nehmen, damit er in Ruhe sterben könne). Dann stellte sich heraus, dass er Privatpatient war: Neue Station, super Krankenzimmer, tolle Betreuung und ein Chefarzt, der voller Optimismus war. Nachdem mein Vater dort, dreimal, klinisch tot, wiederbelebt worden war, geriet er nach Wochen in einen Zustand, in dem man den Tubus entfernen und die Herzmedikation herunterfahren konnte.
Für den Fall, dass wieder ein totales Organversagen eintreten würde, empfahl der Arzt zur Lebenserhaltung einen Luftröhrenschnitt - etwas, was mein Vater immer heftig abgelehnt hatte. Das lehnten wir ab, und an diesem Punkt stimmten wir dafür, dass außer palliativen keine lebensverlängernden Maßnahmen (Tubus, Herzmittel, Dialyse etc) mehr vornehmen sollten (wobei die letzliche Verantwortung bei den Medizinern lag).
Benutzeravatar
Fisherman's Fellow
 
Beiträge: 361
Registriert: Mi 30. Mai 2007, 17:19

Beitragvon Kurt » So 3. Jun 2007, 18:49

Kurt
 
Beiträge: 704
Registriert: Fr 19. Jan 2007, 16:55
Wohnort: Bayern

Beitragvon HF******* » Mo 4. Jun 2007, 13:15

Fishermans schrieb:
Für den Fall, dass wieder ein totales Organversagen eintreten würde, empfahl der Arzt zur Lebenserhaltung einen Luftröhrenschnitt - etwas, was mein Vater immer heftig abgelehnt hatte. Das lehnten wir ab, und an diesem Punkt stimmten wir dafür, dass außer palliativen keine lebensverlängernden Maßnahmen (Tubus, Herzmittel, Dialyse etc) mehr vornehmen sollten (wobei die letzliche Verantwortung bei den Medizinern lag).


Dein Vater scheint nicht mehr bei Bewusstsein gewesen zu sein oder zumindest nicht mehr zu einer brauchbaren Willensäußerung in der Lage, sonst hätte er die Ablehnung einer bestimmten Behandlung ja selbst aussprechen müssen. Es scheint wohl auch keine Chance auf Wiedererlangung des Bewusstseins bestanden zu haben.

Persönlich halte ich es für eine Zumutung, Angehörigen eine solche Fragestellung aufzubürden, ob Hilfsmaßnahmen eingestellt werden - gerade in einer solchen Situation. Ich sehe auch nicht, weshalb Angehörige in einer solchen Entscheidungsfrage prädestiniert sein könnten.

Die Bezeichnung als „lebensverlängernde Maßnahme“ halte ich für eine (wenn auch gebräuchliche) Verschleierung der tatsächlichen Entscheidung: Es wird über Leben und Tod entschieden. Wie kann ein Mensch ohne Notlage entscheiden, ob ein anderer zu sterben hat? Jede Behandlung bei Lebensgefahr ist grundsätzlich eine lebensverlängernde Maßnahme, es fragt sich nur, wie lange das Leben verlängert werden kann. Es fragt sich also, ob die letzten Wochen des Lebens weniger wichtig sind …
HF*******
 
Beiträge: 2651
Registriert: Do 19. Okt 2006, 11:59

Beitragvon Fisherman's Fellow » Mo 4. Jun 2007, 22:23

HFRudolph hat geschrieben:Dein Vater scheint nicht mehr bei Bewusstsein gewesen zu sein oder zumindest nicht mehr zu einer brauchbaren Willensäußerung in der Lage, sonst hätte er die Ablehnung einer bestimmten Behandlung ja selbst aussprechen müssen. Es scheint wohl auch keine Chance auf Wiedererlangung des Bewusstseins bestanden zu haben.

Ich verstehe zu wenig vom Fach, um seinen Zustand exakt beschreiben zu können, aber ich glaube, man hat ihn wegen des Tubus in ein künstliches Koma versetzt. Weißt Du, es ist irre: die drehen am Regler - das Herz versagt; die drehen am Regler: Man wacht auf und leidet schreckliche Qualen... also drehen sie wieder ab. Sie drehen am Regler und können ein Herz, das schon lange fertig ist, flott schlagen lassen. Einmal, "zwischen seinen Toden" ging es ihm besser. Sie drehten die Dosen herunter, der Tubus kam heraus, er wachte auf (keiner wußte, was nach all den Maßnahmen noch von seiner Denkfähigkeit übrig geblieben war) und er versuchte deutlich, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Er wollte etwas sagen, aber durch die Intubierung war alles entzündet und er bekam kein verständliches Wort heraus. Es war ein Drama.
Kurz danach war wieder eine Dialyse fällig, und die belastete das Herz so sehr, dass er wieder ins Koma versetzt wurde...
Als er dann wieder so weit war, dass sich sein Zustand stabilisierte, sagte er nichts mehr. Er war nicht mehr da, blieb unbeteiligt. Obwohl sein Zustand nicht komatös war, die Werte sogar besser als je seit seiner ersten Wiederbelebung, wirkte es, als schaue er nur noch von Ferne den Lebenden zu. In so einer Situation neige ich dazu, von einer Seele zu sprechen, die sich bereits aus der materiellen Welt verabschiedet hat und nur noch mal einen Blick zurückwirft auf die, die bleiben.

HFRudolph hat geschrieben:Persönlich halte ich es für eine Zumutung, Angehörigen eine solche Fragestellung aufzubürden, ob Hilfsmaßnahmen eingestellt werden - gerade in einer solchen Situation. Ich sehe auch nicht, weshalb Angehörige in einer solchen Entscheidungsfrage prädestiniert sein könnten.

Die gesamte Situation war bizarr, und die Sache mit der (Mit-)Entscheidung nur ein Teilchen des Puzzles. Mich belastete am meisten, wie die mit einem menschlichen Organismus "spielen" konnten.
Ich erlebte parallel zB einen anderen Patienten, Motorradler, der mehr oder minder in Einzelteilen angeliefert wurde und, bevor mein Vater starb, die Station schon wieder recht munter verlies. Für solche Leute, dachte ich, sind Intensivstationen da. Nicht aber für jemanden, der stirbt, dass sein Sterben beliebig lang hinausgezögert werden kann.

HFRudolph hat geschrieben:Wie kann ein Mensch ohne Notlage entscheiden, ob ein anderer zu sterben hat?

Man muß halt. Früher, als die Medizin noch nicht so mächtig war, war auch die Entscheidung einfacher.

HFRudolph hat geschrieben:Jede Behandlung bei Lebensgefahr ist grundsätzlich eine lebensverlängernde Maßnahme, es fragt sich nur, wie lange das Leben verlängert werden kann. Es fragt sich also, ob die letzten Wochen des Lebens weniger wichtig sind …

Ich hoffe, dass es mir erspart bleibt, so lange sterben zu müssen.
Benutzeravatar
Fisherman's Fellow
 
Beiträge: 361
Registriert: Mi 30. Mai 2007, 17:19

Beitragvon HF******* » Di 5. Jun 2007, 12:04

Anmerkung: Doppelpost gelöscht.
HF*******
 
Beiträge: 2651
Registriert: Do 19. Okt 2006, 11:59

Vorherige

Zurück zu Das Leben, das Universum und der ganze Rest

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste

cron