Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Jounk33 » Do 18. Sep 2014, 21:45

Lumen,
Ziwschen 40 und 50 lässt nach.....
- Sehvermögen
- Hörvermögen
- Intellektuelle Fähigkeiten (Midlife-Crisis und so Zeugs)
- Die Potenz
- natürlich die Beweglichkeit
- auch die regenerativen Fähigkeiten, eine Erkältung ist deutlich heftiger als in jüngeren jahren und Muskel und Knochenverletzungen heilen deutlich langsamer und schwieriger

Zwischen 50 und 60 lässt nach...
- körperliche und organische Leistungen in allen Bereichen
- geistige Fähigkeiten in allen Bereichen

ab 60 und bis zum Tode....
- nehmen geistige und seelische Fähigkeiten rapide ab. Manche Betroffene verlieren u.U. Fähigkeit zu sprechen und soziale Fähigkeiten, manche erkennen sogar ihre eigenen Kinder nicht mehr. Manche entwicklen sich auf die geistige Stufe eines Kindes zurück.
- nehmen körperliche und organische Fähigkeiten rapide ab. Manche Betroffene würden ohne teure Medikamete keinen Monat mehr überleben und ohne regelmässigen Klinikaufenthalte auch bald sterben. Und so in dem Zustand überleben aber einige noch Jahrzehnte und werden über 100.

Alles in allem wenn man das ja weiss, ist es dann irgendwie besser wenn gar keiner mehr erst anfängt zu leben, weil endet ja sowieso alles in Leid und Qualen. Aber eins ist ja auch klar, man muss kein Mensch mit Downsyndrom sein um in den Genuss dieser "unnötigen Bürden" zu kommen. Eigentlich ist es den aller wenigsten vorbehalten ohne Leistungsverlust und ohne Krankheit oder körperlichen oder geistigen Qualen zu versterben.

Mir geht es aber um was anderes. Mir geht es darum, dass wir nicht die Sensibilisierung für Kranke und Alte verlieren und nur die jungen und leistungsfähigen Menschen als vollwertig anerkennen, denn irgendwann irgendwie wird fast jeder in eine Situation kommen in der man selbst Einschränkungen erleben wird und dann ist es besser wenn dafür ein Verständnis und eine natürliche Akzeptanz vorhanden ist.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Nanna » Do 18. Sep 2014, 21:58

Zappa hat geschrieben:Normen gründen auf Tatsachen und dürfen diesen nicht widersprechen, weswegen für mich Hinweise auf solche Widersprüche normativ argumentatorischen Charakter haben, lassen sich aber nicht mit Tatsachen allein begründen. Insofern ist Sollen nicht gleich Sein, aber entsteht aus ihm und der Unterschied ist aus meiner Warte recht klein und nicht so relevant (Popper möge mir verzeihen).

Ich bin nicht ganz sicher, wie ich dich richtig zu verstehen habe; Was meinst du damit, dass Normen auf Tatsachen gründen (ich interpretiere es mal als physische Existenz und sage unten was dazu, kann aber sein, dass du es ganz anders meintest)? Vielleicht hast du ein Beispiel, an dem du das erläutern kannst?

Zappa hat geschrieben:Mein Problem mit dem NF als Argument ist, dass er natürlich sehr leicht zu supranaturalistischen Fehlschlüssen verführt: Da das Sollen nicht aus dem (natürlichen) Sein folgen kann, müsse es angeblich aus übernatürlichen Quellen kommen. Ein sehr beliebtes religiöses Argument.

Mag sein, ist aber eine für dich etwas ungewöhnliche Verwechslung von Argument und Streitpartei, und im philosophischen Diskurs doch auch längst abgefrühstückt. Niemand, der Philosophie ernsthaft betreibt, kann heute noch verlangen, dass partikulare Dogmen von irgendwem zur Begründung universeller Normen akzeptiert werden. Mir scheint, du hast das Gefühl, dass der naturalistische Fehlschluss im Vergleich zum moralistischen Fehlschluss (es kann nur sein, was sein soll bzw. "weil nicht sein kann, was nicht sein darf") das kleinere Übel ist und man ihn besser als Konterkraft behält. Aber es sind ja beide Argumentationslinien Fehlschlüsse, und in der Logik gibt es nun mal nur "richtig" und "falsch" kein "falsch, aber nicht so schlimm". Das Is-Ought-Problem besagt nun mal, dass zwischen Sein und Sollen keine (direkte) logische Verknüpfung besteht, was die gegenseitige Ableitbarkeit angeht. Es geht hier wohlgemerkt um die logische Struktur normativer Argumentationen, nicht um die Feststellung, dass auch für die Existenz von Normen die Existenz der physischen Welt eine notwendige Voraussetzung darstellt. Das ist richtig, aber trivial, und gilt für alle Begriffe, Ideen und Abstraktionen.

Zappa hat geschrieben:Für mich folgt Sollen natürlich aus dem Sein, nämlich im Rahmen einer Handlungentscheidung oder eines Handlungsvorschlages (beides im Moment ihrer Umsetzung Tatsachen) unter Bezug auf menschengemachte Normen. Letztere sind keine natürlichen, sondern kulturelle Tatsachen.

Dann redest du hier aber über die Bedingungen der Existenz von Normen und nicht über ihre Begründung. Anscheinend gehst du davon aus, die Hinweise auf den naturalistischen Fehlschluss gingen mit der Annahme einher, eine Norm sei etwas außerphysisches, das ähnlich einem unbewegten Beweger auf die materielle Welt einwirken würde. Das ist aber ja nun überhaupt nicht das Thema. Natürlich sind Normen im Moment ihrer Äußerung oder Verwirklichung existent (meines Erachtens aber nicht im Sinne platonischer Ideen, sondern gebunden an ein interpretierendes Bewusstsein, also an stattfindende Hirnprozesse) und natürlich sind sie insofern Teil des Seins. Das sagt aber ja nichts über ihren geistigen Inhalt aus genausowenig wie sich die Frage, ob "Vom Winde verweht" ein Kitschschinken oder ein großartiger Film ist, eben nicht dadurch entschieden oder überhaupt irgendwie groß beeinflusst wird, dass das Filmband, auf dem er gespeichert ist, eine physische Existenz hat.

Mein Verdacht ist, dass der naturalistische Fehlschluss so populär ist, weil sich Normen so schlecht ins Verständnisraster eines empirisch-naturwissenschaftlich gefärbten Denkens einpassen lassen (die Nennung von Hermeneutik löst ja da leider regelmäßig akute Anfälle von Ekelgefühlen aus). Das hat meines Erachtens viel damit zu tun, dass Begründen, Argumentieren, Interpretieren, Verstehen ein dynamischer, kontextueller Prozess ist, also nur über die Zeit und nur holistisch betrachtet werden kann. Aus der Empirie ist man ja im wesentlichen ein statisches Weltbild mit isolierten Faktoren gewohnt, und vielleicht hebst du deshalb auch darauf ab, dass "im Moment ihrer Umsetzung" (isolierter, statischer Querschnitt!) Normen als Tatsachen existieren. Das stimmt zwar, ist aber für den Begründungsprozess von Normen wiederum eine wertlose Feststellung, weil jede Aussage, egal ob normativ oder deskriptiv, während sie getätigt wird, eine Tatsache ist. Nur was folgt daraus? Dass die Aussage "1+1=5 weil Angela Merkel vom Mars kommt" im Augenblick ihrer Äußerung Faktizität besitzt, ist klar, sagt aber nichts darüber aus, ob die Aussage gut begründet, plausibel, logisch konsistent etc. ist. Sowas kann nur von innerhalb des interpretierenden Prozesses entschieden werden und nicht dadurch, dass man von "außen" misst, wann welche Aussage mit welchen Buchstabenfolgen, in welcher Lautstärke usw. geäußert wurde. Das erzeugt zwar Tatsachenwissen über die physischen Seins-Bedingungen der Aussage, aber keines über ihren diskursiven Gehalt. Und ich glaube, dass da naturwissenschaftlich denkende Menschen sehr schnell (und fälschlicherweise) davon ausgehen, jemand hätte einen Dualismus und eine geistige Parallelwelt zur physischen postuliert, und würde dadurch irgendwie dem Übernatürlichen Tür und Tor öffnen. Das folgt aber nicht, nur weil Diskurse, Begründungen, Normen etc. sich nicht mit klassischen positivistischen Methoden analysieren lassen.

Zappa hat geschrieben:Konnte ich mich einigermaßen verständlich machen? :ka:

Das Thema ist nicht ganz leicht zu verbalisieren, aber wir kriegen uns schon gegenseitig zum Verstehen. Vielleicht habe ich ja jetzt einfach auch nur jede Menge Zeug erzählt, dass du eigentlich schon wusstest.

@Lumen:
Frage doch mal Menschen mit Down-Syndrom, was sie mit der Aussage "Ich hätte besser nie geboren werden sollen" anfangen können...
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon xander1 » Do 18. Sep 2014, 23:06

Mal nicht zum Downsyndrom: Aber bei einigen psychischen Erkrankungen mit Erbfaktor ist es so, dass im Leben verteilt unterschiedlich stark ausgeprägt ist, dass man Lebensmüde ist und sich wünscht nie geboren worden zu sein.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Fr 19. Sep 2014, 10:49

Zappa hat geschrieben:Soziale Normen zeichnen sich ja dadurch aus, dass gegen sie im Gegensatz zu Naturgesetzen verstoßen werden kann.

Genau das ist der Punkt.
Da das wenigstens imlizit auch jeder weiß, hat sich die „Liga gegen die Schwerkraft“ oder die „Protestpartei gegen das Atmen“ noch nicht gegründet.
Man fordert und beschließt Dinge, die man einhalten, gegen die man aber genau deshalb auch verstoßen kann. 50 km/h in geschlossenen Ortschaften oder rechts vor links sind keine Naturgesetze. Dass nur Mann und Frau heiraten können ist kein Naturgesetz.
Genau deshalb ist der NF nie ein Argument. Wo es ohnehin nicht anders geht, die Natur es – metaphorisch gesprochen – so gewollt hat, da verhält es sich ja bereits so. Man braucht nicht zu fordern, dass Energie im geschlossenen System erhalten bleiben sollte, es ist der Fall und sofern die Thermodynamik stimmt, ein Eckpfeiler unserer Welt.
Dass man seinen „Trieben“ (über die der Mensch kaum verfügt und die eigentlich Affekte sind) ungehemmt freien Lauf lassen muss, ist nicht der Fall und darum ist Impuls- oder Affektkontrolle eine Forderung der Gesellschaft an das Individuum, dem unterstellt wird, dass es auch anders kann.
Die Forderung ist immer, dass etwas so nicht sein muss, auch wenn es schwerfällt, das umzusetzen, auch wenn es manchmal ein Ideal ist.

Der NF lebt immer von der Behauptung, dass etwas genauso sein muss (oder sein sollte, wie es ist). Er wird an der Stelle selbstwidersprüchlich, wo die Praxis bereits erweist, dass etwas anders möglich ist. Da grätschen dann Religiöse und lustigerweise auch einige Naturalisten rein und sagen, so habe Gott oder die Natur das nicht vorgesehen, aber ihre Panik gründet darauf, dass es ja schon anders gemacht wird.
Der NF wird als Forderung unnötig, wo etwas tatsächlich nicht anders gemacht werden kann. Das geht ja dann tatsächlich nicht.


@ Jounk33:

Mir ist klar, was Du Lumen mit Deiner Aufzählung des Lebens als Geschichte der fortlaufenden Unfähigkeit, des Verlustes und so weiter verdeutlichen willst.

Aus einem lesenswerten Interview mit einem Glücksforscher, der eine 45 Jahre währende Studie ausgewertet hat:

„Die meisten Menschen empfinden Altern kaum als Vergnügen.“

„Der Tod ist die große Unbekannte, die wir alle fürchten. Als ich fünfzig war, empfand ich das Altern als Verfall und Hässlichkeit. Die meisten Menschen schließen aber zum Ende hin ihren Frieden damit. Sie erkennen, dass man die Zeit nicht anhalten kann, ohne zu fossilisieren. Denjenigen der Studie, die nicht an Alzheimer, Alkohol oder Depressionen litten oder leiden, scheint das zu gelingen. Aber kommen wir zum Guten: Das Wunderbare am Gehirn ist, dass es ab zwanzig mit dem Körper bergab geht, das Gehirn jedoch besser wird. Mit fünfzig kann ein Schriftsteller Dinge schreiben, die er als Zwanzigjähriger niemals hätte schreiben können.“
Quelle: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte ... /39739/2/1

Damit zu

@ xander1

und den Depressionen:
xander1 hat geschrieben:Mal nicht zum Downsyndrom: Aber bei einigen psychischen Erkrankungen mit Erbfaktor ist es so, dass im Leben verteilt unterschiedlich stark ausgeprägt ist, dass man Lebensmüde ist und sich wünscht nie geboren worden zu sein.
Entweder rennt man da komischen Philosophen nach oder man leidet wirklich an einer Depression. Es gibt leider einige wenige offenbar vollkommen ausweglose Depression, aber das sind die wenigen allerschlimmsten Fälle.
Ansonsten ist es so, dass die genetische Komponente überschaubar ist. Bei eineiigen Zwilligen und eine größere genetische Annäherung ist nicht möglich, ist es so, dass selbst wenn der eine Zwilling eine Depression hat, wie Wahrscheinlichkeit des anderen, eine zu bekommen lediglich bei 50% liegt.
Ich habe selten eine Erkrankung gefunden, bei der so viele mögliche Ursachen diskutiert werden, wie bei der Depresssion.
Vgl.: http://www.psyheu.de/1779/depressionen- ... genetisch/
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon xander1 » Fr 19. Sep 2014, 11:50

Also um mal Krankheiten aufzuzählen außer der Depression, bei der der Drang zum Tod oder nicht geboren sein zu wollen vorhanden ist: Borderline (aber die reden mehr vom Tod als dass sie sich umbringen), Psychotiker / Schizophrene (10% Selbstmordrate)

Auch wenn man bei Depressionen sich selbst umbringt, kann man es so formulieren, meiner bescheidenen Meinung nach, dass diese Krankheit tödlich sein kann. Leider darf man selbst heutzutage nicht zugeben wenn man depressiv ist, selbst anderen die mal kurze Zeit depressiv waren nicht. Es gibt da teilweise kein Verständnis. Und das bei einer Krankheit mit so einer hohen Gefahr zu sterben.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Fr 19. Sep 2014, 13:22

@ xander1:

Ja, Depression ist nicht die einzige psychische Erkrankung, bei der man in der Gefahr steht sich selbst umzubringen, aber die bei weitem gefährlichste im Hinblick auf Selbsttötung.

Borderliner, da hast Du recht, drohen eher mit Selbstmord, als ihn zu vollziehen und wenn, ist es eher ein Unfall, als ernst gemeint. Eine Ausnahme sind schwere Essstörungen, die auch mit Borderline-Störungen assoziiert sind.
Im Rahmen psychotischer, also wahnhafter Welten ist der Suizid leider auch ein seltene Option, auch Narzissten bringen sind gelegentlich um, der Gott zieht sich in seine Welt zurück.

Dass die gesellschaftliche Toleranz gegenüber psychischen Erkranungen gering ist – was nicht selten selbst Ausdruck einer psychischen Erkrnakung ist -, ist leider wahr und sollte behoben werden. Realistisch gesehen stehen die Chancen dafür aber momnetan nicht gut.
Leider leben wir derzeit in einer Zeit, die narzisstische, paranoide und depressive Erkrankungen stark fördert.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Zappa » Fr 19. Sep 2014, 18:23

Nanna hat geschrieben:Was meinst du damit, dass Normen auf Tatsachen gründen (ich interpretiere es mal als physische Existenz und sage unten was dazu, kann aber sein, dass du es ganz anders meintest)? Vielleicht hast du ein Beispiel, an dem du das erläutern kannst?

Das heißt Normen sollen möglichst wenig spekulativ begründet werden, vielmehr durch Tatsachen begründbar oder zumindest nicht falszifizierbar sein. Beim Thema Abtreibung sind Normen wie, "mit der Empfängnis wird dem Kind ein (göttliche) Seele eingehaucht" oder "bis zur Geburt (x-ten Woche) hat das Kind kein Selbstbewusstsein/kein Schmerzempfinden" rein spekulative Aussagen und Normen, die darauf gründen (pro bzw. contra Abtreibung) rein spekulative Normen. Ich würde es immer vorziehen nach tatsächlichen Begründungen (Hinweise auf die Existenz von Seele, Schmerzreizen oder Bewusstsein) zu suchen.

Nanna hat geschrieben:Das Is-Ought-Problem besagt nun mal, dass zwischen Sein und Sollen keine (direkte) logische Verknüpfung besteht, was die gegenseitige Ableitbarkeit angeht. Es geht hier wohlgemerkt um die logische Struktur normativer Argumentationen, nicht um die Feststellung, dass auch für die Existenz von Normen die Existenz der physischen Welt eine notwendige Voraussetzung darstellt. Das ist richtig, aber trivial, und gilt für alle Begriffe, Ideen und Abstraktionen.

Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Ist es nicht so, dass Sollenssätze falszifizierbar sind, wenn sie Tatsachen (Sein) widersprechen? Natürlich kann ich aus dem Sein nicht (induktiv) einen Sollenssatz direkt ableiten, genausowenig kann ich aber rein spekulativ (deduktiv) vorgehen.

Nanna hat geschrieben: Anscheinend gehst du davon aus, die Hinweise auf den naturalistischen Fehlschluss gingen mit der Annahme einher, eine Norm sei etwas außerphysisches, das ähnlich einem unbewegten Beweger auf die materielle Welt einwirken würde.

Das ist in der Tat der Hintergrund meines Missbehagens und das Argument wird ja oft genau so benutzt. Mir ist die Verbindung zwischen der nicht rein physischen Norm und der materiellen Welt ein wichtiges Anliegen.

Nanna hat geschrieben: Mein Verdacht ist, dass der naturalistische Fehlschluss so populär ist, weil sich Normen so schlecht ins Verständnisraster eines empirisch-naturwissenschaftlich gefärbten Denkens einpassen lassen (die Nennung von Hermeneutik löst ja da leider regelmäßig akute Anfälle von Ekelgefühlen aus). Das hat meines Erachtens viel damit zu tun, dass Begründen, Argumentieren, Interpretieren, Verstehen ein dynamischer, kontextueller Prozess ist, also nur über die Zeit und nur holistisch betrachtet werden kann. Aus der Empirie ist man ja im wesentlichen ein statisches Weltbild mit isolierten Faktoren gewohnt, und vielleicht hebst du deshalb auch darauf ab, dass "im Moment ihrer Umsetzung" (isolierter, statischer Querschnitt!) Normen als Tatsachen existieren. Das stimmt zwar, ist aber für den Begründungsprozess von Normen wiederum eine wertlose Feststellung, weil jede Aussage, egal ob normativ oder deskriptiv, während sie getätigt wird, eine Tatsache ist. Nur was folgt daraus? Dass die Aussage "1+1=5 weil Angela Merkel vom Mars kommt" im Augenblick ihrer Äußerung Faktizität besitzt, ist klar, sagt aber nichts darüber aus, ob die Aussage gut begründet, plausibel, logisch konsistent etc. ist. Sowas kann nur von innerhalb des interpretierenden Prozesses entschieden werden und nicht dadurch, dass man von "außen" misst, wann welche Aussage mit welchen Buchstabenfolgen, in welcher Lautstärke usw. geäußert wurde. Das erzeugt zwar Tatsachenwissen über die physischen Seins-Bedingungen der Aussage, aber keines über ihren diskursiven Gehalt. Und ich glaube, dass da naturwissenschaftlich denkende Menschen sehr schnell (und fälschlicherweise) davon ausgehen, jemand hätte einen Dualismus und eine geistige Parallelwelt zur physischen postuliert, und würde dadurch irgendwie dem Übernatürlichen Tür und Tor öffnen. Das folgt aber nicht, nur weil Diskurse, Begründungen, Normen etc. sich nicht mit klassischen positivistischen Methoden analysieren lassen.

Ich glaube, das ist in der Tat des Pudels Kern, wobei Naturwisswenschaftler durchaus Geduld haben und in langen Zusammenhängen denken können. Es ist nicht so sehr das Problem, dass Hermeneutik ein komplexer, selbstbezüglicher Prozess ist, der seine eigenen Methoden hat. Das ist Naturwissenschaft, richtig verstanden durchaus auch. Das Problem ist der unterschiedliche Wahrheitsbegriff, bzw. die unterschiedlich starke Potenz der Falsifikationsmöglichkeit.

Naturwissenschaftler haben eine grundsätzliche Abneigung gegen nicht falszifizierbare Thesen und trauen der Hermeneutik da nicht so ganz. Du musst auch zugeben, dass es sehr spekulative, hermeneutische Methoden gibt, die dieses Misstrauen rechtfertigen (von der theologischen Scholastik bis zum Existenzialismus). Da ich der Diskursethik positiv gegenüber stehe, lehne ich hermeneutische Methoden aber natürlich nicht ab, halte sie sogar für notwendig.

Du hast aber mit dem Beispielsatz schön gezeigt, dass Faktizität bei sprachlichen Entitäten etwas ganz anderes bedeutet, als in den Naturwissenschaften (wo sie eng verwandt oder sogar identisch mit dem Attribut wahr ist). Was ich aber nach wie vor nicht verstehe: Woher kommt der Wahrheitsanspruch, wenn er sich nicht auf real existierende Tatsachen beziehen kann? Widerspruchsfreiheit reicht ja nicht, reicht diese in Kombination mit Nützlichkeit? Und wenn ja, wie ist Nützlichkeit definiert?

Ich gebe zu, das ich Anhänger der absolutistischen Wahrheitstheorie bin ("ein Satz ist nur dann wahr, wenn er mit den Tatsachen übereinstimmt"), insofern ist es für mich wichtig zu verstehen, was eine sprachliche und was eine normative Tatsache ist, im Sinne von wahr und nicht einfach nur "hervorgebracht". Wird aus einer Sprachlichen Aussage eine "wahre" Aussage z.B. eine gültige Norm, wenn sie einen gewissen hermeneutischen Prozess erfolgreich abgeschlossen hat?
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Lumen » Fr 19. Sep 2014, 19:39

Sollte eine Droge zugelassen werden, die Menschen wieder auf das geistige Niveau eines 8 jährigen versetzt, diese Menschen aber glücklich macht, obwohl sie z.T. starke Einschränkungen ihrer Seh- und Hörfähigkeit erleben und nach etwa 30 Jahren ihre Sprachfähigkeit ganz verlieren können? (diese Menschen verlieren gleichzeitig ihr wissen wie es vorher war). Welche Gründe sprechen dagegen? Hier werden die Indivduuen sogar selbst gefragt. Angenommen, ein Betroffener, wie Nanna es fordert, sagt, das sei ganz toll und sei glücklich damit, sollte es dann erlaubt sein? Könnte diese Droge auch zufällig Menschen verabreicht werden, denn es macht sie ja, laut Nanna, glücklich und sie sehen kein Problem damit.

Ich habe stark das Gefühl, dass manche hier sich nicht sehr viel Gedanken machen. Eine Mischung aus allgemeiner Abtreibungsgegnerschaft und diffusen Euthanasie-Ängsten (vor allem durch Konnotationen) sind die treibene Begründung und keine vernünftigen Überlegungen die echte Empathie mit einschließt.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Jounk33 » Fr 19. Sep 2014, 22:23

Vollbreit,
Nunja, das meine ich im grossen ganzen. Die Probleme die mittlerweile viele Alte (also Rentner) mit dem Alter haben kommt einerseits davon weil man mit verringerten Leistungsfähigkeiten keinen wirklichen Sinn mehr für sich selbst entdecken kann. Eben deshalb weil die Akzeptanz gegenüber Behinderung und Krankheit und Alter allgemein gesellschaftlich absinkt. Wer krank wird steht erst mal leicht unter Verdacht falsch zu leben, wer im Alter deutlich an Leistung und Attraktivität einbüst, dem wird nicht selten zu Vorwurf gemacht er hätte zu wenig Sport und Aktivität ausgeübt. Das sind jetzt zwei beispiele die mittlerweile bereits aktiv in der Gesellschaft Bestand haben und Anwendung finden um (gebrechliche) Alte sozial unsichtbar zu machen und ausserhalb der "normalen" Gesellschaft nurnoch sichtbar sein sollen. Gebrechen, Krankheit und sichtbares Alter wird dem Betroffenen immer mehr zum Vorwurf gemacht, anstatt das so zu akzeptieren oder respektieren wie es ist, dass das das Leben und das Alter eben mit sich bringen kann und wahrscheinlich auch mitbringt. Demzufolge sinkt auch stark der Respekt vor dem Alter, oder Verständnis und Hilfsbereitschaft für Krankheit und Behinderung.
Wenn jetzt wieder ernsthaft diskutiert wird, dass es doch besser sei zu erwartende Behinderungen abzutreiben, dann bestätigt das irgendwie meine Beobachtung, dass nicht normgerechte Leben zum "Fall" werden und aus dem Bereich von normgerechten Leben ausgegliedert werden sollen. So halt, damit die Normgerechten nicht mit ihrerm eigenen sicheren Zerfall kontfrontiert werden.
Deshalb sind immer mehr Alten immer mehr unglücklich. Deshalb gelingt es auch immer wenigeren Menschen im Alter irgendwie Frieden und Klarheit mit ihrem gelebten Leben und der Welt zu finden, nun und dann werden die halt echt problematisch.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon xander1 » Fr 19. Sep 2014, 23:38

Die Frage ist wann Leben anfängt im Bauch der Mutter. @Jounk33
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Sa 20. Sep 2014, 08:15

@ Jounk33:

Jounk33 hat geschrieben:Nunja, das meine ich im grossen ganzen. Die Probleme die mittlerweile viele Alte (also Rentner) mit dem Alter haben kommt einerseits davon weil man mit verringerten Leistungsfähigkeiten keinen wirklichen Sinn mehr für sich selbst entdecken kann. Eben deshalb weil die Akzeptanz gegenüber Behinderung und Krankheit und Alter allgemein gesellschaftlich absinkt. Wer krank wird steht erst mal leicht unter Verdacht falsch zu leben, wer im Alter deutlich an Leistung und Attraktivität einbüst, dem wird nicht selten zu Vorwurf gemacht er hätte zu wenig Sport und Aktivität ausgeübt. Das sind jetzt zwei beispiele die mittlerweile bereits aktiv in der Gesellschaft Bestand haben und Anwendung finden um (gebrechliche) Alte sozial unsichtbar zu machen und ausserhalb der "normalen" Gesellschaft nurnoch sichtbar sein sollen. Gebrechen, Krankheit und sichtbares Alter wird dem Betroffenen immer mehr zum Vorwurf gemacht, anstatt das so zu akzeptieren oder respektieren wie es ist, dass das das Leben und das Alter eben mit sich bringen kann und wahrscheinlich auch mitbringt. Demzufolge sinkt auch stark der Respekt vor dem Alter, oder Verständnis und Hilfsbereitschaft für Krankheit und Behinderung.

Ja, das sehe ich in weiten Zügen so wie Du.
Wir haben für viele Mitglieder der Gesellschaft keine positiven oder auch nur annähernd attraktiven Rollen mehr. Kostenfaktor und nutzloser Esser zu sein, ist beleidigend und entwertend. Ein vollkommen idiotisches Leistungsideal befeuert diesen Prozess.
Biologisten, die ihr Augenmerk auf Nützlichkeit und vorgebliche Gesundheit und Fitness richten (wer kann schon was dagegen haben?) spielen ihre Rolle in diesem unerfreulichen Spiel.

Aber diese kalten, funtionalen und narzisstischen Perfektionsansprüche fallen leider auf einen fruchtbaren Boden und ich bin pessimistisch gestimmt, ob sich daran in den nächsten Jahrzehnten etwas ändern wird.

Jounk33 hat geschrieben:Wenn jetzt wieder ernsthaft diskutiert wird, dass es doch besser sei zu erwartende Behinderungen abzutreiben, dann bestätigt das irgendwie meine Beobachtung, dass nicht normgerechte Leben zum "Fall" werden und aus dem Bereich von normgerechten Leben ausgegliedert werden sollen. So halt, damit die Normgerechten nicht mit ihrerm eigenen sicheren Zerfall kontfrontiert werden.
Der wirtschaftliche und soziale Druck könnte dafür sorgen, dass wir uns neue Modelle des Zusammenlebens überlegen, die den Charakter von Wahlverwandtschaften, einem Dorf in der Stadt, Mehrgeneartiopnsnhäusern oder -siedlungen und einer gemächlichere Lebensführung haben.
Mit dem herkömmlichem Modell fährt der Karren mit Vollgas vor die Wand und ist schon längst dabei.

Jounk33 hat geschrieben:Deshalb sind immer mehr Alten immer mehr unglücklich. Deshalb gelingt es auch immer wenigeren Menschen im Alter irgendwie Frieden und Klarheit mit ihrem gelebten Leben und der Welt zu finden, nun und dann werden die halt echt problematisch.
Gibt's da nicht was von Ratiopharm? :mute:


@ Lumen:

Falsche Analogie, Lumen, leider wie so oft.
Niemand hat gefordert, dass man Menschen schädigen soll.
Die Frage lautet vielmehr, ob man das Leben von Menschen verhindern soll, die so und so zur Welt kommen und wo die Grenze liegt und wie Du diese begründest.
Argumentiert man statistisch könnte man auch Alkoholikerkinder, Unterschichtenkinder und so weiter abtreiben.
Leider hast Du darauf bisher nicht geantwortet, sondern verschwurbelst und vernebelst. :hallo:

Und ansonsten:
Lumen hat geschrieben:Sollte eine Droge zugelassen werden, die Menschen wieder auf das geistige Niveau eines 8 jährigen versetzt, diese Menschen aber glücklich macht, obwohl sie z.T. starke Einschränkungen ihrer Seh- und Hörfähigkeit erleben und nach etwa 30 Jahren ihre Sprachfähigkeit ganz verlieren können?

Doch, ich finde, der Alkohol sollte uns erhalten bleiben.

Auf Dystopien à la Schöne neue Welt brauchst Du nicht hinzuweisen, das hat Aldous Huxley Dir bereits abgenommen.
Du scheinst aber nicht begriffen zu haben, was daran dystopisch ist. Nicht das Glück, sondern die unkritisch machende Sedierung, das maximal vernünftig durchorganisierte Leben:
Wikipedia hat geschrieben:Die Weltregierung beschloss daher eine langfristige friedliche Reformation. Um eine fortwährend glückliche und wohlhabende Gemeinschaft zu schaffen, wurde Propaganda gegen die natürliche Fortpflanzung gemacht und die ersten Brut- und Aufzuchtzentren geschaffen. Diese Kampagne beinhaltete auch das Schließen sämtlicher Museen, die Zerstörung aller Denkmäler und das Verbot aller vor dem Jahr 150 A.F. verfassten Bücher. Der Roman spielt im Jahr 632 A.F., zu einer Zeit, in der sich der Weltstaat vollständig etabliert hat und fast alle Menschen auf der Erde unter seiner Kontrolle stehen. Es herrscht ein totalitäres, jedoch nicht gewalttätiges politisches System. Ein Relikt der alten „primitiven“ Kultur wird in einem kleinen isolierten Reservat von der Weltregierung geduldet. Die Menschen im Reservat leben in einer traditionellen Stammeskultur, die natürliche Lebensvorgänge wie Geburt, Krankheit und Altern einschließt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%B6 ... _Weltstaat


Dass der gesunde Volkskörper leider nicht nur eine Dystopie war, sondern anzustreben versucht wurde, sollte man wissen.
Die Kritik ist immer die gleiche: Egal welche vermeintlich noblen Motive der Vorturner hat, den eigenen Verstand zu benutzen ist die bessere Option:
Immanuel Kant hat geschrieben:AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen [A482] (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.
http://www.uni-potsdam.de/u/philosophie ... fklaer.htm
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Nanna » Sa 20. Sep 2014, 22:50

Zappa hat geschrieben:Das heißt Normen sollen möglichst wenig spekulativ begründet werden, vielmehr durch Tatsachen begründbar oder zumindest nicht falszifizierbar sein. Beim Thema Abtreibung sind Normen wie, "mit der Empfängnis wird dem Kind ein (göttliche) Seele eingehaucht" oder "bis zur Geburt (x-ten Woche) hat das Kind kein Selbstbewusstsein/kein Schmerzempfinden" rein spekulative Aussagen und Normen, die darauf gründen (pro bzw. contra Abtreibung) rein spekulative Normen. Ich würde es immer vorziehen nach tatsächlichen Begründungen (Hinweise auf die Existenz von Seele, Schmerzreizen oder Bewusstsein) zu suchen.

Aber das sind ja nun keine Normen, sondern deskriptive Aussagen. Ob ein Kind in der soundsovielten Woche Schmerz empfinden kann, ist, wenn überhaupt, nur mit den Mitteln der Naturwissenschaft ermittelbar. Eine Norm ist erst die Handlungsanweisung an uns, was wir mit diesem Faktenwissen tun. Aus der Tatsachenfeststellung (rein fiktives Beispiel, ich kenne mich da überhaupt nicht aus) "Ein Kind hat in der 8. Woche Schmerzempfinden" folgt nicht, dass wir in der 8. Woche nicht abtreiben dürfen, sondern eben nur rein beschreibend, dass es dem Kind weh tun wird, wenn wir es machen. Die Norm wäre z.B. dann zu sagen "Das Kind darf nur bis zur 8. Woche abgetrieben werden" und die Begründung wäre "Das Kind hat Schmerzempfinden und im Sinne der Leidvermeidung dürfen wir ihm diese Schmerzen nicht zufügen."

Falsifiszierbar sind Normen nie, weil sie ja keinen empirischen Gehalt haben. Nur falls empirisches Wissen im Rahmen der Begründung auftaucht, kann dieses gesondert untersucht werden, und das kann selbstverständlich die gesamte Norm hinfällig werden lassen, etwa, wenn sich doch herausstellt, dass Föten kein Schmerzempfinden haben.

Zappa hat geschrieben:Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Ist es nicht so, dass Sollenssätze falszifizierbar sind, wenn sie Tatsachen (Sein) widersprechen? Natürlich kann ich aus dem Sein nicht (induktiv) einen Sollenssatz direkt ableiten, genausowenig kann ich aber rein spekulativ (deduktiv) vorgehen.

Ich würde vorsichtiger sagen, dass eine Norm undurchführbar und dadurch hinfällig sein kann. Die Forderung "Alle Menschen sollen befähigt werden, ihre Zukunft aus Erdstrahlen zu lesen", scheitert bei jedem beliebigen Bildungsaufwand einfach an der Nichtexistenz von Erdstrahlen und der Unmöglichkeit, die Zukunft vorherzusagen, ganz gleich, ob man theoretisch findet, dass die Menschen das können sollten.

"Spekulation" ist bei Normen der falsche Ausdruck, weil Normen immer menschengemachte Konstrukte sind. Normen existieren in dem Augenblick, in dem sie jemand aufstellt, sie sind insofern nie spekulativ. Sie ähneln in vielerlei Hinsicht, auch formallogisch, der Definition, sind im weiteren Sinne sogar welche, weil ein bestimmtes Verhalten als wünschens- oder vermeidenswert definiert wird. Spekulationen können sich dagegen nur auf Tatsachenwissen, also auf Deskriptionen von empirischen Tatsachen beziehen.

Aber wie gesagt: Widersprechen normative Forderungen dem, was dem Erfahrungswissen nach unmöglich sein muss (s.o.), dann ist die Norm hinfällig, weil sie physisch unmögliche Bedingungen voraussetzt. Es kommt gar nicht so selten vor, dass man eine Norm so entkräften kann. Wenn Leute etwa sagen, dass Kinder von Impfungen fern gehalten werden sollen, weil sie durch sie Gesundheitsrisiken ausgesetzt werden, dann muss man nicht lange mit normativen Theorien hantieren, es reicht, die einschlägigen Statistiken anzuführen und die empirischen Teile der Normenbegründung zu widerlegen, dadurch wird dann ja auch der logische Folgeschluss falsch.

Zappa hat geschrieben:Mir ist die Verbindung zwischen der nicht rein physischen Norm und der materiellen Welt ein wichtiges Anliegen.

Ganz schwieriges Thema. Einerseits ist der Dualismus Quatsch, andererseits können wir in unseren Gehirnen Abstraktionen, alternative Realitäten, differentielle Sprachsysteme, spekulative Begriffe etc. entstehen lassen, die eindeutig als Simulation auf einem physischen "Rechner" laufen (unserem Gehirn), andererseits völlig unstrittig keine physischen Referenten haben. Unsere Vorstellungen von supernaturalistischen Entitäten etwa sind in Form der Neuronenzustände in unserem Gehirn einerseits physisch und real, andererseits eben als eigenständige Entitäten physisch nicht-existent und auch beispiellos. Nicht wir sind Kreationen Gottes, sondern Gott ist unsere Kreation. Aber was heißt das nun über die Existenz Gottes? Er existiert ja offensichtlich in Form einer Vorstellung, die einerseits real ist, aber einen irrealen Inhalt simuliert. Unsere ganze Sprache baut auf dieser Fähigkeit auf, dass wir eine ziemlich paradoxe Parallelwelt schaffen, in der dann nicht nur Götter und Engel, sondern eben auch "böse Nachbarn", "interessante Freunde", "langweilige Fernsehserien" usw. existieren können. Natürlich gibt es für all diese Begriffe physische Referenten, aber wie misst man - rein naturwissenschaftlich auf direktem Weg über ein Messgerät -, dass jemand a) "interessant" und b) ein "Freund" ist?

Es ist schwer, über Sprache als solche zu sprechen, weil darin (höchst offensichtlich) ein inhärenter Selbstbezug steckt. Und gleichzeitig sind unsere Vorstellungen von der physischen Welt ebenfalls solche virtuellen Abstraktionen, was das ganze nicht einfacher macht...

Übrigens, wir kommen vom Thema in eine ziemliche Grundsatzdiskussion ab. Aber macht nichts, denke ich.

Zappa hat geschrieben:Woher kommt der Wahrheitsanspruch, wenn er sich nicht auf real existierende Tatsachen beziehen kann? Widerspruchsfreiheit reicht ja nicht, reicht diese in Kombination mit Nützlichkeit? Und wenn ja, wie ist Nützlichkeit definiert?

In meiner Signatur steht dieser etwas kontextlose Satz von Ernesto Laclau "Reason is necessary, but it is also impossible.". Mit dem Satz ist - so in etwa - gemeint, dass wir die Vernunft (und damit einhergehend auch die Empirie) als Aufklärungsinstrument dringend brauchen, gleichzeitig mit ihr aber viele grundlegende und wichtige Fragen über die Welt prinzipiell nicht klären können werden. Letztlich ist der Grundgedanke dahinter meines Erachtens von Popper nicht so arg weit weg: Wir können letztlich nur bestehende Aussagen negieren, weil wir Widersprüche entweder in der logischen Struktur der Theorie/des Arguments oder in der empirischen Überprüfung entdecken. Wir können aber keine Argumente oder Aussagen über die Welt verifizieren. Damit geht eine im Prinzip sehr weitreichende Absage an einen emphatischen Wahrheitsbegriff bezüglich der empirischen Welt einher, weil man eben nicht so genau wissen kann "wie es wirklich ist", sondern in seiner Vorstellung von der Welt gefangen bleibt und auch ein quantitativer Zugewinn an Rationalität, Empirie und Daten am qualitativen Problem nichts ändert. Und dem stimme ich zu. Es wird insofern weder letztgültige Bestätigungen empirischen, deskriptiven Wissens geben, noch eine Letztbegründung für Normen. Wir werden in der Naturwissenschaft immer mehr schlechte Theorien falsifiszieren und durch bessere ersetzen und wir werden unsere Normen immer mehr verfeinern, abstrahieren und durch die Konfrontation mit immer mehr Geschichte und Einzelfällen verallgemeinerbarer machen können und dadurch besser Normen schaffen können, aber dieser Prozess ist offen und in die Ewigkeit fortschreibbar, er kennt kein Ziel, bei dem man bei der Wahrheit ankommt, und das gilt für egal welche Aussage. Allenfalls innerhalb logischer Systeme mit vorab definierten Axiomen (also im wesentlichen in der Mathematik) sind universalgültige Aussagen möglich, aber die bleiben eben auf das vordefinierte Binnenterritorium beschränkt.

Ich denke, das banale Kriterium für neue Normen ist schlichtweg das, dass sie besser (widerspruchsfreier, plausibler, vollständiger,fairer) als ihre Vorgänger sein müssen.

Zappa hat geschrieben:Ich gebe zu, das ich Anhänger der absolutistischen Wahrheitstheorie bin ("ein Satz ist nur dann wahr, wenn er mit den Tatsachen übereinstimmt"), insofern ist es für mich wichtig zu verstehen, was eine sprachliche und was eine normative Tatsache ist, im Sinne von wahr und nicht einfach nur "hervorgebracht". Wird aus einer Sprachlichen Aussage eine "wahre" Aussage z.B. eine gültige Norm, wenn sie einen gewissen hermeneutischen Prozess erfolgreich abgeschlossen hat?

Normen sind, wie du es ausdrückst, immer "hervorgebracht", sie haben keinen Wahrheitsgehalt. Sie sind Anweisungen darüber, wie die Wirklichkeit gestaltet sein sollte, um bestimmten moralischen Kriterien zu genügen und diese Kriterien werden im Laufe eines Diskurses festgelegt. Du magst ja beispielsweise John Rawls sehr gerne. Dessen Schleier des Nichtwissens stellt ja so eine Modellvorstellung dar, mit der man moralische Kriterien aufstellen kann, wobei das Metakriterium die Gleichberechtigung der Beteiligten ist, in der fiktiven Gesellschaft nicht unfair behandelt und ausgebeutet zu werden. Daran ist aber nichts im empirischen Sinne wahr (außer, dass die Theorie existiert).

Ich kann dazu noch mehr (und hoffentlich auch etwas pointierter und klarer zugespitzt) schreiben, nur leider heute nicht mehr. Durchschlafen war mal. ;-)
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Zappa » Mi 24. Sep 2014, 18:14

Nanna hat geschrieben:"Spekulation" ist bei Normen der falsche Ausdruck, weil Normen immer menschengemachte Konstrukte sind. Normen existieren in dem Augenblick, in dem sie jemand aufstellt, sie sind insofern nie spekulativ. Sie ähneln in vielerlei Hinsicht, auch formallogisch, der Definition, sind im weiteren Sinne sogar welche, weil ein bestimmtes Verhalten als wünschens- oder vermeidenswert definiert wird. Spekulationen können sich dagegen nur auf Tatsachenwissen, also auf Deskriptionen von empirischen Tatsachen beziehen.

Ich denke, eine Norm hängt niemals in der Luft, sie muss immer begründet - "und da wo es weh tut gut begründet" - sein, sonst hält sich kaum jemand aus freien Stücken dran. Eine "gute" Norm ist ja der Versuch eine Verhaltensregel gewaltfrei zu etablieren, appelliert also notwendig an die Vernunft. Eine spekulative Norm kann ich nur mit Gewalt oder Verdummung durchsetzen, für alles andere brauche ich möglichst gute (empirische) Belege.

Ich sehe also beim Formulieren einer Norm keinen großen Sprung, nur einen kleinen Schritt: Weil das belegbar so und so ist, sollten wir alle das so machen, damit dieses und jenes Ziel erreicht wird. Normen begründen sich aus Tatsachen und streben Tatsachen als Ziele an, sind also also dem Sein mehr verbunden, als Du es z.B. Anzunehmen scheinst. Es sind keine (rein) sprachlichen Konstrukte, sondern verbalisierte, sachlich begründete Verhaltensanweisungen, die auf ein tatsächliches Ziel hinführen sollen. Anders gesagt, ein Kind wird immer "warum" Fragen dürfen ...
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Do 25. Sep 2014, 08:14

@ Zappa:

Klar, eine Norm muss immer begründet sein, aber nicht zwingend durch Gewesenes erklärt.

Begründet mit dem Blick auf ein Ziel: „Wir wollen x, weil ...“
Dabei kann es sein, dass man seine Lehren aus schlechten Erfahrungen der Vergangenheit zieht, aber es kann auch der Blick Zukünftiges, Erstmaliges, Prinzipielles sein: „Wir wollen verhindern, dass y.“

Aber der Rückgriff auf das biologische Sosein des Menschen oder das Verhalten der Paviane oder Graugänse ist für die Forschung interessant, nicht für die Ethik.
Natürlich spielt das über Bande eine Rolle. Da sich die meisten Lebenwesen bei 800°C nicht so wohl fühlen, sollte man sie nicht in solche Situationen bringen, klar, und oft ist das Ziel implizit klar, wenn man feststellt, dass giftige Schwermetalle im Kinderspielzeug sind, muss man keinen umständlichen Diskurs darüber führen, der zum Inhalt hat, dass man erst mal formuliert, dass man Kleinkinder nicht schädigen sollten, weil davon alle ausgehen.

Aber ethische relevante Diskussionen finden ja unter Experten statt und da ist die genaue Begründung und die Vermeidung von Fehlschlüssen ein zu forderndes Kriterium, so wie Du ja im Rahmen der Wissenschaft auch bestimmte Standards als unhintergehbar festgesetzt sehen willst. Warum forderst Du hier weniger als Du haben könntest?
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Zappa » Do 25. Sep 2014, 19:14

Vollbreit hat geschrieben:Begründet mit dem Blick auf ein Ziel: „Wir wollen x, weil ...“
Dabei kann es sein, dass man seine Lehren aus schlechten Erfahrungen der Vergangenheit zieht, aber es kann auch der Blick Zukünftiges, Erstmaliges, Prinzipielles sein: „Wir wollen verhindern, dass y.“

Aber grade bei der Folgeabschätzung spielt doch das (zukünftige) Sein wieder die entscheidende Rolle. Im Übrigen ist es ausgesprochen sinnvoll eine methodisch möglichst gute Folgeabschätzung abzuliefern, womit wir wieder beim zunehmenden Einfluss (Natur)wissenschaftlicher Methoden wären (s.zB. Klimawandel).

Vollbreit hat geschrieben:Aber der Rückgriff auf das biologische Sosein des Menschen oder das Verhalten der Paviane oder Graugänse ist für die Forschung interessant, nicht für die Ethik.

Sehe ich so apodiktisch als Fehlschluss an :mg:

Die Beobachtung z.B. dass Homosexualität in der Natur durchaus vorkommt hat einen relevanten Einfluss auf die Homosexualitätsdebatte gehabt, natürlich vor allem weil Gegner mit dessen Unnatürlichkeit argumentiert hatten. Die Beobachtungen von Piaget haben doch durchaus zum Verständnis der menschlichen Moralentwicklung beigetragen, die evolutionäre, genetische und verhaltensmäßige hochgradige Verwandschaft der menschlichen "Rassen" war ein wichtiges Argument gegen Rassismus etc. pp. Begründungen haben für mich sowieso notwendig einen Seinsbezug, aber das ist nur meine persönliche Meinung. Das aber Begründungen mit Seinsbezug eine besondere argumentative Kraft haben, kann doch nicht bestritten werden.

Vollbreit hat geschrieben:Natürlich spielt das über Bande eine Rolle. Da sich die meisten Lebenwesen bei 800°C nicht so wohl fühlen, sollte man sie nicht in solche Situationen bringen, klar, und oft ist das Ziel implizit klar, wenn man feststellt, dass giftige Schwermetalle im Kinderspielzeug sind, muss man keinen umständlichen Diskurs darüber führen, der zum Inhalt hat, dass man erst mal formuliert, dass man Kleinkinder nicht schädigen sollten, weil davon alle ausgehen.

Aber das geht doch viel weiter! Das Kinder eine Bezugsperson brauchen spielt bei der Betreuung von Waisen eine Rolle, das Hühner scharren wollen bei der Tierhaltung (wenn auch noch viel zu wenig), das Hunde Empathie aufbringen bei europäischen Ernährungstabus etc. pp.

Vollbreit hat geschrieben:Aber ethische relevante Diskussionen finden ja unter Experten statt und da ist die genaue Begründung und die Vermeidung von Fehlschlüssen ein zu forderndes Kriterium, so wie Du ja im Rahmen der Wissenschaft auch bestimmte Standards als unhintergehbar festgesetzt sehen willst. Warum forderst Du hier weniger als Du haben könntest?

Zunächst einmal ist das kein Expertenrefugium, natürlich gestehe ich auch hier Experten einen größeren Einfluss zu, aber entscheiden muss ich mich täglich! Hinzu kommt - ich hatte das schon mal gepostet -, das die meisten moralischen "Entscheidungen" offenbar spontan-intuitiv, quasi instinktiv ablaufen, was bei einem sozialen Wesen evolutionär natürlich hochgradig Sinn macht. Die rational Expertise wird meist nachgeliefert, ist aber interessant dass wir das zu brauchen scheinen.

Mal Butter bei die Fische: Was schätzt Du wieviel Prozent deiner moralischen Entscheidungen werden durch ethische Experten beeinflusst, wieviel durch tradierte Normen und wie viele Fälle intuitiv? Ich sag mal spontan für mich: 5, 50 und 45%!

Insgesamt, ich bleibe dabei, hat das Ganze viel mehr mit Sein als mit Sollen zu tun: Vom Entscheidungshintergrund, über die Entscheidung selber bis hin zur Folgeabschätzung praktisch nur Sein. Nur die rationale und emotionale (Über Ich und so) Begründung hat was mit Sollen zu tun, aber wie viel davon ist in Wirklichkeit als Sollen empfundenes Sein?

Für die theoretische Debatte bleibt der Unterschied zwischen Sein und Sollen weiter relevant, er ist aber mehr graduell als absolut und ich weiß nicht wie groß seine Rolle in der Praxis wirklich ist ...
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Fr 26. Sep 2014, 08:30

Zappa hat geschrieben:Aber grade bei der Folgeabschätzung spielt doch das (zukünftige) Sein wieder die entscheidende Rolle. Im Übrigen ist es ausgesprochen sinnvoll eine methodisch möglichst gute Folgeabschätzung abzuliefern, womit wir wieder beim zunehmenden Einfluss (Natur)wissenschaftlicher Methoden wären (s.zB. Klimawandel).
Ja, für viele Bereiche, weshalb man, bei Entscheidungsfindungen und Klärung, was zu tun und ob was zu tun ist, gut daran tut diverse Wissenschaftler zu befragen.
Aber wie Nanna ausführte, können die uns im besten Fall sagen, was kommen wird (und im weniger guten Fall widersprechen sie sich gegenseitig, z.B. in der Finanzkrise, bei der zu jeder Meinung stets auch mindestens eine Gegenmeinung von einem ebenso renommierten Experten zu hören oder lesen war), im Rahmen der gerade aktuellen Modelle, für die es mitunter noch keine Vergleichswerte gibt, aber gesetzt den Fall, wir wüssten einen Verlauf halbwegs sicher, es hieße immer noch nicht, dass wir uns klar sind, was wir tun sollten und wie wir das begründen.
Nehmen wir an, man beschließt eine äußerst brutal vorgehende Terrorgruppe zu stoppen. Wie geht man vor? Wie weit darf man gehen? Darf ein Rechtsstaat foltern, um an relvante Informationem zu gelangen? Oder wäre gerade das ein Sieg des Terrors, wenn Rechtsstaaten sich gezwungen sehen Steinzeitmethoden anzuwenden?
Oder geht es nur darum, gut geheimzuhalten, was man macht und eine makellose Fassade anzubieten? Was ist mit gezielten Drohnentötungen eines Terrorführers? Wie weit darf man eine Bevölkerung unter Generalverdacht stellen um eine paar Extremisten zu fassen?
Da spielen politische, militärische, soziologische, psychologische und ethische Motive mit hinein. Darf man das Volk belügen, wenn es niemand merkt? Oder ist lückenlose Transparenz gar keine Forderung, die man an eine Staat stellen sollte? Und wie ist das in der Partnerschaft?
Sind Prinzipien noch ernstzunehmen, wenn man ständig Ausnahmen beansprucht und darf eigentlich jeder die Ausnahmen beanspruchen?
Oder eben die Zukunft der synthetischen Biologie und so weiter, der Frage, wie weit man bei der Fusion von Computer und Bewusstsein gehen sollte und dergleichen.
Der Hinweis darauf, dass die Möglichkeit des Verstoßes besteht ist kein gültiges ethisches Argument. „Es wird sowieso gemacht, was gemacht werden kann und wer das nicht sieht ist einfach nur naiv“ ist ein schlechtes ethisches Argument, denn eine Lüge oder ein Mord wir nicht dadurch gut, dass auch heute sicher wieder gelogen und gemordet werden wird.

Zappa hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Aber der Rückgriff auf das biologische Sosein des Menschen oder das Verhalten der Paviane oder Graugänse ist für die Forschung interessant, nicht für die Ethik.

Sehe ich so apodiktisch als Fehlschluss an :mg:

Die Beobachtung z.B. dass Homosexualität in der Natur durchaus vorkommt hat einen relevanten Einfluss auf die Homosexualitätsdebatte gehabt, natürlich vor allem weil Gegner mit dessen Unnatürlichkeit argumentiert hatten.
Ist m.E. ein ebenso schlechtes wie gefährliches Argument.
Hier musst Du wieder trennen, in welchem Kontext diskutiert wird. Im Bibelkreis, unter Schwulenfeinden – sind die überhaupt argumentativ umzustimmen, oder gilt hier, dass man warten muss, bis die Generation ausgestorben ist? - oder unter theoretisch ernsthafteren Bedingungen?
Ich finde, das wissenschftliche Argument, dass Homophobie eine Beigabe patriachaler Systeme ist (und von Menschen, die eine patriarchale Denkweise verinnerlicht haben), da viel zielführender und erklärungsmächtiger, das nur nebenbei.

Schlecht und gefährlich ist es, weil Du hier mehr pokerst und taktierst, als argumentierst. Du sagst im Grunde genommen: „Lass uns den naturalistischen Fehlschluss doch hier mal gelten lassen, man kann ihn auch prima gegen die wenden, die ihn benutzen.“ Sehr gefährlich, denn wenn Du hier eine Ausnahme machst, was machst Du, wenn jemand daherkommt und sagt: „Kinder mit Down-Syndrom sollten abgetrieben werden“ und danach nicht artig schweigt, sondern nachlegt, oder ein Populist die Gunst der Stunde nutzt und sagt: „Sowas ist unter natürlichen Gesichtspunkten gar nicht überlebensfähig.“ Die Aufforderung doch „die Natur entscheiden zu lassen“ hat die ganzen fragwürdigen und zu unrecht idealisierten Biologismen im Schlepptau, denen zufolge nur was fit und gut (nützlich) ist überlebt, so sei das eben mit der Evolution, ein Nautrgesetz, da habe niemadn reinzupfuschen. Amen.

Zappa hat geschrieben:Die Beobachtungen von Piaget haben doch durchaus zum Verständnis der menschlichen Moralentwicklung beigetragen, die evolutionäre, genetische und verhaltensmäßige hochgradige Verwandschaft der menschlichen "Rassen" war ein wichtiges Argument gegen Rassismus etc. pp.
... der jetzt als Transhumanismus wie der Phönix aus der Asche entsteht?!

Zappa hat geschrieben:Begründungen haben für mich sowieso notwendig einen Seinsbezug, aber das ist nur meine persönliche Meinung. Das aber Begründungen mit Seinsbezug eine besondere argumentative Kraft haben, kann doch nicht bestritten werden.
Im Allgemeinen werden sie gegenüber der Logik als nachrangig angesehen.

Zappa hat geschrieben:Aber das geht doch viel weiter! Das Kinder eine Bezugsperson brauchen spielt bei der Betreuung von Waisen eine Rolle, das Hühner scharren wollen bei der Tierhaltung (wenn auch noch viel zu wenig), das Hunde Empathie aufbringen bei europäischen Ernährungstabus etc. pp.
Du hast den Vor- oder Nachteil, dass für Dich viele Forderungen bereits als ethisch relevant feststehen, die für andere überhaupt nicht feststehen.
Das Problem, was Du m.E. verkennst ist, dass der Schäferhundproll, der „auf'm Platz“ seinen Adol... nein, übertreiben wir nicht, seinen Hasso niederbrüllt, weil ja jeder weiß, dass man Hunden erst den Willen brechen („brächn!“) muss, damit sie folgsam werden und der sicher weiß, dass der Mensch Fleisch („Flaaisch“) braucht, weil er sonst krank wird, dem ebenso klar ist, dass in der Kindererziehung Schläge noch keinem geschadet haben und so weiter, sicher nicht bis in die feinsten Verästelungen ethischer Argumente folgen wird … aber der wird sich auch von den neusten Erkenntnisse der Wissenschaft nicht in seiner Weltsicht beeinflussen lassen. Wer auf dem Niveau einer Planierraupe argumentiert, meinst Du der geht plötzlich in sich und sagt: „Ach so, das ist eine gesicherte Erkenntniss der neuen Forschung? Na wenn das so ist, dann ziehe ich mein Argument zurück und denke darüber nach, welche Folgen das für mein Leben hat.“

Zappa hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Aber ethische relevante Diskussionen finden ja unter Experten statt und da ist die genaue Begründung und die Vermeidung von Fehlschlüssen ein zu forderndes Kriterium, so wie Du ja im Rahmen der Wissenschaft auch bestimmte Standards als unhintergehbar festgesetzt sehen willst. Warum forderst Du hier weniger als Du haben könntest?

Zunächst einmal ist das kein Expertenrefugium, natürlich gestehe ich auch hier Experten einen größeren Einfluss zu, aber entscheiden muss ich mich täglich!

Sicher, ich glaube auch – ein interessanter Aspekt der intergalen Theorie – dass man für verschiedene Stufen der Entwicklung verschiedene Übersetzungsmodi finden muss. Das ist ein pragmatischer Ansatz, der aber glaube ich auch ethisch zu legitimieren ist, sofern man sich der Gefahren bewusst ist, die damit verbunden sind.

Zappa hat geschrieben:Hinzu kommt - ich hatte das schon mal gepostet -, das die meisten moralischen "Entscheidungen" offenbar spontan-intuitiv, quasi instinktiv ablaufen, was bei einem sozialen Wesen evolutionär natürlich hochgradig Sinn macht. Die rational Expertise wird meist nachgeliefert, ist aber interessant dass wir das zu brauchen scheinen.
Finde ich auch interressant und wird ja als geradezu konstitutiv für unser menschliches Sosein angesehen: Das Geben und Nehmen/Verlangen von Gründen. Schon hier würde ich fragen, was es denn nun für uns bedeuten soll, dass das für Buntbarsch, Eichhorn und Orang-Utan überhaupt keine Rolle spielt.

Zappa hat geschrieben:Mal Butter bei die Fische: Was schätzt Du wieviel Prozent deiner moralischen Entscheidungen werden durch ethische Experten beeinflusst, wieviel durch tradierte Normen und wie viele Fälle intuitiv? Ich sag mal spontan für mich: 5, 50 und 45%!
„Intuitiv“ fällt ja durchaus mit tradierten Normen zusammen. Man meint es sei intutiv, in Wirklichkeit sind es kulturelle Klischees.
Die meisten moralischen Entscheidungen sind ja nicht sehr weitreichend, aber ohne mich zu drücken, halte ich die Frage für falsch gestellt.
Rein in der Summe, sind meine moralischen Entscheidungen vermutlich zu 80% oder weit mehr routiniert abgespult, eine Mischung aus beliebig zusammengeschraubten eigenen Vorurteilen, gesellschaftliche Versatzstücke nutzend.
Das ist m.E. aber irrelevant, denn die Relevanz liegt in der Frage, ob ich bei einem echten ethischen Dilemma (die im Leben nicht sehr häufig auftreten) in der Lage bin dort die Lupe draufzuhalten und hier sehr genau abzuwägen. Insofern wäre ich nicht entsetzt, wenn man mir quantitativ nachweisen würde, dass meine vermuteten 80% Gewohnheit viel zu optimistisch waren und meine moralischen Handlungen zu 99,5% aus solchen Gewohnheiten bestehen, wenn ich sagen würde, bei den 5 Fällen echter ethischer Dilemmata in meinen Leben habe ich mir alle Zeit genommen, die Argumente abgewogen und alles bedacht, was mir zu bedenken möglich war, dann eine Nacht drüber geschlafen und dann entschieden. Dass ich das kann, reicht mir, die Prozentzahlen lassen mich da ehrlich gesagt völlig kalt.

Zappa hat geschrieben:Insgesamt, ich bleibe dabei, hat das Ganze viel mehr mit Sein als mit Sollen zu tun: Vom Entscheidungshintergrund, über die Entscheidung selber bis hin zur Folgeabschätzung praktisch nur Sein. Nur die rationale und emotionale (Über Ich und so) Begründung hat was mit Sollen zu tun, aber wie viel davon ist in Wirklichkeit als Sollen empfundenes Sein?

Für die theoretische Debatte bleibt der Unterschied zwischen Sein und Sollen weiter relevant, er ist aber mehr graduell als absolut und ich weiß nicht wie groß seine Rolle in der Praxis wirklich ist ...
Es ist ja in Foren oft so, dass man bei anderen das Gefühl hat, dass man zwar nicht derselben Meinung ist, aber ich bin mir fast sicher, dass wir in sehr vielen Fällen der Lebenspraxis, ähnlich entscheiden würden.
Ich habe mit Deiner Interpretation von Wissenschaft keine Probleme und würde sie sofort unterschreiben, mit der anderer Interpreten sehr wohl.
Eine absolute Grenze würde ich auch nicht ziehen, ganz einfach, weil ja durch die Lebenspraxis die sorgsam getrennten theoretisch verschiedenen Bereiche ohnehin wieder zusammenfließen. D.h. wenn ich etwas sauber logisch oder ethisch herleite, so muss ich das ja praktikabel umsetzen und die Befolgung einer Gebrauchsanweisung ist eine Interpretation (und die helfende Regel der Regel der Regel … führt in einen unendlichen Regress).

Das heißt aber andererseits nicht, das alles beliebig wäre, denn ich finde es schon sehr wichtig, dass man sich überlegt, welche Konsequenzen aus einer Idee, wenn man sie auf die Spitze treibt, folgen. Dann kann man immer noch eine Idee in der Praxis so umbiegen, dass die Gefahren umschifft, aber sehenden Auges segelt es sich halt besser als im dichten Nebel.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Zappa » Di 30. Sep 2014, 08:10

@Vollbreit und @Nanna:

Hab im Urlaub Popper "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" gelesen. Interessanterweise beschäftigt er sich am Ende des zweiten Bandes genau mit unserer Diskussion hier. Ich fand dort (Mohr Siebeck, 8. Aufl. 2003, S. 273) ein ganz hübsches Statement von ihm:

Die rationale und phantasievolle Analyse der Folgen einer ethischen Theorie zeigt eine gewisse Analogie zu der Methode der Wissenschaft. Denn auch in der Wissenschaft nehmen wir eine abstrakte Theorie nicht deshalb an, weil sie an und für sich überzeugend ist. Wir entschließen uns vielmehr, sie anzunehmen oder abzulehnen, nachdem wir jene konkreten und praktischen Folgen untersucht haben, die durch ein Experiment direkt geprüft werden können. Aber es besteht ein grundlegender Unterschied. Im Fall der wissenschaftlichen Theorie hängt unsere Entscheidung von den Ergebnissen der Experimente ab. ... Aber im Fall einer ethischen Theorie können wir ihre Ergebnisse nur mit unserem Gewissen konfrontieren. Und während die Entscheidung der Experimente nicht von uns abhängt, hängt die Entscheidung des Gewissens von uns selbst ab.


Ich denke, darauf können wir uns einigen, oder?

Die Diskussion hat mir auf jeden Fall meinen Standpunkt etwas klarer gemacht, danke dafür.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Nanna » Di 30. Sep 2014, 20:22

Ja, ein sehr schönes Schlusswort!
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon xander1 » Di 30. Sep 2014, 22:33

Jetzt nicht mehr, weil Nanna am Schluss war und jetzt bin ich es muhahahaha
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Zappa » Mi 1. Okt 2014, 07:00

Kindskopf :mg:
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