Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Zappa » Do 28. Aug 2014, 22:08

Nanna hat geschrieben: - nur hege ich, wie Vollbreit, Zweifel an der Fruchtbarkeit des biologischen Beitrags bei dieser Fragestellung.

Wie ich schon @Vollbreit antwortete: Das Argument des naturalistischen Fehlschluss hat mich früher auch sehr geplagt und beeindruckt, nur denke ich, dass Ihr einen nicht-naturalistischen Fehlschluss begeht: Aus der Tatsache, dass ich Sollen als etwas übernatürliches, nicht-deterministisches empfinde, folgt ja nicht, dass es etwas außernatürliches ist. Und wenn man so was außernatürliches postuliert, dann hätte ich gerne Belege dafür.

Ist selbstredend in einem Naturalistenforum eine weit hergeholte Frage :mg:

Das liegt sicherlich auch an einem unterschiedlichen "Naturbegriff". Natur ist für mich natürlich nicht nur Biologie, sondern auch Chemie, Physik, Geologie, Soziologie, Psychologie etc. pp. Also all das, worüber man begründete Aussagen machen kann. In diesem "Universum" spielt sich für mich alles ab, worüber man als vernunftbegabtes Wesen sinnvoll reden kann.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Fr 29. Aug 2014, 10:52

Zappa hat geschrieben:Menschen und vor allem Männer neigen zur Aggressivität, das ist ein Fakt. Und damit muss man umgehen, familiäre, soziale, kulturelle und gesellschaftliche Barrieren aufziehen und Möglichkeiten schaffen, damit Aggressivität in sozial verträglichem Rahmen ausgelebt werden kann (z.B. Fußball gucken).
Ja, natürlich.
Aber wem wäre das denn nicht bekannt?

Zappa hat geschrieben:Das zeigt u.a., dass zumindest einige Werte in uns evolutionär angelegt sind und nicht Ergebnis einer rein humanen "Geistes"Leistung oder einer rein anthropozentrischen göttlichen Offenbarung. Ist doch schon mal ein interessanter Aspekt, oder?
Ja, ich finde das interessant.
Aber noch interessanter finde ich zu erörtern, was das nun heißt. Wäre Moral, sowas wie Fairness oder Gerechtigkeit in uns allen verwurzelt, wären wir alle fair und gerecht, was offensichtlich nicht der Fall ist.
Es gibt eben von den Affen bis heute eine durchgehende Linie von Kriegen, Vergewaltigungen, Mobbing und allen Arten von Schikanierungen und Machtdemonstrationen. Braucht uns doch niemand zu beweisen, Tagesschau anstellen reicht.
Dass der Mensch nun zu beidem Aggression und Fairness, bis zu extremer Nachsicht fähig ist, wissen wir doch längst.
Sagt man nun, man müsse eben die Aggressionen sozialverträglich abführen, einbinden oder sublimieren, stimmen Dir auch alle zu.
Macht man dann konkrete Vorschläge kommt nach 5 Minuten einer daher, der Dir erzählt, dass die Evolutionsbiologie aber nachgewiesen habe, dass der Mensch aggressiv ist und dass man daher nichts an der Situation ändern kann und man hat das Gefühl, man habe die Monopoly Karte: Gehe zurück auf Los!, gezogen.

Zappa hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Sag mir mal, wie Du aus der Deskription ein ethisches Argument machen willst?

Ein ethisches Argument wäre z.B. gegen den Utilitarismus, dass die meisten Menschen in ethischen Grenzsituationen (z.B. Trolly Problem) eben intuitiv nicht utilitaristisch, sondern anhand von Wertekategorien entscheiden. D.h. zunächst einmal nicht, das der Utilitarismus widerlegt ist, nur dass er in diesem Bereich offenbar kontrafaktisch ist. Und dann muss der Ultilitarist ggf. ein besseres Argument bringen.

Das war aber nicht die Frage, sondern, wie man daraus ein ethisches Argument macht.
So penetrant will ich dann doch sein.

Zappa hat geschrieben:Eine andere, interessante Beobachtung ist, dass die meisten "moralischen" Entscheidung bewusst und spontan gefällt und erst danach rationalisiert werden. Es gibt ziemlich viele Belege dafür, dass unsere moralischen Werte viel eher Instinkte und Gefühle (vielleicht also einfach eingeübte Neuronengruppen?), als in stundenlangen Dialogen konsentierte Begriffe sind. Auch spannend, oder?

Und auch bekannt. Ist nicht nur bei moralischen Entscheidungen so, sondern es gilt für alle Lebensbereiche, mal mehr, mal weniger.
Wissen wir seit Freud, 1895. Kahneman hat das doch schön aufgegriffen und daraus sein System 1 und 2 gemacht. System 1, blitzschnell, assoziativ, energiesparend, begnügt sich aber mit dem ersten Anschein. System 2 dringt dann schon tiefer, es ist nur anstrengend. Das kann aber auch schön sein. Dass der Mensch darauf getrimmt sei, Anstrengungen zu vermeiden und der optimale Zustand der völliger Reizarmut ist, ist nur ein weiterer Mythos des Naturalismus, ein Fehler, mitgeschleppt aus dem Ansatz der Thermodynamik, nach dem (angeblich) jedes physikalische System den Zustand des geringsten Energieniveaus anstrebt … und da der Mensch ja nach reduktionistischer Doktrin ein physikalisches System ist …. Man kann nachvollziehen, wie es zu diesem Irrtum gekommen ist, daran festzuhalten ist allerdings etwas irrational, ein Fall, in dem uns System 1 an der Nase herumführt.
Nur sollte man sich nicht dazu verleiten lassen zu denken System 2 sei nun besser und System 1 dumm und unbrauchbar, keinesfalls.
Es gibt vermutlich Großmeister bei der Nutzung von System 1 einerseits und System 2 andererseits, im Alltag leben wir wohl alle mit Mischformen.
Es sind die gewohnten Denkmuster, also Vorurteile, im Sinne von: das, was wir kennen; so wie wir seit Jahren zu denken gewohnt sind, die uns eine erste, rasche Orientierung anbieten. Das erklärt uns die Welt, die Rolle der anderen und von uns, innerhalb dieser Welt.

Man muss nur aufpassen, dass man nicht folgenden Fehler macht: Man denkt gerne, man selbst sei ja ein weltoffener, wissenschaftlich interessierter Mensch, also sei man selbstverständlich im Modus System 2 unterwegs und das stimmt ganz einfach nicht. Unsere Mythen sind naturalistische Mythen, der Psyche ist es egal, welche Versatzstücke sie zu Orientierung gebenden Vorurteilen verdichtet.
So entstehen die privaten Mythen, die uns die Welt verstehen lassen (immens wichtig für uns alle, darum mögen wir die Welterklärer, so gerne, darum haben wir es gerne etwas leichter, klischeehafter), die uns in der Regel in einem besseren Licht dastehen lassen, als wir dastehen und die uns helfen, manche Menschen zu idealisieren und andere zu entwerten (auch das ist keinesfalls nur schlecht).
Aber: System 1 ist nicht saudumm, sondern überaus clever. Es reiht Erfolgserlebnisse aneinander und wenn man 5 Bücher aus verschiedenen Richtungen liest (die meisten begnügen sich bekanntlich damit, sich nur noch ihre Meinung bestätigen zu lassen und lesen Bücher, Blogs und Zeitschriften, die das bieten) und immer das Gefühl hat: „Genau, wie ich immer schon sagte!“, ist man mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im Modus System 1 unterwegs. Und das ist gut, weil man sich gut fühlt.
Gerade wir Männer sind nicht nur aggressiv, wir sind Bescheidwisser, wir erklären uns und anderen gerne die Welt, schon weil es sich so gut anfühlt.
Und weißt Du, was mich am meisten beeindruckt hat, an Kahnemans wunderbarem Buch? Die Szene, in der just der Forscher, der eben bewiesen hat, dass der Mensch kein Homo Oeconomicus, kein rationaler Agent ist, der nur seine Nutzen optimiert (ein weiterer naturalistischer Mythos!), sich sofort daran machte zu erklären, dass der Mensch kontrafaktisch doch ein rationaler Agent ist.

An der Stelle nimmt keiner „unsere Natur“ ernst, sondern es wird – vollkommen idiotisch, weil zutiefst selbstwidersprüchlich – versucht, die simple Wahrheit, dass wir beides in uns haben und daran nun wirklich nichts zu ändern ist, einmal zu reduzieren auf den Ansatz: Neurobiologen haben bewiesen, dass es nur System 1 gibt. Oder in Worten der Forscher: Emotionen sind alles, Rationalität ist nichts. Emotionen planen wohin die Reise geht, Ratio packt den Koffer für die Reise. Der Selbstwiderspruch liegt darin, dem Menschen dafür Argumente zu liefern, dass er keine Argumente verarbeiten kann!
Die andere Fraktion der Reduktionisten ist nicht davon abzubringen zu betonen, dass System 2 unser eigentliches Ziel ist und der Mensch ohnehin ein rationaler Agent. In dem Kapitel Bernoullis Irrtum, nimmt Kahneman diese Sichtweise völlig auseinander. Aber der Drang ist wohl mächtig, selbst Freud schrieb in Die Zukunft einer Illusion noch, dass die Stimme der Verstandes zwar leise sei, sich am Ende aber durchsetzen werde, Freudianer Otto Kernberg erwidert trocken (und augenzwinkernd): „Wenn das keine Illusion ist, weiß ich nicht, was eine Illusion ist.“

Eine gute Annäherung ist, dass es immer beides in uns gibt, System 1 (assoziativ, intuitiv, mythenbildend) und System 2 (rational, aber anstrengend), dass wir überwiegend mit System 1 durch die Welt gehen und nur in Ausnahmefällen bereit sind, System 2 anzuwerfen, auch dann wenn wir meinen, dass wir ungeheuer rational sind, ist es überwiegend ein Einsortieren von Eindrücken in die immer gleichen und bekannten Kategorien unserer Komfortzone.
„Kenn' ich, weiß ich, ach was bin ich toll.“ Und es ist in Ordnung, man darf sich wohlfühlen (den guten Grund, warum ein zufriedenes Schwein schlechter sein soll, als ein unzufriedener Sokrates, habe ich noch nicht gehört: zwar würde ich intuitiv, aus System 1 heraus mit einem „ja, genau“ abnicken, aber wenn man die rationale Funzel dann man entzündet, laufen die guten Gründe erschreckt davon).

Zappa hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Dass wir nicht anders können, kann nicht sein, wir machen es anders. Die USA haben sich anders entscheidne, es geht wohl beides.
Eine genetische Disposition für das eine oder andere kann dafür kein Argument sein.

Genetik ist nicht Evolution, selbst extrem reduktionistische Molekularbiologen kennen epigenetische Phänomene und natürlich spielt Erziehung und kultureller Einfluss eine Rolle. Ich denke Du hast ein viel zu enges Bild von Evolution.
Mir ist die Idee der Epigentik einigermaßen bekannt.
Ich weiß nicht, ob ich ein zu enges Bild der Evolution habe, was sollte ich denn wissen, um über ein ausreichend breites zu verfügen?

Zappa hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben: ... Ian Morris (da Du gerne gute Bücher liest: Krieg – Wozu er gut ist, von Ian Morris ist ein gutes Buch … Du wirst mir vermutlich sagen, dass Du es vor 8 Monaten gelesen hast ;-)

Da ICH immer ehrlich bleibe, würde ich das nie sagen. :klugscheisser: - es sei denn ich hätte das Buch vor 8 Monaten gelesen. Anders gesagt: Du wirst unsachlich.
Hm. Du hast das offenbar als Kritik interpretiert.
Es war als ein Ausdrucks des Respekts vor Deiner Belesenheit gedacht.

Zappa hat geschrieben:Ja, der gute alte naturalistische Fehlschluss - fand ich früher auch immer beeindruckend das Argument. Aber mal die Frage an Dich: Wo kommt denn das Sollen her, wenn nicht aus dem Sein? Wo ist denn dein Beleg für das Transzendente, Übernatürliche?

Warum, um alles in der Welt, denn übernatürlich? Warum braucht man Transzendenz, wenn man Werte des Zusammenlebens festzurren will?
Man braucht Empathie und Verstand, Diskursfähigkeit und die Bereitschaft den anderen ernst zu nehmen, wo bitte steht geschrieben, dass man mehr dafür braucht?
Du kannst Gott und Natur für diesen Prozess vollkommen in die Ecke stellen und das Thema von A bis Z auf der Ebene Vernunft abhandeln.
Wir wollen wir miteinander umgehen? Was ist bei uns erwünscht, was nicht? Welche Ideale streben wir an, wie menschlich sind wir in der Einsicht, dass man sich ihnen nähern kann, sie aber nicht erreichen wird? Wie sanktionieren wir Verstöße, ohne dabei in Sadismus und Rache abzurutschen? War jetzt aus der Hüfte, aber so in etwa.

Zappa hat geschrieben:Und wo ist denn deine Messmethode dafür?
Für die Moral erscheint mir Kohlbergs System immer noch gut genug geeignet.
Es ist empirisch und funktioniert auf der Basis der Begründung des Verhaltens in verschiedenen Situationen moralischer Dilemmata.
Für die Fälle, in denen der Aufbau eines Gewissens, durch ungünstige Erfahrungen (noch immer der Hauptgrund!) behindert wurde, ist das beste Messsytem das strukturelle Interview von Otto Kernberg, dass es uns erlaubt zwischen verschieden Arten von Störungen zu unterscheiden. Siehe dieses Schaubild:
http://www.tfp-institut-muenchen.de/pic ... _large.png
Absoluten Vorrang hat da die vertikale Einteilung, und das strukturelle Interview ermöglicht die Differentialdiagnostik zwischen den Ebenen der Pathologie:
http://www.psychoanalyse-salzburg.com/s ... se2010.pdf
Über den Zusammenhang zwischen Individualpathologie, Moral und der daraus resultierenden Vorliebe für bestimmte Weltbilder, findet man bei Kernberg:
Otto Kernberg hat geschrieben:„In Übereinstimmung mit Green vertrat ich die Ansicht, dass die Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht, gewöhnlich eine schwere narzisstische Pathologie wiederspiegelt. Die Verpflichtung gegenüber einer Ideologie, die sadistische Perfektionsansprüche stellt und primitive Aggression oder durch konventionelle Naivität geprägte Werturteile toleriert, gibt ein unreifes Ich-Ideal und die mangelnde Integration eines reifen Über-Ichs zu erkennen. Die Identifizierung mit einer "messianischen" Ideologie und die Akzeptanz gesellschaftlicher Klischees und Banalitäten entspricht daher einer narzisstischen und Borderline-Pathologie. Dem gegenüber steht die Identifizierung mit differenzierten, offenen, nicht totalistischen Ideologien, die individuelle Unterschiede, Autonomie und Privatheit respektieren und Sexualität tolerieren, während sie einer Kollusion mit der Äußerung primitiver Aggression Widerstand leisten - all diese Eigenschaften, die das Wertesystem eines reifen Ich-Ideals charakterisieren. Eine Ideologie, welche die individuellen Unterschiede und die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen respektiert und Raum für eine reife Einstellung zur Sexualität läßt, wird den Personen mit einem höher entwickelten Ich-Ideal attraktiv erscheinen. Kurz, Adorno, Green und ich stimmen darin überein, dass Ich- und Über-Ich-Aspekte der Persönlichkeit das Individuum zu übergroßer Abhängigkeit von konventionellen Werten prädisponieren. Es ist berechtigt zu sagen, dass der spezifische Inhalt des Konventionellen durch soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflusst wird: Die Universalität der Struktur der Konventionalität in der Massenkultur jedoch und ihre Attraktivität für die Massen sind nach wie vor erklärungsbedürftig.“
(Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta, 1998 S.297f )


Zappa hat geschrieben:Ich frage bewusst so platt, denn wenn das Sollen mystisch oder esoterisch rüberkommt, dann ist eben erst recht kein Diskurs möglich, weil jeder einfach rumplappern kann.
Ich bin ja der Meinung, dass die Güte der mystischen Erfahrungen genau so intersubjektiv zu klären ist, wie die der Kenntnisse über Physik oder Literatur, einfach indem man gezielte Fragen stellt.
Davon abgesehen, halte ich das Thema Spiritualität für die Formulierung von gemeinsamen Werten des Zusammenlebens, also Moral, für irgendwo zwischen nachrangig bis bedeutungslos rangierend.
Da Werte m.E. situativ gesetzt werden und eine Frage von Absprache und Vernunft sind, ist die Frage ob der eine meint, sie kämen von den Bonobos und der andere meint von Gott eine private Geschichte. Man darf so denken, wenn einem das hilft, aber es sollte niemand dazu gezwungen werden zu glauben, dass die Werte von Gott oder den Bonobos oder direkt aus der Quantenphysik kommen.
Sprich: Wir müssen ertragen, dass wir wirklich verantwortlich sind und das ertragen wir nicht sonderlich gut.
Freiheit ist, wenn man die Konsequenzen wirklich erkennt, kein sehr attraktives Konzept.
Der goldene Käfig ist viel schöner und wenn drauf steht Naturalismus kann man sich einbilden, dass das unfreie Gezwitscher hier viel hübscher klingt, als aus dem Käfig mit der Aufschrift Religion. System 1 hilft einem dabei, gewohnheitsmäßig zu glauben, dass wer Naturalist ist, nie und nimmer in einem Käfig sitzen kann.
Und auch das ist insoweit gut, als es das Selbstbild stabilisiert, es kommt nur, wie immer zum Clash mit Andersgläubigen.

Mir erscheint es wichtig, dass wir lernen uns für unsere Notwendigkeit ein auf dem Glauben dieser oder jener Art basierendes Orientierungssystem zu etablieren nicht verachten und entwerten. Das führt zu jenen Projektionen, die gefühlte 85% der Brights motiviert auf alles was nach Religion riecht planlos einzudreschen.
Diejenigen, die diesen Impuls überwunden haben, haben meinen Respekt.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Lumen » Sa 30. Aug 2014, 02:04

Nanna hat geschrieben:Werte mit einer Herleitung aus der Biologie zu begründen ist, egal, mit wie viel Aufwand betrieben, ein naturalistischer Fehlschluss. Insofern sehe ich nicht ganz, wie Vollbreits Frage nicht ernstzunehmen wäre.


Zwar ist das richtig, aber zunächst müsstest du mal anzeigen wo du denn den naturalistischen Fehlschluss entdeckt haben willst.

Vollbreit hat geschrieben:Den eigenartigerweise gerade die Atheisten von der Haus-Ruck-Fraktion ziemlich schlecht ertragen. Diskurs ist doch für sehr viele dieser Atheisten ein Synonym für Gelaber. Selbst Werte als solche, bei denen nun wirklich klar sein könnte, warum die dynamisch und menschengemacht sind, müssen eiligst in evolutionären Wurzeln verankert werden, wobei nicht mal klar ist, was damit erreicht werden soll. Wird irgendein Wert besser, weil man solch ein Verhalten bereits bei Buntbarschen oder Schimpansen findet? Wozu diese manische Suche nach einer objektiven Ethik und Moral Landscape? Was wäre denn überhaupt gewonnen, wenn das Ziel, mal hypothetisch betrachtet, erreicht wäre?


Das liegt einzig in deiner Unkenntnis des Sachverhalts und der Kontexte. Sam Harris „Moral Landscape“ ist relativ umstritten und keinesfalls universell akzeptiert und seine Argumentation hat mit Buntbarschen oder Schimpasen recht wenig zu tun. Im übrigen gibt es bei Schimpansen „biologische Programme“ wie z.B. Furcht und obendrauf eine Art „Kultur“ die interpretiert, was zu fürchten ist. Die Idee, dass Kultur auf biologische Grundlagen aufsetzt und damit interagiert gilt als unkontrovers. Wir wissen auch von Spiegelneuronen, die es zum Beispiel ermöglichen, dass sich beobachteter Ekel überträgt, was es dem sich Ekelnden erlaubt, die giftige (und potentiell tödliche) Frucht nicht erst selbst essen zu müssen um zu wissen, dass sie ungenießbar ist. Da es hier um Gesichtsausdrücke und so etwas geht muss die Brücke zur kulturellen Formbarkeit nicht sehr lang sein, dennoch gibt es ein biologisches Programm „Ekel“ das auch gewisse Grundeinstellungen mitbringt, die, wenn schon nicht fest verschaltet, sehr häufig anzutreffen sind. Aber das ist ja alles angeblich „biologistisch“ – was ich mittlerweile als „Achtung: Bullshit Incoming“ lese.

Früher war es mal biologistisch zu argumentieren, Kulturen müssten sich im Kräftemessen gegeneinander behaupten. Das ist aber selbst aus biologischer Sicht gröbster Unfug. Schon der Sozialdarwinismus ist „Faux Biologie“. Mittlerweile, so der Eindruck, wird es schon für biologistisch befunden, wenn der menschlichen Psyche biologische Grundlagen unterstellt werden.

Entweder ist der unterstellte Biologismus einfach die Warte der Biologie, und damit eine von vielen Warten die wir zur Verfügung haben (wir können z.B. Emotionen auch von einer chemischen Warte aus betrachten). Oder der unterstellte Biologismus richtet sich gegen „Faux Biologie“ wie den Sozialdarwinismus, der gedanklich doch dem unwissenschaftlichen Standpunkt der „Biologismus“ Rufer eher näher steht, weil das Leute sind, die in Essenzen und „Ganzheiten“ denken. Natur ist so und so. Natur ist so und so. Der eine beruft sich auf eine Natur, der andere auf eine Utopie aber die Einschätzungen sind gleich und werden geteilt. Siehe auch was Vollbreit unter Biologie versteht (z.B. Zitat „Das erfolgreichste Wirbeltiermodell ist das Huhn“, entweder missglücktes Ad Absurdum oder glaube, dies „sei“ der „Sinn“ der Biologie, den er aber ablehnt).

Aber nun zu Harris. Er entwirft eine Analogie zur Gesundheit. Es gibt viele Arten gesund zu leben (dritte Analogie, Landschaft: Höhe = Gesundheit/Wohlbefinden, mehrere mögliche Gebirge). Das Bedürfnis gesund zu sein und zu bleiben ist wohl universal. Nur weil Menschen gesund sein wollen, heißt das nicht, dass sie auch Gesund sein sollten. Das wäre der naturalistische Fehlschluss. Aber wie man hier sieht, wird das in der Praxis trotz aller Rhetorik schnell idiotisch. Wir schaffen ja nicht Krankenhäuser, Medizin oder das Gesundheitswesen ab, weil sich aus sein kein sollen herleiten lässt. Und im Umkehrschluss zu behaupten, das Gesund sein zu wollen sei eine rein willkürliche Setzungen ist ebenso eine fragwürdige Haltung. Es ist auch nicht „biologistisch“ falls sich jemand dann, im Angesicht von Kritikern die das Gesundheitswesen in Frage stellen, verleiten lässt, zu argumentieren, dass doch alle Lebewesen gerne am leben wären. Biologistisch? Wenn Gesundheit zu wollen nicht willkürlich ist, was ist es dann?

Der Grund warum Leute bei Sam Harris Argumentation Bauchschmerzen bekommen, und das ist eher typisch in diesen Auseinandersetzungen, liegt daran, dass sie bereits feste ideologische Ansichten haben, die von diesem Ansatz torpediert werden. Das soll nicht heißen das andere Leute nicht auch ideologische oder anderweitige Interessen haben, nur stehen diese hier nicht im Wege. Es gibt eine spezifische Idiotie bei der Rechten, wie man sie bei manchem hiesigen Bordbewohnern auch zu besichtigen ist (Rotbart Paläo-Unsinn oder wie sich das nennt), aber eben auch eine spezifische linke Idiotie, die gerne die Rolle der Kultur überspannt und wie rechtsaußen gerne Utopien herbei träumt, wonach der Mensch dann so geformt wird, wie es den Ideologen gefällt. Der Unterschied ist eben, dass der weit Rechtsaußen sich eine Biologie hin-fabuliert die als Begründung herhalten soll (das wäre der „echte“ Biologismus) wohingegen der weit Linksaußen dem Rechtsaußen im Grunde zustimmt bei dessen Faux Biologie, aber alles biologische ablehnt und stattdessen das Diktat bei der Kultur sieht. Beide möchten gerne eine Ideologie verwirklichen und dabei A) entweder im Glauben sein, alle Weichen seien bereits in ihrem Sinne gestellt (echter Biologismus) wie im Falle des Sozialdarwinismus, oder B) sie sind im Glauben die Weichen seien kulturell beliebig stellbar.

Letztere fühlen sich durch Sam Harris Ansatz eingeschränkt. Für diese Leute ist eine (vermeintliche) Festsetzung durch die Biologie hinderlich, auch dann wenn sie gut untermauert ist. Das passt prima zu anderen Ansichten, die gerne gehäuft auftauchen. Hier insbesondere Multikulturalismus (und wenn man raten müsste, wie ein Individuum zum Konflikt in Gaza eingestellt ist, könnte man getrost seine Hütte darauf wetten, dass hier die armen Palästinenser größere Sympathie bekommen, als die Israeli). Das heißt, einerseits ist Biologie suspekt und dann ist derjenige ohnehin ein Multikulturalist und glaubt, jede Kultur sei gleich gut und man dürfe sich da nicht einmischen und dass Kulturen sozusagen Hoheit über das Individuum haben, die in sie hineingeboren wurden.

Deswegen hat auch der Multikulturalist von Welt seine zusätzlichen Probleme mit Sam Harris, weil dessen Argumentation darauf hinausläuft, dass manche Kulturen schlechter sind als andere, wenn es darum geht, den Menschen eine dem Wohlbefinden-Wohlsein zuträgliche Umgebung zu schaffen. Bei Gesundheit würde aber wohl niemand bestreiten, dass eine Operation in einem sterilen Saal besser ist als am Ufer des Ganges. Aber im Falle von Kultur und Wohlbefinden treibt das die Multikulti-Truppe auf die Palme. Das fällt unter Imperialismus und Kolonialismus mit eigenen Studienfächern wie Post-Colonial Studies, die der Interessierte neben Gender Studies und Women Studies und Soziologie belegen kann – also weitgehende Bullshit Fächer, die stark links-ideologisch durchsetzt sind und man sich daher nicht sehr an Tatsachen gebunden fühlt.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Sa 30. Aug 2014, 09:38

Lumen hat geschrieben:Sam Harris „Moral Landscape“ ist relativ umstritten und keinesfalls universell akzeptiert ...
Richtig, nimmt niemand mehr ernst.

Lumen hat geschrieben:Die Idee, dass Kultur auf biologische Grundlagen aufsetzt und damit interagiert gilt als unkontrovers.
Richtig, seit eh und je.

Lumen hat geschrieben:Mittlerweile, so der Eindruck, wird es schon für biologistisch befunden, wenn der menschlichen Psyche biologische Grundlagen unterstellt werden.
Falsch, da die Herkunft der Kultur aus der Natur und deren Überformung unstrittig ist. Hatten wir gerade.

Lumen hat geschrieben:Siehe auch was Vollbreit unter Biologie versteht (z.B. Zitat „Das erfolgreichste Wirbeltiermodell ist das Huhn“, entweder missglücktes Ad Absurdum oder glaube, dies „sei“ der „Sinn“ der Biologie, den er aber ablehnt).
Nicht ich verstehe das unter Biologie, das Beispiel ist von Yuval Noah Harari aus Eine kurze Geschichte der Menschheit. Aber ich schließe mich seiner Argumentation an. Er nimmt das biologische Kriterium für Erfolg und/oder Fitness beim Wort, demnach sind Tiere erfolgreich und fit, wenn sie Nachkommen produzieren, die ihrerseits alt genug werden um Nachkommen zu produzieren. Das Huhn (und bei den Pflanzen der Weizen) hat einen einzigartigen Siegeszug angetreten. Harari ist nicht blöd und wählt diese Beispiele mit Bedacht. Natürlich haben wir alle sofort das Gefühl, so könne das doch wohl nicht gemeint sein. Denn das Huhn (und der Weizen) wäre ja nicht wirklich so erfolgreich, wenn der Mensch nicht fortwährend protektiv eingreifen würde.
Aber Konkurrenz und Protektion durch Mitlebewesen, ist das unbiologisch? Was sagen Füchse dazu oder Putzerfische?
Ist Natur, alles ohne Mensch und seine Kultur? Aber soll nicht gerade der fließende und nahtlose Übergang und dass wir alle ja noch immer Naturwesen sind, immer wieder beschworen werden? Für Darth ist alles Biologie, Triebe. Zappas Naturbegriff umfasst auch Kulturleistungen.
Bei so weiten Naturbegriffen ist das Huhn (und der Weizen) ganz natürlich erfolgreich. Lustigerweise ist der Naturbegriff einer der vielschichtigsten und schillerndsten Begriffe überhaupt, geradezu esoterisch. Abhilfe bietet da zu definieren, was man meint, wenn man über „Natur“ redet. Tut man das, kann man aber nicht mehr von einer Kategorie in die andere hüpfen, also hier vom engen zum weiten Naturbegriff und wenn's gerade passt wieder zurück. Dann werden einem auch viele Unklarheiten offenbar, aber könntest Du dann noch glühender Biologist sein? Vermutlich nicht, darum ist es gut, wenn Du die heißen Zonen meidest und im Boulevardesken rumdümpelst, der Schuster und seine Leisten.

Lumen hat geschrieben:Aber nun zu Harris. Er entwirft eine Analogie zur Gesundheit. Es gibt viele Arten gesund zu leben (dritte Analogie, Landschaft: Höhe = Gesundheit/Wohlbefinden, mehrere mögliche Gebirge). Das Bedürfnis gesund zu sein und zu bleiben ist wohl universal. Nur weil Menschen gesund sein wollen, heißt das nicht, dass sie auch Gesund sein sollten. Das wäre der naturalistische Fehlschluss.

Nein, Lumen. Das ist gerade nicht der naturalistische Fehlschluss.
Wenn Menschen bewusst formulieren, dass sie gesund werden oder bleiben wollen, so formulieren sie damit einen Wert.
Dieser Wert steht in Relation zu anderen Werten, z.B. seine Ehre zu verlieren. Deutsche Soldaten im ersten Weltkrieg, für die Feigheit vor dem Feinde etwas war, was sie so demütigen konnte, dass sie lieber den „Heldentod“ starben oder einen Arm hergaben, als entehrt weiter zu leben. Du sieht, „die Steinzeit“ ist bei uns keine 100 Jahre alt, es war die Zeit als Einstein und Freud längst die Bühne betreten hatten.
Der naturalistische Fehlschluss kommt immer dann ins Spiel, wenn Menschen die das nicht selbst formulieren erklärt wird, wie sie leben sollen, weil die Pinguine oder Putzerfische auch so leben. Weil die Natur dies und das so eingerichtet hat, ist das auch richtig so und deshalb muss es so weitergemacht werden.
Biologisten, Traditionalisten, Ökofundamentalisten, Monotheisten und manche Esoteriker reichen sich da die Hände.
Die Struktur ist immer: Es ist natürlicherweise da, also ist es (genau deshalb) auch gut und richtig.
Natürlicherweise gibt es Vergewaltigungen, darum sind Vergewaltigungen gut und richtig.
Wäre der naturalistische Fehlschluss nicht ohnehin für die Tonne, wäre es eigentlich zum kaputtlachen, wie der homophoben Fraktion ihr Argument, so habe „die Natur“ (oder wahlweise Gott) das nicht gewollt und eingerichtet, wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Doch der Genuss die anderen blöd aussehen zu lassen muss eben im Lichte der Redlichkeit zurücktreten, der naturalistische Fehlschluss ist für die Urne, auch wenn Du bis heute noch nicht verstanden hast, was er eigentlich ist.

Wieso bin ich jetzt eigentlich Multikulturalist? Als bekennender Integraler stehe ich dem Multikulturalismus ausgesprochen skeptisch gegenüber. "Mean green meme", ist sogar denglisch, müsste Dich doch anmachen. Ich weiß zwar, dass Du keine Ahnung hast, was Integrale eigentlich sind und Du deshalb noch keine passenden Entwertungen hinkriegst, aber da bist Du doch kreativ und nimmst es mit der Wahrheit ohnehin nicht so genau, der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Nanna » Sa 30. Aug 2014, 13:09

Lumen hat geschrieben:Nur weil Menschen gesund sein wollen sind, heißt das nicht, dass sie auch Ggesund sein sollten. Das wäre der naturalistische Fehlschluss.

Fixed that for you.

Lumen hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Werte mit einer Herleitung aus der Biologie zu begründen ist, egal, mit wie viel Aufwand betrieben, ein naturalistischer Fehlschluss. Insofern sehe ich nicht ganz, wie Vollbreits Frage nicht ernstzunehmen wäre.


Zwar ist das richtig, aber zunächst müsstest du mal anzeigen wo du denn den naturalistischen Fehlschluss entdeckt haben willst.

Nö, da war alles gesagt, was ich sagen wollte.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Lumen » Sa 30. Aug 2014, 13:30

@vollbreit
Du hast die wieder schön um die Problemstellen gedrückt, die du angeblich diskutieren wolltest:

  1. Wo willst du einen naturalistischen Fehlschluss erkannt haben?
  2. Inwiefern ist es kein naturalistischer Fehlschluss aus, etwa aus „Selbsterhaltungstrieb“ (natürlicher Instinkt) ableiten zu wollen, wie Menschen leben sollen. Wie glaubst du kommt die Brücke zustande?
  3. Wenn das nicht der gemeinte (aus 1) naturalistische Fehlschluss ist (aus 2), was ist dann der naturalisische Fehlschluss bei der Moral Landscape, die du selbst ins Spiel gebracht hast?

Davon abgesehen ist es mir recht egal wer du bist oder was du für relevant hälst. Dein Maßstab ist aber recht interessant. Jemand ist natürlich unbedeutend, wenn „nur“ die FAZ, Guardian usw. von Tweets berichten. Dir mag auch Autorität wichtig sein, mir aber nicht. Ich finde Dawkins bringt gute Beiträge und deshalb interessiere ich mich dafür, nicht weil Journalisten ihn für wichtig oder eine Autorität befinden. Wenn es danach ginge, was Journalisten wichtig finden, wäre Heidi Klum wichtig. In der Zeit plädiert dafür der „Ethiker“ Wolfgang Huber für Waffeneinsätze. Vielleicht hätte Dawkins in seiner Not, und der drohenden Unbekanntheit der Zeit ein Interview anbieten sollen?

Außerdem: Du warst mit Multikulturalist nicht gemeint, sondern die überwiegende Kritik zu Moral Landscape aus nicht-religiösen Kreisen hatte diesen Hintergrund.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Lumen » Sa 30. Aug 2014, 13:54

Nanna hat geschrieben:
Lumen hat geschrieben:Nur weil Menschen gesund sein wollen sind, heißt das nicht, dass sie auch Ggesund sein sollten. Das wäre der naturalistische Fehlschluss.

Fixed that for you.


Einen Fix erkenne ich qua Duden gerne an, den andern nicht, denn es ging um einen „Trieb“ und nicht um einen statischen Zustand.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Sa 30. Aug 2014, 14:53

Lumen hat geschrieben:@vollbreit
Du hast die wieder schön um die Problemstellen gedrückt, die du angeblich diskutieren wolltest:

[*]Wo willst du einen naturalistischen Fehlschluss erkannt haben?

Überall dort, wo aus einer Untersuchung von Ethologen eine Sollen abgeleitet.
Wenn Dir der Unterschied nicht klar ist, zwei Aspekte:
Wenn Frans de Waal zeigen kann, dass Affen einen Sinn für Fairness haben und wenn seine Versuche nicht widerlegt werden, dann hat er das zeigen können, das heißt, dass unser Sinn für Fairness von den Affen stammen könnte. Fairness wäre dann unser evolutionäres Erbe, wie z.B. Empathie in gewissen Grenzen unser evolutionäres Erbe ist. Aber einfach Spiegelneuronen oder Fairness zu sagen und zu meinen, dass es das sei, ist unzureichend.

Die allgemeine Kluft – und ich würde mich tatsächlich freuen, wenn Du das verstehst – ist die, dass man ein Gefühl, einen Impuls, eine Affektdisposition haben kann, z.B. Angst und es einen Unterschied ausmacht, ob man einen Begriff dafür hat. Es ist ein Unterschied ob man Angst, Freude oder Erregung spürt oder weiß, dass es Angst, Freude oder Erregung ist, die man spürt.

Empathie heißt, zu wissen, dass man empathisch oder mitfühlend handelt, Fairness heißt, bewusst fair zu sein.
Der Unterschied ist ungefähr der zwischen eine Schachcomputer, der inzwischen mit Leichtigkeit jeden Großmeister niederringt, aber nicht weiß, dass er Schach spielt. Er tut es besser als sonst irgendwer, ist sich dessen aber nicht bewusst. Das ist der eine wichtige Punkt, den es zu verstehen gilt.

Was den naturalistischen Fehlschluss angeht, ist dies wirklich nicht so schwer: Immer dann, wenn jemand behauptet, weil etwas so sei, sei es auch gut so und müsse (sollte) es auch so bleiben, liegt dieser Fehlschluss vor.
Das heißt, wann immer man im Tierreich forscht und was auch immer dort findet, es kann noch so beeindruckend sein, kann man nirgends daraus ableiten, dass es so sein sollte. Aus der Deskription folgt kein irgendwie gearteter ethisch-moralischer Imperativ.

In dem Moment wo jemand sagt, er sei gesund und wolle es auch bleiben und es sei doch ein gute Strategie mal zu gucken, wie eine vernünftige naturnahe Ernährung aussehen könnte und man sagt: „In Anbetracht der Zivilisationskrankheiten, verglichen mit dem Zahnstatus, der Arteriosklerose und so weiter von diesem oder jenem Naturvolk, ist des vernünftig, dass, wenn man Herzerkrankungen und Karies minimieren will ...“, so ist das eine andere Kiste.
Das „So sollt ihr leben!“ von Pfarrer Kneipp, folgt ja schon der stillen Prämisse, dass der Mensch gesund bleiben will, was ja viele wollen, aber offenbar ist einigen anderes wichtiger.

Lumen hat geschrieben:[*]Inwiefern ist es kein naturalistischer Fehlschluss aus, etwa aus „Selbsterhaltungstrieb“ (natürlicher Instinkt) ableiten zu wollen, wie Menschen leben sollen. Wie glaubst du kommt die Brücke zustande?
Es ist auch das ein naturalistischer Fehlschluss.
Menschen sollen nicht leben, weil sie einen natürlichen Überlebenstrieb haben, sondern man sollte es ihnen gewähren, weil sie formulieren können, dass sie weder leiden noch sterben wollen. Das ist ein Grund. Wir dehnen, weil wir meinen gute Gründe dafür zu haben, diesen Wunsch auch auf andere fühlende Wesen aus, sind da allerdings etwas inkonsistent, wenn wir Kröten schützen (nichts dagegen) und Kühe quälen (finde ich schlecht).
Aber die Tendenz ist richtig und die meisten würden es zurecht als zynisch empfinden, wenn man argumentierte, die Kühe sollten doch was sagen oder sich wehren.
Die Brücke ist, dass wir von den Wesen, denen wir nach allen Regeln der Vernunft unterstellen dürfen, dass sie vernunftbegabte Wesen sind, weil sie gute Gründe vorlegen weiterschließen, auf jene Wesen, die sich zwar nicht dementsprechend äußern können, aber dennoch – nach allem was wir wissen, auch durch unsere direkte Fähigkeit zur Empathie – wir ahnen zumindest, wenn andere leiden. Wir leihen ihnen gewissermaßen unsere Stimme, machen uns zu ihrem Anwalt.
Dort angekommen können wir erforschen, was sie denn z.B. neuronal, sozial, kognitiv in die Lage versetzt zu diesem oder jenem und so richtig ein Großteil dessen ist, was die Biologie hier erforscht, es wird oft vergessen, dass dies der zweite Schritt ist.

Lumen hat geschrieben:[*]Wenn das nicht der gemeinte (aus 1) naturalistische Fehlschluss ist (aus 2), was ist dann der naturalisische Fehlschluss bei der Moral Landscape, die du selbst ins Spiel gebracht hast?
Das Problem beim Moral Landscape Ansatz ist nicht der NF, sondern, dass mir bis heute vollkommen unklar ist, was Harris überhaupt sagen will. Hast Du das Buch gelesen? Ich nicht.
Aber ich habe gelesen, wie er, ich glaube auch seiner Website argumentieren will, warum der NF doch kein NF oder selbst ein NF ist. Wirrer Mist. Aber erklär es mir, vielleicht irre ich mich.
Auch habe ich bis heute zwar vehemente Verfechter einer objektiven Moral nach dem Vorbild Harris gefunden, aber leider waren sie auch auf mehrfache Nachfrage nicht in der Lage zu sagen, was eine objektive Moral nach Lesart Harris überhaupt ausmacht.
Wenn Du diese Lücke schließen kannst, wäre ich Dir dankbar, wir können meinetwegen auch noch mal Harris 'Argumente gegen den NF ausbuddeln.
Du kennst Dich dort bestimmt besser aus als ich: www.samharris.org/
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Lumen » Sa 30. Aug 2014, 19:35

Vollbreit hat geschrieben:
Lumen hat geschrieben:@vollbreit
Du hast die wieder schön um die Problemstellen gedrückt, die du angeblich diskutieren wolltest:

[*]Wo willst du einen naturalistischen Fehlschluss erkannt haben?

Überall dort, wo aus einer Untersuchung von Ethologen eine Sollen abgeleitet.
Wenn Dir der Unterschied nicht klar ist, zwei Aspekte:
Wenn Frans de Waal zeigen kann, dass Affen einen Sinn für Fairness haben und wenn seine Versuche nicht widerlegt werden, dann hat er das zeigen können, das heißt, dass unser Sinn für Fairness von den Affen stammen könnte. Fairness wäre dann unser evolutionäres Erbe, wie z.B. Empathie in gewissen Grenzen unser evolutionäres Erbe ist. Aber einfach Spiegelneuronen oder Fairness zu sagen und zu meinen, dass es das sei, ist unzureichend.


Wir sind uns glaube ich einig, was der naturalistische Fehlschluss ist. Das sind auch interessante Beispiele, jedoch habe ich mich gefragt, wo du in diesem Thema den naturalistischen Fehlschluss siehst, nicht was der naturalistische Fehlschluss ist. Und wo siehst du die Moral Landscape hier?

Vollbreit hat geschrieben:Die allgemeine Kluft – und ich würde mich tatsächlich freuen, wenn Du das verstehst – ist die, dass man ein Gefühl, einen Impuls, eine Affektdisposition haben kann, z.B. Angst und es einen Unterschied ausmacht, ob man einen Begriff dafür hat. Es ist ein Unterschied ob man Angst, Freude oder Erregung spürt oder weiß, dass es Angst, Freude oder Erregung ist, die man spürt.

Empathie heißt, zu wissen, dass man empathisch oder mitfühlend handelt, Fairness heißt, bewusst fair zu sein.
Der Unterschied ist ungefähr der zwischen eine Schachcomputer, der inzwischen mit Leichtigkeit jeden Großmeister niederringt, aber nicht weiß, dass er Schach spielt. Er tut es besser als sonst irgendwer, ist sich dessen aber nicht bewusst. Das ist der eine wichtige Punkt, den es zu verstehen gilt.


Das sieht mir nach Searles chinesischem Zimmer aus, d.h. dem Harten Problem des Bewusstseins aus, in etwas anderem Gewande. Ich habe keine besonders gefestigte Ansicht dazu aber nehme an, dass sich bei dem Problem um eine Illusion handelt. Könntest du für einen Moment ein solcher Schachcomputer sein, dann würden dir gute Zuge als attraktiv erscheinen und du fühltest dich dazu genötigt, den jeweiligen Zug auszuführen. Empathie und ähnliche Dinge sind sehr viel komplexere, aber prinzipiell identische Problemstellungen die über Millionen von Jahren von der Evolution mittels Brute Force austariert wurden. Ich kann dir hier nur nochmal How the Mind Works empfehlen. Aber auch hier sehe ich den Zusammenhang zu dem Thema nicht.

Vollbreit hat geschrieben:Was den naturalistischen Fehlschluss angeht, ist dies wirklich nicht so schwer: Immer dann, wenn jemand behauptet, weil etwas so sei, sei es auch gut so und müsse (sollte) es auch so bleiben, liegt dieser Fehlschluss vor.
Das heißt, wann immer man im Tierreich forscht und was auch immer dort findet, es kann noch so beeindruckend sein, kann man nirgends daraus ableiten, dass es so sein sollte. Aus der Deskription folgt kein irgendwie gearteter ethisch-moralischer Imperativ.

In dem Moment wo jemand sagt, er sei gesund und wolle es auch bleiben und es sei doch ein gute Strategie mal zu gucken, wie eine vernünftige naturnahe Ernährung aussehen könnte und man sagt: „In Anbetracht der Zivilisationskrankheiten, verglichen mit dem Zahnstatus, der Arteriosklerose und so weiter von diesem oder jenem Naturvolk, ist des vernünftig, dass, wenn man Herzerkrankungen und Karies minimieren will ...“, so ist das eine andere Kiste. Das „So sollt ihr leben!“ von Pfarrer Kneipp, folgt ja schon der stillen Prämisse, dass der Mensch gesund bleiben will, was ja viele wollen, aber offenbar ist einigen anderes wichtiger.


Hier führst du Elemente ein, die zwar einen naturalistischen Fehlschluss verdeutlichen, aber dabei auch die Krux umgehen. Ich hatte nicht den Eindruck, der naturalistische Fehlschluss (NF) in seiner schematischen Weise würde hier mißverstanden werden. Interessant wird es bei Beispielen die eben nicht so einfach sind, ob und inwiefern dieser Einwandt (NF) dann haltbar ist.

Angenommen viele Kinder in Afrika sind vor dem verdursten. Leider können sie keine humanitäre Hilfe erwarten. Glücklicherweise beschäftigt sich der Rat der Weisen auf dem Planeten Vulkan mit dem Problem. Gehen wir davon aus diese Vulkanier verstünden wie Menschen ticken (d.h. ihnen fehlt es nicht an entscheidenden Wissen), aber sie gingen streng logisch vor. Einer der Vulkanier meint nun: Ja, diese Kinder leiden Durst und ihre Körper sind so beschaffen, dass ihnen der Flüssigkeitsmangel viszeral angezeigt wird (das ist hier mit "Leiden" gemeint). Natürlichweise wollen sie trinken, weil der Körper Flüssigkeit braucht, daher sollten sie auch trinken, meint einer. Das ist ein naturalistischer Fehlschluss meint ein anderer. Eine unbrauchbare Begründung. Aus diesem Sachverhalt ließe sich nicht ableiten, dass den Kindern auch geholfen werden sollte. Denn aus dem Sein folgt kein Sollen, daher kann den Kindern nicht geholfen werden. Ein anderer pflichtet bei. Es ist eine rein willkürliche Setzung. Es gibt wohl klare Tatsachen (Kinder leiden Durst, werden daran sterben), aber die Tatsachen legen garnichts nahe, deuten weder eine Handlungsanweisung an, noch könnte dies irgendein Sollen informieren, dass die Kinder trinken sollen (und das die Vulkanier deswegen Wasser herunterbeamen sollten). Haben die Vulanier recht, oder nicht?

Ich selbst denke, dass hier Karte mit Territorium verwechselt wird, d.h. ein naturalistischer Fehlschluss ist eine rein rhetorische Figur die zwar eine Argumentation behindert, aber nicht die Sachverhalte beeinträchtigt. Aber bevor ich das groß erörtere, würde mich interessieren wie eurer (jeder Leser) Ansatz ist. Jedenfalls führt das auf Harris' Argumentation hin, wie ich sie verstanden habe.

Vollbreit hat geschrieben:
Lumen hat geschrieben:[*]Inwiefern ist es kein naturalistischer Fehlschluss aus, etwa aus „Selbsterhaltungstrieb“ (natürlicher Instinkt) ableiten zu wollen, wie Menschen leben sollen. Wie glaubst du kommt die Brücke zustande?
Es ist auch das ein naturalistischer Fehlschluss.
Menschen sollen nicht leben, weil sie einen natürlichen Überlebenstrieb haben, sondern man sollte es ihnen gewähren, weil sie formulieren können, dass sie weder leiden noch sterben wollen. Das ist ein Grund. Wir dehnen, weil wir meinen gute Gründe dafür zu haben, diesen Wunsch auch auf andere fühlende Wesen aus, sind da allerdings etwas inkonsistent, wenn wir Kröten schützen (nichts dagegen) und Kühe quälen (finde ich schlecht).
Aber die Tendenz ist richtig und die meisten würden es zurecht als zynisch empfinden, wenn man argumentierte, die Kühe sollten doch was sagen oder sich wehren.
Die Brücke ist, dass wir von den Wesen, denen wir nach allen Regeln der Vernunft unterstellen dürfen, dass sie vernunftbegabte Wesen sind, weil sie gute Gründe vorlegen weiterschließen, auf jene Wesen, die sich zwar nicht dementsprechend äußern können, aber dennoch – nach allem was wir wissen, auch durch unsere direkte Fähigkeit zur Empathie – wir ahnen zumindest, wenn andere leiden. Wir leihen ihnen gewissermaßen unsere Stimme, machen uns zu ihrem Anwalt. Dort angekommen können wir erforschen, was sie denn z.B. neuronal, sozial, kognitiv in die Lage versetzt zu diesem oder jenem und so richtig ein Großteil dessen ist, was die Biologie hier erforscht, es wird oft vergessen, dass dies der zweite Schritt ist.


Mir fehlt auch hier irgendeine Information, die deinen Beitrag verbindet. Falls die Kühe, die selbst nicht reden können aber Interessen haben auf die Down-Syndrom Zellklumpen abzielen, dann würde ich widersprechen. Denn Kühe sind Lebewesen denen bestimmte Interessen unterstellt werden können, wohingegen vergeudete Zellen, Spermien und Eizellen, verpasste Gelegenheiten zur Zeugung von Nachwuchs alles Dinge sind die keinen Referenten haben und somit auch keine Interessen.

Vollbreit hat geschrieben:
Lumen hat geschrieben:[*]Wenn das nicht der gemeinte (aus 1) naturalistische Fehlschluss ist (aus 2), was ist dann der naturalisische Fehlschluss bei der Moral Landscape, die du selbst ins Spiel gebracht hast?
Das Problem beim Moral Landscape Ansatz ist nicht der NF, sondern, dass mir bis heute vollkommen unklar ist, was Harris überhaupt sagen will. Hast Du das Buch gelesen? Ich nicht.
Aber ich habe gelesen, wie er, ich glaube auch seiner Website argumentieren will, warum der NF doch kein NF oder selbst ein NF ist. Wirrer Mist. Aber erklär es mir, vielleicht irre ich mich.
Auch habe ich bis heute zwar vehemente Verfechter einer objektiven Moral nach dem Vorbild Harris gefunden, aber leider waren sie auch auf mehrfache Nachfrage nicht in der Lage zu sagen, was eine objektive Moral nach Lesart Harris überhaupt ausmacht.
Wenn Du diese Lücke schließen kannst, wäre ich Dir dankbar, wir können meinetwegen auch noch mal Harris 'Argumente gegen den NF ausbuddeln.
Du kennst Dich dort bestimmt besser aus als ich: http://www.samharris.org/


Ich kenne Essays und Vorträge zur Moral Landscape, habe das Buch selbst aber (noch) nicht gelesen. Ich habe auch hier keine feste Meinung, finde es aber etwas zu einfach, die Argumentation einfach abzutun. Die Argumentation lässt sich etwas so umreissen... hab eine besserer Zusammenfassung im englischen Wikipedia gefunden:

Moral Landscape / Wikipedia hat geschrieben:Sam Harris's case starts with two premises: "(1) some people have better lives than others, and (2) these differences are related, in some lawful and not entirely arbitrary way, to states of the human brain and to states of the world".[3] The idea is that a person is simply describing material facts (many about their brain) when they describe possible "better" and "worse" lives for themselves. Granting this, Harris says we must conclude that there are facts about which courses of action will allow one to pursue a better life.

Harris attests to the importance of admitting that such facts exist, because he says this logic applies to groups of individuals as well. He suggests that there are better and worse ways for whole societies to pursue better lives. Just like at the scale of the individual, there may be multiple different paths and "peaks" to flourishing for societies - and many more ways to fail.

Harris then makes a pragmatic case that science could usefully define "morality" according to such facts (about people's wellbeing). Often his arguments point out the way that problems with this scientific definition of morality seem to be problems shared by all science, or reason and words in general. Harris also spends some time describing how science might engage nuances and challenges of identifying the best ways for individuals, and groups of individuals, to improve their lives. Many of these issues are covered below.


Sam Harris hat selbst einen Aufruf gestartet, seine Behauptung zu hinterfragen und hier ist der Gewinner-Essay (unter 1000 Wörter).
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » So 31. Aug 2014, 11:38

Also, der NF kam (durch Zappa) ins Spiel, als ich fragte, was denn allgemein, durch eine objektive Ethik biologischer Genese, welcher Gestalt auch immer sie nun sein mag, gewonnen wäre.

Lumen hat geschrieben:Hier führst du Elemente ein, die zwar einen naturalistischen Fehlschluss verdeutlichen, aber dabei auch die Krux umgehen. Ich hatte nicht den Eindruck, der naturalistische Fehlschluss (NF) in seiner schematischen Weise würde hier mißverstanden werden. Interessant wird es bei Beispielen die eben nicht so einfach sind, ob und inwiefern dieser Einwandt (NF) dann haltbar ist.

Angenommen viele Kinder in Afrika sind vor dem verdursten. Leider können sie keine humanitäre Hilfe erwarten. Glücklicherweise beschäftigt sich der Rat der Weisen auf dem Planeten Vulkan mit dem Problem. Gehen wir davon aus diese Vulkanier verstünden wie Menschen ticken (d.h. ihnen fehlt es nicht an entscheidenden Wissen), aber sie gingen streng logisch vor. Einer der Vulkanier meint nun: Ja, diese Kinder leiden Durst und ihre Körper sind so beschaffen, dass ihnen der Flüssigkeitsmangel viszeral angezeigt wird (das ist hier mit "Leiden" gemeint). Natürlichweise wollen sie trinken, weil der Körper Flüssigkeit braucht, daher sollten sie auch trinken, meint einer. Das ist ein naturalistischer Fehlschluss meint ein anderer. Eine unbrauchbare Begründung. Aus diesem Sachverhalt ließe sich nicht ableiten, dass den Kindern auch geholfen werden sollte. Denn aus dem Sein folgt kein Sollen, daher kann den Kindern nicht geholfen werden. Ein anderer pflichtet bei. Es ist eine rein willkürliche Setzung. Es gibt wohl klare Tatsachen (Kinder leiden Durst, werden daran sterben), aber die Tatsachen legen garnichts nahe, deuten weder eine Handlungsanweisung an, noch könnte dies irgendein Sollen informieren, dass die Kinder trinken sollen (und das die Vulkanier deswegen Wasser herunterbeamen sollten). Haben die Vulanier recht, oder nicht?

Es gibt ja in Deinem Szenario verschieden denkende Vulkanier, aber ich verstehe, worauf Du hinaus willst.
Aus der Feststellung dass Kinder Wasser brauchen und ansonsten verdursten folgt moralisch erst mal gar nichts. Es ist und bleibt eine Beschreibung wie: „Nach 6 Minuten ohne Luft sind die meisten Menschen erstickt.“ „Einen Sturz von einem Hochhaus überleben die meisten Menschen nicht.“
Uns würden 100 weitere Beispiele einfallen und aus allen folgt ethisch-moralisch nichts. Reine Deskritption.
Erst wenn jemand sagt: „Das ist nicht gut.“ „Das können wir nicht zulassen.“ „Das darf man nicht hinnehmen.“, kommt Moral ins Spiel, denn hier wird behauptet, dieser Befund sein nicht gut oder nicht hinzunehmen.
„In Afrika sterben 1000de Kinder an Hunger“, ist erst mal nur Deskription. „Es ist eine Schande, dass das heute immer noch so ist“, ist die moralische Wertung.
Es gibt Mischformen: „In einer Zeit in der in Europa die Menschen an Fettsucht leiden, sterben in Afrika noch immer Kinder an den Folgen der Unterernährung“, ist streng genommen eine reine Sachinformation, aber der moralische Zungenschlag in dieser Information ist unüberhörbar.

Du hast etwas ähnliches, nur umgekehrt gemacht, und zwar einen an sich moralischen Begriff „Leiden“ genommen und versachlicht. Die „Kinder leiden Durst“ (vielleicht ein Dialekt) und Du meintest neutraler die „Kinder haben Durst“.
Moore macht eigentlich klar, dass eine moralische Prämisse auftauchen muss, ein Begriff wie „gut“, „geboten“, „unsere Pflicht“, „sollte“, „darf nicht“ und dergleichen, um in die Ethik zu kommen.
Oft kann man die Prämisse implizit mitdenken und im Alltag gibt es unendlich viele Sprachspiele in denen Prämissen implizit auftauchen oder verdichtet werden, aber im philosophischen Diskurs geht es darum die Dinge wirklich explizit zu machen.
Mitunter halte ich die Vertreter der analytischen Philosophie auch für zwangsgestörte Erbsenzähler, aber man muss verstehen, dass der Vorwurf des Geschwurbels oder Gelabers bezogen auf die Philosophie nun so falsch ist, wie etwas nur falsch sein kann. Wer's genau will, kann es genau haben, gerade dort. Sollte sich dann aber eben auch nicht beschweren, dass es da genau zugeht.

Lumen hat geschrieben:Ich selbst denke, dass hier Karte mit Territorium verwechselt wird, d.h. ein naturalistischer Fehlschluss ist eine rein rhetorische Figur die zwar eine Argumentation behindert, aber nicht die Sachverhalte beeinträchtigt.
Ich glaube, Du irrst Dich. Es gibt wenige rein rhetorische Figuren, gerade in den letzten Jahren geht der Trend (der im Grunde mit Wittgenstein begann) dahin, immer mehr zu erkennen, dass Sagen ein Tun ist. Dies ist nicht naiv gemeint (es reicht nicht „Rettungsring“ zu rufen, wenn jemand ertrinkt), sondern in dem Sinne, dass Handlungen und Sprachpraxis ineinander greifen.
Kurz und knapp und noch einen anderen Aspekt aufgreifend, dass Sprache nicht das Anheften von Zetteln an bereits Bestehendes ist:
Jürgen Habermas hat geschrieben:„Aus [Wittgensteins] Sicht verliert die Darstellungsfunktion der Sprache inmitten ihrer Mannigfaltigkeit von Verwendungsweise ihre privilegierte Stellung. Das Medium der Sprache dient nicht in erster Linie der Beschreibung oder Feststellung von Tatsachen; sie dient gleichermaßen dem Befehlen und dem Rästelraten, dem Witze erzählen, Danken, Fluchen, Grüßen und Beten. Austin wird später anhand dieser performativen Verben die doppelte Leistung von Sprechhandlungen analysieren, mit denen der Sprecher, indem er etwas sagt, zugleich etwas tut.“
(Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Suhrkamp 1988, S.111)

Und das ist das schöne Ergebnis, eben auch in der von Dir (und mir) geschätzten Kognitionspsychologie. Ich bin hoch erfreut über das was Kahnemann da abgeliefert hat und aktuell lese ich mit wachsendem Genuss Douglas Hofstadter (der von Gödel, Escher, Bach und Kognitionspsychologe) & Emmanuel Sander (auch Kognitionspsychologe) Die Analogie – Das Herz des Denkens. Vorbei die Zeiten, als Kognitionspsychologen behavioristische Langeweiler waren, was da kommt, ist mitunter erste Sahne.
Ob bei den Primingreizen oder anderswo, auf einmal sind die Jungs gut im Geschäft, erkennen den Zusammenhang zwischen Begriffen, Gesten, Emotionen, den Wert von Analogien und bauen da tatsächlich eine Brücke, zuerst vielleicht zu den Psychoanalytikern und von der aus ist eine Synthese mit der Biologie ein Katzensprung, denn das ist wirklich das Projekt der Großen in der modernen Psychoanalyse, Otto Kernberg, Rainer Krause bei dem Du Biologie auf höchstem Niveau abgehandelt findest. Etwa wenn er die Triebtheorien der Biologie und der Psychoanalyse vergleicht.

Lumen hat geschrieben:Mir fehlt auch hier irgendeine Information, die deinen Beitrag verbindet. Falls die Kühe, die selbst nicht reden können aber Interessen haben auf die Down-Syndrom Zellklumpen abzielen, dann würde ich widersprechen.
Nein, so bin ich nicht unterwegs.
Ich finde Dawkins tatsächlich recht uninteressant und beachte nicht groß, was er von sich gibt, der läuft also nicht ständig durch meinen Kopf.

Lumen hat geschrieben:Denn Kühe sind Lebewesen denen bestimmte Interessen unterstellt werden können, wohingegen vergeudete Zellen, Spermien und Eizellen, verpasste Gelegenheiten zur Zeugung von Nachwuchs alles Dinge sind die keinen Referenten haben und somit auch keine Interessen.

Das ist an sich eine eigene Diskussion, die ich hier ungerne in drei Halbsätzen abhandeln will. Meine Position dazu ist, dass es drei Gründe gibt, in denen ich anderer Meinung bin als Du. Zum einen finde ich, dass man Menschen mit Down-Syndrom fragen kann, ob sie gerne leben. Es gibt Menschen, die das nicht gerne tun und die sagen das auch ganz offen: „Alt werden ist Scheiße.“ Hört man schon mal. Für mich wäre die emotionalen Bindung der werdenden Eltern ein Argument, vor allem ist die Potentialität in meinen Augen ein starkes Argument.
Ich weiß aber nicht, wie ich im Fall, wenn meine Frau ein Kind mit dieser oder jener Behinderung bekommen würde, reagieren würde.
Ich weiß, dass es nicht mein Wunsch wäre, ein behindertes Kind zu bekommen, aber ich kenne Kinder mit Down-Sydrom (gerade das ist schwer zu prognostizieren, weil die Spannbreite hier von so gut wie keinen Symptomen bis zu schweren Missbildungen geht) und ihre Eltern, weiß um die Ambivalenz, aber auch, dass einige dies als echtes Geschenk sehen.
Aber jetzt ohne Dawkins zurück zum NF und später dann gerne auch zu Dawkins, dessen Äußerung ich völlig missraten finde.

Lumen hat geschrieben:Ich kenne Essays und Vorträge zur Moral Landscape, habe das Buch selbst aber (noch) nicht gelesen. Ich habe auch hier keine feste Meinung, finde es aber etwas zu einfach, die Argumentation einfach abzutun. Die Argumentation lässt sich etwas so umreissen... hab eine besserer Zusammenfassung im englischen Wikipedia gefunden:

Moral Landscape / Wikipedia hat geschrieben:Sam Harris's case starts with two premises: "(1) some people have better lives than others, and (2) these differences are related, in some lawful and not entirely arbitrary way, to states of the human brain and to states of the world".[3] The idea is that a person is simply describing material facts (many about their brain) when they describe possible "better" and "worse" lives for themselves. Granting this, Harris says we must conclude that there are facts about which courses of action will allow one to pursue a better life.

Harris attests to the importance of admitting that such facts exist, because he says this logic applies to groups of individuals as well. He suggests that there are better and worse ways for whole societies to pursue better lives. Just like at the scale of the individual, there may be multiple different paths and "peaks" to flourishing for societies - and many more ways to fail.

Harris then makes a pragmatic case that science could usefully define "morality" according to such facts (about people's wellbeing). Often his arguments point out the way that problems with this scientific definition of morality seem to be problems shared by all science, or reason and words in general. Harris also spends some time describing how science might engage nuances and challenges of identifying the best ways for individuals, and groups of individuals, to improve their lives. Many of these issues are covered below.


Sam Harris hat selbst einen Aufruf gestartet, seine Behauptung zu hinterfragen und hier ist der Gewinner-Essay (unter 1000 Wörter).

Ja, das kenne ich, nicht die Passage, aber die Argumentation.
Die Schwachstelle ist eindeutig die dritte Prämisse, in der Harris unbegründet auf einmal den NF per def ungültig machen möchte.
Es ist schon richtig, in der Alltagssrpache trennen wir Deskription und Bewertung nie fein säuberlich und werden dennoch verstanden.
Ein Satz wie: „Jetzt soll es noch eine Woche weiterregnen“, lässt Unmut anklingen, der auch hier nicht expliziert wurde. Wie immer, entscheidet der Kontext.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » So 31. Aug 2014, 11:40

Nun aber das Problem, was der Harrisinterpret nicht lösen konnte, auch wenn man sich auf das Spiel einlässt.
Zum einen zielten Harris' Argumente auf den gesunden Menschenverstand ab, wie auch oben anklingt. Nun ist der a) nicht immer gesund, aber b) vor allem landet man dann bei simpler Mengenabstimmung, also einer nicht eben sehr anspruchsvollen Form des Utilitarismus, wenn das überhaupt einer ist. Das eigentliche Argument, Harris folgend, sollte aber sein, dass jeder schon ganz gut selbst weiß, was ihm gut tut und worunter er leidet, wenn wir das sozusagen abzählen, schon dazu kommen, was gut und schlecht ist.

Ethik und Moral zünden eigentlich erst so richtig in Fällen ethischer Dilemmata: Nicht uinbedingt diese Fälle, dass man über das Leben von einem gegen fünf entscheiden muss, weil diese Fälle etwas lebensfern – wenn auch experimentall interessant – sind, sondern im normalen Alltag.
Man will aufrichtig sein und die Wahrheit sagen, aber den anderen auch nicht verletzen oder bloßstellen. Nun kommt er mit einem Pissfleck in der hellen Hose vom Klo, was tun? Diskret zur Seite nehmen? Schweigend übergehen? „Hömma, Kollege, du hast dich da bestrullt, geh ma Hose wechseln“?

Oder: „Du lernst jemanden kennen, der ein wirklich herzensguter und sympatischer Mensch ist, bei einem Treffen über Oldtimer, weil euch das beide interessiert. Weil ihr gut miteinander könnt, dasselbe Automodell favorisiert und herausfindet, dass ihr auch noch andere Interessen teilt kommt ihr tiefer ins Gespräch und Du merkst, der nette Kerl hat zwei dicke Probleme. Vor kurzem, beging sein Sohn Selbstmord und seine Frau ist schwer an Krebs erkrankt, Prognose sehr schlecht. Du bist ein wenig geschockt weil er Dir leid tut, dann sagt er, in einem Nebensatz: „... würde Gott mir nicht die Kraft geben, ich weiß manchmal selbst nicht was ich tun würde.“ Im Grunde Dein Stichwort, aber ich schätze Dich (hoffentlich richtig) so ein, dass Du ihm nicht direkt erzählen würdest, er würde sich mit dieser Äußerung in die Reihe der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte stellen und sich an Tod, Folter, Kinderfickerei und Verstümmelung mitschuldig machen würde. Ein Dilemma. Wir kennen Deine Einstellung, aber ein „Verreck doch, du Sau, hast es verdient“ würde Dir wohl nicht über die Lippen kommen. Ich glaube, Du würdest Dich in der Situation nicht zu einem: „Du hör mal, mit dem Gott, da müssen wir jetzt aber noch mal drüber reden“ und vielleicht nicht mal zu einem „Ich respektiere deine Meinung (was Du aber eigentlich nicht tust – und lügen soll man ja auch nicht ;-) ), aber ich denke da anders.“, hinreißen lassen. Du würdest eher nicht sagen (hoffe ich): „Bist du sicher, dass es Gott ist, der dir die Kraft gibt?“

Stimmt schon, vor allem im großen Stil gibt es das auch, aber auch hier: Gegen Hunger, Krieg, AIDS, Terror, Unterdrückung und so weiter sind wir alle. Ist isoliert betrachtet nie ein Problem, auch wenn man es niedriger hängt, dann sind alle (oder sehr viele) für mehr Tierschutz, Steuergerechtigkeit, Nachhaltigkeit, wirtschaftliche Stabilität, die Energiewende, Autos mit weniger CO2 Ausstoß, echte Freundschaft, gutes Wetter, Mobilität, allumfassenden Internetzugang und so weiter.
Man braucht das jetzt nicht künstlich gegeneinader zu stellen, jeder weiß, die Sache wird sehr schnell, sehr komplex und für den Laien unüberschaubar. Landschaftsschutz, stabile Wirtschaft und gute Infrastruktur, dazu eine Region zum Wohlfühlen, das beißt sich schon mal, da braucht es Experten.
Das ist noch kein ethiches Dilemma, eher ein logistisches, aber schon kompliziert. Das erleben wir gerade, bei der Frage, wie lange man zusieht, wie bestens ausgerüstete Truppen einen Staat im Staat errichten wollen.
Das sind Fragen bei denen der gesunde Menschenverstand schnell am Limit ist, aber nach Aussagen des Harrisinterpreten gibt es hier einen Ausweg: Die Wissenschaft. Ob im Kleinen (Hirnforschung, Gerichtsgutachter) oder Großen (Klimaforschung, Politikberatung), die Wissenschaft weiß Antworten. Und das es auch in der Wissenschaft zuweilen Divergenzen gibt, nimmt maneben die Topwissenschaftler und lässt sie entscheiden.

So weit, so gut, nur nicht für Harris' Argumentation. Denn einmal soll alles der gesunde Menschenverstand leisten, was sich beim Kollegen zu der Formel verdichtet Ethik sei Utilitarismus und dieser bedeute die Gesamtsumme von Leid zu vermeiden. Wie, das weiß jeder, weil jeder weiß, was Leid ist und ihm nicht gut tut.
Doch das andere Ende des Begründungsspektrums braucht den Topexperten, den Spitzenwissenschaftler, weil nur der es wirklich genau weiß.
Aber wer oder wo ist denn nun der Ursprung dieser Ethik. Der allerbanalste gesunde Menschenverstand oder das Expertenwissen?
Man könnte noch sagen, das hinge von der Frage ab. Aber wer sagt einem, aufgrund welcher Kriterien (die warum genau so bestimmt werden?), welche Frage nun in welche Kategeorie fällt?

Darüber hinaus bin ich nicht sicher, dass die Prämisse überhaupt stimmt: Natürlich kann man sich mehr Geld, Gesundheit und Frieden auf Erden wünschen (und schon hier darf man fragen, ob das wirklich rein materielle Fakten sind), aber genauso gut kann man sich mehr Liebe, Vernunft, Treue, Freundschaft, Fairness, dass man sich gegenseitig bessser zuhört, neue Werte und so weiter wünschen.
Sagt man Liebe, Fairness und Werte seien auch nur Zustände im Gehirn/des Gehirns ist man bei einer anderen Diskusssion, die aktuell ja auch geführt wird, über Sinn und Unsinn des Physikalismus als unterster Reduktionsstufe oder der neurobiologischen Interpretation, im Falle menschlicher Bewusstseinszustände.
(Die zentrale Frage ist hier, warum man genau einer Perpektive den Vorrang gegenüber anderen ebenfalls möglichen Perspektiven geben soll.
Ist eine Tomate nun vorrangig ein kugelartiger Festkörper, der vor allem Licht des Spektrums 600 – 800 nm reflektiert oder ist eine Tomate vor allem die Frucht eines Nachtschattengewächses oder ist eine Tomate ein zentraler Bestandteil von Tomatensosse Napoli? Was ist nun wahrer, realer, objektiver und warum?)

Es gibt alle möglichen Gründe, warum das keine Frage der Rechenleistung ist. Von der Idee der Areale ist man ja schon wieder abgerückt und kommt gerade zu der Erkenntnis, dass es für simpelste Alltagsaufgaben und schwerwiegende Entscheidungen immer mehrere Bereiche gleichzeitig gibt, die hier aktiv sind.
Aber allein dadurch, dass ein bestimmter Begriff als Priming bei Dir eine andere Kaskade von Begriffen und Empfindungen evoziert, als bei mir, eng verwoben mit Deiner und meiner persönlichen Lebensgeschichte, werden auch vollkommen andere Hirnbereiche aktiviert.
Hofstadter & Sander exerzieren das für Begriffe durch, weisen die übliche Vorstellung von mentaler Repräsentation, nach der Zustand x das Ding y repräsentiert, zurück, kommen zu einer Idee der Begriffswolken, statt klar abgegrenzter Begriffe und übertragen die Ergebnisse nicht-homogener Kategorien auf die neuronale Situation, in der als ähnlich wahrgenommen Situationen alte Erinnerungen evozieren. Nach Aussage deer beiden gibt es „markante Tendenzen“ nach der sich diese Sichtweise in Experimenten als stabil bestätigt.
Wir haben es dabei mit der Besonderheit zu tun, dass in unserem Bewusstsein das alte bildlich-mimisch-gestisch-affektive Kommunikationssystem und das neue begrifflich-abstrakte zusammenwachsen müssen, was sie in aller Regel überragend erfolgreich tun. Doch es gibt eben auch spezifische Abweichungen, wenn die System nicht wie „gewünscht“ oder üblich zusammenwachsen und so entstehen charakteristische Pathologien, die ihrerseits allerdings Wege in neue Bereiche, neue Sichtweisen ebnen können. An sich hoch spannend, weil hier Psychopathologieforschung, Hirnforschung, Linguistik, Philosophie des Geistes und der Sprache, Primatenforschung, Affektforschung, Evolutionsbiologie, KI und so weiter zusammen kommen.
Das Problem vor dem die Rechenleistung in die Knie geht, ist die Indvidualtität. Es gibt sicher bestimmte statistische Näherungen, so dass Begriffe wie „Weihnachten“, „Sauerbraten“, „Wiener Walzer“, „Hamburg“ und „Eisenbahn“ in vielen Menschen bestimmte Assoziationen mit hoher Wahrscheinlichkeit aufkommen lassen, aber wo ziehen wir die Grenze bei der wir sagen X hat bei dem Begriff „Wiener Walzer“ nicht die richtigen Assoziationen?
Bestimmte Algortihmen sind mit größter Zuverlässigkeit bestimmbar.- Ich brauche mit nur das Verhlaten meines Nachbarn ein paar Tage anzuschaun und weiß sicher, dass er um 6:35 das Haus verlasen wird, weil er zur Arbeit fährt. Die ganzen Amazon Algorithmen, hauen mich nun auch nicht um. Das gehäuftes kaufen oder anklicken nun auf bestimmte Interessen schließen lässt und es wahrscheinlich ist, dass der, der sich für Dawkins interessiert auch für Deschner und Schmidt-Salomon interessiert, ist nicht so sensationell, dass ich in Ehrfurcht erstarre, was der Computer alles über mich weiß.

Interessant und wirklich individuell wird es da, wo die Leute aus den Klischees und Algorithmen ausbrechen und neue Wege gehen. Geraded das kann man statistisch nicht einfangen. Wir sind ungeheuer eingefahren in unserem Denken und habe echte Probleme wirkliche neue Denkansätze überhaupt zu kapieren. Wir sind gerade dabei zu begreifen, dass verschiedene Systeme ganz verschiedene Falsch- und Richtigkeiten evozieren, d.h. es in ihnen verschiedene Wahrheits- und/oder Gelingensbedingungen gibt.
Das ist aber, wie gesagt, eine Diskussion die gerade erst startet, die gar nicht mal isoliert eine Kritik am Naturalismus ist, sondern ein Projekt einer reflexiven Neubestimmung der Moderne, die ihre düsteren Interpreten hat. Peter Sloterdijk hat mit Die schrecklichen Kinder der Neuzeit (ich habe bisher gut 100 Seiten davon gelesen) eine düstere Analyse vorgelegt, mit dem Tenor, dass die Kinder der Moderne nicht dem Untergang geweiht sind, weil sich ihre Träume nicht erfüllen lassen, sondern weil sie in Erfüllung gehen könnten. Bruno Latour, hat mit Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen (auch zu etwa 100 Seiten gelesen), eine andere Sicht einer neuen, durchaus positiven Selbst- und Neubestimmung vorgelegt, Tenor ist aber in dem Gesamtkomplex die Verabschiedung der einen „objektiven“ Perspektive, zugunsten neuer Perspektiven und – wichtig! - ihrem Verhältnis zueinander. Festzustellen, dass es viele Perspektiven gibt, bishin zu den absurdesten, ist die eine Sache, es geht auch darum auch klarzumachen und darzustellen, wie die eine Ebene auf die andere einwirkt, dass sie es tun, hat die Kognitonspsychologie für Primingreize nachgewiesen.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Lumen » Mi 3. Sep 2014, 18:04

Vollbreit hat geschrieben:Oder: „Du lernst jemanden kennen, der ein wirklich herzensguter und sympatischer Mensch ist, […] Vor kurzem, beging sein Sohn Selbstmord und seine Frau ist schwer an Krebs erkrankt, Prognose sehr schlecht. Du bist ein wenig geschockt weil er Dir leid tut, dann sagt er, in einem Nebensatz: „... würde Gott mir nicht die Kraft geben, ich weiß manchmal selbst nicht was ich tun würde.“ Im Grunde Dein Stichwort, aber ich schätze Dich (hoffentlich richtig) so ein, dass Du ihm nicht direkt erzählen würdest, er würde sich mit dieser Äußerung in die Reihe der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte stellen und sich an Tod, Folter, Kinderfickerei und Verstümmelung mitschuldig machen würde.


Deine Einschätzung ist richtig, dass ich durchaus über die Fähigkeit verfüge, zu wissen, wann eine Diskussion angebracht ist. Es gab schon Situationen wo ich nie auf die Idee kam, das Thema anzuschneiden aber auch Fälle wo es mich schon bisweilen juckt. Der Sohn eines (amerikanischen) Bekannten hatte einen Autounfall, lag im Koma und ist aber seitdem wieder recht gesund. Der Vater redet von einem „Wunder“, weil sein Sohn wohl durchaus viel Glück hatte. Bekannte kommentieren fortwährend wie toll Gott sei, dass er das möglich gemacht hat und es grenzt schon hart an Missionierung – wo ich natürlich weiß, dass sie sich selbst mehr gegenseitig erinnern. Trotzdem eben nicht gerade die Situation, wo man grundsätzliches in Frage stellt oder auf die Wunder der Medizin hinweist. Aber das ist schon ein Fall, wo ich versucht bin, den Leuten den Spiegel vorzuhalten (nämlich die bösartige Ansicht, dass andere Menschen die weniger Glück hatten es irgendwie so verdient hätten).

Vollbreit hat geschrieben:Gegen Hunger, Krieg, AIDS, Terror, Unterdrückung und so weiter sind wir alle. Ist isoliert betrachtet nie ein Problem, auch wenn man es niedriger hängt, dann sind alle (oder sehr viele) für mehr Tierschutz, Steuergerechtigkeit, Nachhaltigkeit, wirtschaftliche Stabilität, die Energiewende, Autos mit weniger CO2 Ausstoß, echte Freundschaft, gutes Wetter, Mobilität, allumfassenden Internetzugang und so weiter.


Harris‘ Ansatz ist erstmal viel grundsätzlicher und es ist im ersten Schritt unerheblich wie Wohlbefinden aussieht und wie man es erreicht. Er behauptet ja selbst, es gäbe mehrere „Peaks“, somit sind mehrere Konfigurationen nicht im Widerspruch.

Ich denke du solltest dich vom Alles-Oder-Nichts mal lösen und genauer hinschauen. Die Annahme ist doch aktuell die, dass angeblich jede kulturelle Erscheinung gleichgut sein soll. Es wird gemeinhin für unentscheidbar erklärt, ob Menschen in einem bestimmten System (einer Konfiguration usw.) besser leben oder nicht. Das ist bestenfalls eine Frage der Ideologie.

Also anstatt, sagen wir Hamburg mit Berlin zu vergleichen und daraus den Lackmus-Test zu machen, sollten die Maßstäbe viel weiter und breiter eingestellt sein: geht es Menschen in Teheran besser als in Hamburg? Geht es Frauen, Kindern, Männern, Behinderten, Obdachlosen, Homosexuellen, Andersdenkenden usw. besser in der einen oder anderen Situation? Und ist dieses „besser“ in einem Bereich wo man es getrost verwerfen kann (marginal), oder haben wir es mit einem Tal-Berg Unterschied zu tun.

Wenn die verschiedenen Vergleichssysteme jeweils Berge in der Moral Landscape sind, mit ein paar topographischen Besonderheiten, dann ist das meines Erachtens nach gerade nicht der Aspekt, der die Idee zum scheitern bringt.

Es ist für mich zum Beispiel durchaus vorstellbar, wo ein Leben auf dem Lande ohne Wasser aus der Leitung, dafür mit genügend Land und Luft und Versorgung mit einem Großstadtleben in Tokyo konkurrieren kann. Aber ist es wirklich rein beliebig, ob Menschen – sagen wir – in einem tyrannisch faschistischen System genausogut leben, wie in einem vergleichsweise freien System? Jetzt wird der Kritiker sagen: Also das! Das ist ja offensichtlich! Aber wenn das so sein sollte, muss man eben in der Lage sein zu erkennen, dass es offenkundig dann doch einen Übergang von „klar besser-schlechter“ zu „untentscheidbar“ gibt, wo man dann wieder bei mehreren möglichen Gebirgen in der Moral Landscape wäre.

Daher gehe ich davon aus, dass die Reaktion gegen diese recht grundsätzliche Überlegung dadurch motiviert ist, dass man die Werkzeuge erstmal verbiegen und verstecken möchte, die dafür geeignet sind, z.B. den Islam zu durchleuchten. Also macht man erstmal was Grundsätzliches daraus, verschleiert und verhindert und bringt alle möglichen Gründe auf, warum die Argumentation untauglich sein soll. Damit wird erzwungen, dass das Gegenüber bei Bienen und Blümchen anfangen muss. Nochmal: das unterstelle ich nicht dir, aber vielen andern Kritikern von Sam Harris.

Vollbreit hat geschrieben:Ein Dilemma. Wir kennen Deine Einstellung, aber ein „Verreck doch, du Sau, hast es verdient“ würde Dir wohl nicht über die Lippen kommen.


Das ist überhaupt nicht meine Einstellung. Gemeinhin fand ich Gläubige überaus freundlich und nett. Für mich sind Menschen nicht ihre Ideen und Ansichten. Dazu gibt es viele gute und weniger gute Gründe, Dinge zu glauben und zu finden.

Vollbreit hat geschrieben:Die zentrale Frage ist hier, warum man genau einer Perpektive den Vorrang gegenüber anderen ebenfalls möglichen Perspektiven geben soll. Ist eine Tomate nun vorrangig ein kugelartiger Festkörper, der vor allem Licht des Spektrums 600 – 800 nm reflektiert oder ist eine Tomate vor allem die Frucht eines Nachtschattengewächses oder ist eine Tomate ein zentraler Bestandteil von Tomatensosse Napoli? Was ist nun wahrer, realer, objektiver und warum


Das ist eine Art von Denken, die bei dir häufig vorkommt, mir aber fremd ist. Ich bleibe dabei, du verwechselst Karte mit Territorium. Nehmen wir als Beispiel einmal eine vergleichsweise einfache Aufgabe: wie lang ist ein Abschnitt Küste? Einer macht eine Langzeitaufnahme des Wasserstands, errechnet den durchschnittlichen Verlauf wo Wasser endet und Strand beginnt und kommt zu dem Ergebnis 82,33m. Der nächste trennt das Land und damit den Küstenverlauf dort ab, wo der Sand trocken ist. Kommt auf 75,91m. Der nächste nimmt den Verlauf der Küste zu einem Zeitpunkt der mathematisch genau zwischen Wellen liegt und nutzt eine revolutionäre Lasertechnik, wonach jeder Sandkorn berücksichtigt wird, kommt auf 1454,22m. Was ist jetzt die reale, objektive Länge der Küste? Aus Witz, lass uns noch den Theologen hinzufügen, der durch Spaziergänge am Stand das göttlich inspirierte Gefühl hat, der Stand sei „um die 70 meter“ lang.

Objektivität ist ein Versuch, der Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen und dabei sind Umstände immer ein Bestandteil es Ergebnisses. Zwei Wissenschaftler werden nicht streiten, was die wirkliche Länge der Küste ist, sondern werden argumentieren dass mit Methode X dieses und jenes Ergebnis erzielt wurde und mit Methode Y jenes andere. Diese Ergebnisse müssen reproduzierbar sein und sind auch falsifizierbar.

Es geht hier nicht darum, die Wahre Wahrheit™ zu entdecken, die als geisterhafte Essenz in der Küste sitzt und die durch irgendeine bestmögliche Technik auslesen werden kann.

Vollbreit hat geschrieben:Es gibt alle möglichen Gründe, warum das keine Frage der Rechenleistung ist. Von der Idee der Areale ist man ja schon wieder abgerückt und kommt gerade zu der Erkenntnis, dass es für simpelste Alltagsaufgaben und schwerwiegende Entscheidungen immer mehrere Bereiche gleichzeitig gibt, die hier aktiv sind.


Wie ich im Soziologie Thread erläutert habe, meinen „Module“ nicht, dass es Areale gibt (also lokal gebündelte Orte) die bestimmte Funktionen übernehmen, sondern es ist sind die Neuronen, Netzwerke, Zellen, graue Masse gemeint, die nötig sind, die Funktion zu ermöglichen und die — wenn beschädigt — die Funktion beeinträchtigen. Steven Pinker schreibt in How the Mind Works irgendwo, dass die Ansicht bei Kritikern, dass wortwörtliche Orte im Gehirn gemeint sein, ein Strohmann wäre (das Buch ist von 1997).

Vollbreit hat geschrieben:Und das ist das schöne Ergebnis, eben auch in der von Dir (und mir) geschätzten Kognitionspsychologie. Ich bin hoch erfreut über das was Kahnemann da abgeliefert hat und aktuell lese ich mit wachsendem Genuss Douglas Hofstadter (der von Gödel, Escher, Bach und Kognitionspsychologe) & Emmanuel Sander (auch Kognitionspsychologe) Die Analogie – Das Herz des Denkens. Vorbei die Zeiten, als Kognitionspsychologen behavioristische Langeweiler waren, was da kommt, ist mitunter erste Sahne. […]

Hofstadter & Sander exerzieren das für Begriffe durch, weisen die übliche Vorstellung von mentaler Repräsentation, nach der Zustand x das Ding y repräsentiert, zurück, kommen zu einer Idee der Begriffswolken, statt klar abgegrenzter Begriffe und übertragen die Ergebnisse nicht-homogener Kategorien auf die neuronale Situation, in der als ähnlich wahrgenommen Situationen alte Erinnerungen evozieren. Nach Aussage deer beiden gibt es „markante Tendenzen“ nach der sich diese Sichtweise in Experimenten als stabil bestätigt.


Natürlich kenne ich Hofstadter und GEB ist eins meiner Lieblingsbücher. „Surfaces and Essences“ ist das Nächste bei mir auf dem Stapel. Ich habe aber schon zwei Vorträge von Hofstadter zu dem Thema gehört (siehe YouTube). Ich bin mir nicht ganz sicher, inwiefern das zu meinem Einwurf passt… deine Antwort war dazu diese:

Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, Du irrst Dich [damit, dass du/vollbreit Karte mit Gebiet verwechselts]. Es gibt wenige rein rhetorische Figuren, gerade in den letzten Jahren geht der Trend (der im Grunde mit Wittgenstein begann) dahin, immer mehr zu erkennen, dass Sagen ein Tun ist.


Das ist ein Non Sequitur. Falls es überhaupt etwas bedeutet, ob Sagen „ein Tun“ ist, hat das wenig mit meinem Einwandt zu tun, oder ich kann nicht erkennen was hiermit gemeint ist.

Ich habe Hofstadter (und Pinker und Co) im übrigen genau so verstanden, dass das Gehirn fortwährend vergleicht — also Analogien bildet. Diese Vergleiche und die dadurch entstehende Abbildung der Welt ist aber hier die Karte, nicht das Territorium. Die „Hallo Situation“ die er zum Beispiel in einem Vortrag vorschlägt, wäre analog ein Küstenverlauf auf der Karte, die für den Betrachter zu den Eigenschaften der echten Küste „passt“ und ihn „daran erinnert“, aber eben — die Krux — nicht identisch mit dieser ist und verschieden von der echten Küste ist. Man kann das mit dem Beispiel der Küste auch weiter treiben, wenn man darüber nachdenkt was es zum Beispiel konkret bedeutet, dass eine Küste 82,33m ist. Auch hier geht es fundamental um Vergleiche (nämlich die Länge einer definierten Latte, „Meter“ genannt — bevor man das weiter präzisiert hat auch wortwörtlich). Aber denkt man das zuende, dann wäre die „wahrste aller Karten“ mit der Wirklichkeit genau identisch.

Für mich zerfasert sich das alles ziemlich, also würde ich vorschlagen dass du bei Interesse eher darauf achtest, was du konkret meinst.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Zappa » Mi 3. Sep 2014, 19:23

Vollbreit hat geschrieben:Also, der NF kam (durch Zappa) ins Spiel, als ich fragte, was denn allgemein, durch eine objektive Ethik biologischer Genese, welcher Gestalt auch immer sie nun sein mag, gewonnen wäre.

Oder so ähnlich :wink:

Mein Problem mit dem NF, ist die platte Interpretation von Dir und @Nanna. Zuerst einmal ist Natur im naturalistischen Sinn nicht gleich Biologie, sondern umfasst selbstverständlich alles, was man - ebenfalls mal platt gesagt - sinnlich und wissenschaftlich erfassen kann, was also in diesem Sinne "ist". Diese Natur umfasst deshalb auch psychologische, kulturelle etc. Phänomene. Schliesst aber explizit übernatürliche, esoterische und mystische Aspekte aus.

Was soll nun der Satz: Man kann aus dem Sein kein Sollen begründen, aussagen?

Sicher nicht, das das Sollen nicht ist.

Eher schon, dass das Sollen nicht im Sinne des Naturalismus ist. Ist dann das Sollen etwas außernatürliches, übernatürliches oder mystisches und kann nur so begründet werden? Das ist explizit nicht meine Meinung und ist an sich im Übrigen philosophisch alles andere als trivial. Wie soll denn ein übernatürliches Sollen, das natürlich Sein beeinflussen (die alte Leib / Seele Leier)?

Meiner Meinung nach ist das Sollen ein als solches empfundenes Sein, beruht also auf biologischen, sozialen, kulturellen, psychologischen etc. Prägungen des einzelnen Individuums. Deswegen macht es auch so viel Sinn nach biologischen, evolutionären, psychologischen, kulturellen etc. Wurzeln zu fragen. Und deshalb ist die argumentative Keule des NF auch gar nicht angebracht. Allenfalls eine extreme Minderheit von, sagen wir, evolutionär interessierten Moralphilosophen sagt, dass man mit diesem Aspekt die wesentlichen oder sogar alle Aspekte der Moral erklären kann. Es ist und bleibt aber ein sehr interessanter Aspekt. Wenn Mitgefühl evolutionär angelegt ist, ist das für mich erst einmal ein Faktum. Und wer sagt eigentlich, dass ein - von mir aus rein biologisches Faktum - nicht als Sollen empfunden werden kann? Begründet kann es so alleine auch nicht werden, dazu kommen dann Aspekte, wie die Widerspuchslosigkeit, Akzeptanz, Aspekte der Allgemeingültigkeit, der Folgeabschätzung etc. pp.

Deshalb ist es aber noch lange kein Fehlschluss, vielleicht ein Kurzschluss :mg:

Warum ein Faktum kein Argument sein kann, verstehe ich auch nicht. Ich brachte das Beispiel des Utilitarismus. Es gibt das bekannte Transportwagendilemma (Teil 2): Ich sehe einen Transportwagen ungebremst auf einer Schiene auf ein Gruppe von 5 Arbeitern zuraten. Nichts kann den Wagen jetzt noch aufhalten, die 5 Arbeiter werden sicher sterben. Allerdings steht neben mir ein dicker Mann, der sich über eine Brüstung beugt und den ich leicht auf die Gleise schupsen könnte. Der Mann ist so fett, dass der Wagen sicher anhalten würden, der Mann würde sterben, die 5 Arbeiter sicher überleben. Ein Utilitarist müsste den Mann eigentlich auf die Schienen schupsen, nur macht das praktisch Niemand, wenn man die Menschen fragt. Die Tötungshemmung oder der Wert des Lebens ist so hoch, dass die Allermeisten in solch einer Situation schlicht nicht ein Menschenleben für 5 opfern würden. Die ist ein anthropologisches Faktum und ein ziemlich gutes Argument gegen den Utilitarismus.

Abgesehen davon: Wer sagt denn, dass Werte (außernatürlich :erschreckt:) begründet werden (sollen/müssen) und nicht vorrangig emotionale, evolutionär angelegte Verhaltensinstinkte darstellen? Warum ist ein Sollen erst dann ein Sollen, wenn es nicht einfach nur ist?

@Nanna: Kann man hier vielleicht auch abknipsen
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Do 4. Sep 2014, 11:29

Lumen hat geschrieben:Deine Einschätzung ist richtig, dass ich durchaus über die Fähigkeit verfüge, zu wissen, wann eine Diskussion angebracht ist.
Gut.

Lumen hat geschrieben:Harris‘ Ansatz ist erstmal viel grundsätzlicher und es ist im ersten Schritt unerheblich wie Wohlbefinden aussieht und wie man es erreicht. Er behauptet ja selbst, es gäbe mehrere „Peaks“, somit sind mehrere Konfigurationen nicht im Widerspruch.

Ich denke du solltest dich vom Alles-Oder-Nichts mal lösen und genauer hinschauen. Die Annahme ist doch aktuell die, dass angeblich jede kulturelle Erscheinung gleichgut sein soll.
Wer nimmt das an?
Was mich angeht, so ist das ganz bestimmt nicht der Fall. Hier folge ich dem integralen Ansatz, der streng hierarchisch ist, also entwickelter und unentwickelter, besser und schlechter kennt.
Die größte Frage ist vielleicht, wie man diese Hierarchien selbst begründen kann, ohne dabei zirkulär vorzugehen.

Lumen hat geschrieben:Es wird gemeinhin für unentscheidbar erklärt, ob Menschen in einem bestimmten System (einer Konfiguration usw.) besser leben oder nicht. Das ist bestenfalls eine Frage der Ideologie.
Auch nicht. Und m.E. gibt es mehr als nur Hinweise, warum das so ist, wenn man nämlich die subjektiven Faktoren besser und schlechter mit den gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen in Beziehung setzt. Das gute Leben hört ja nicht bei Essen, Trinken, Kleidung, Bildung, Wohnung auf, sondern das sind für uns die Mindeststandards, die aber auch jeder Depressive, der vor der Wahl steht, ob er überhaupt weiterleben will, erfüllt bekommt.
Für sehr viele Schwarzafrikaner ist das was wir wahlweise sozialer Abstieg oder menschenunwürdig nennen, eine Hartz 4 Existenz, das Paradies, die können gar nicht glauben, dass es so etwas wirklich gibt, wenn sie davon hören. Die Pointe soll aber nicht sein, dass wir alle auf hohem Niveau jammern, sondern, dass Zufriedenheit wesentlich vom Ausgangpunkts abhängt und eines der stärksten Motive des Menschen ist die Verlustangst. Kahneman erklärt das schön und ausführlich.

Lumen hat geschrieben:Also anstatt, sagen wir Hamburg mit Berlin zu vergleichen und daraus den Lackmus-Test zu machen, sollten die Maßstäbe viel weiter und breiter eingestellt sein: geht es Menschen in Teheran besser als in Hamburg? Geht es Frauen, Kindern, Männern, Behinderten, Obdachlosen, Homosexuellen, Andersdenkenden usw. besser in der einen oder anderen Situation? Und ist dieses „besser“ in einem Bereich wo man es getrost verwerfen kann (marginal), oder haben wir es mit einem Tal-Berg Unterschied zu tun.
Ja und da kann man mit der Bedürfnispyramide von Maslow bestimmt halbwegs arbeiten, aber spannend wird es eigentlich erst da, wo die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt sind und die Menschen doch nicht glücklich sind.
Man braucht nicht näher hinzuschauen um den Unterscheid zu sehen, dass jemand gerade meint, die Welt ginge unter, weil der Maniküretermin ausfällt und das jetzt schon zum zweiten mal, oder gerade vor Hunger und Krankheit zusammengebrochen ist.

Ansonsten ist das Wohlbefinden stark abhängig von der sozialen Umgebung, den Werten und Statussymbolen, die hier wichtig sind.
Es ist aber letztlich immer eine Frage, wie man die Faktoren gewichtet und da gibt es immer das Problem, dass man nicht weiß, wie man sie gewichten soll, ohne künstlich zu verzerren. Wenn jemand gerade verhungert, hat er wenig davon, wenn ich ihm mein Smartphone schenke. Also scheint ausreichend Nahrung ein ganz großes Ding zu sein. In einer Gesellschaft wie unserer definiert man seinen soziales Status zwar über das Essen (und wo man es kauft und wie die Figur ist), aber als Wert ist „Du musst nicht verhungern“ völlig belanglos. Ist satt zu sein jetzt also ein ganz großes Ding oder eine Marginalie? Es hängt wirklich von der Umgebung ab.

Lumen hat geschrieben:Wenn die verschiedenen Vergleichssysteme jeweils Berge in der Moral Landscape sind, mit ein paar topographischen Besonderheiten, dann ist das meines Erachtens nach gerade nicht der Aspekt, der die Idee zum scheitern bringt.

Es ist für mich zum Beispiel durchaus vorstellbar, wo ein Leben auf dem Lande ohne Wasser aus der Leitung, dafür mit genügend Land und Luft und Versorgung mit einem Großstadtleben in Tokyo konkurrieren kann.
Ja, da sind wir einer Meinung.

Lumen hat geschrieben:Aber ist es wirklich rein beliebig, ob Menschen – sagen wir – in einem tyrannisch faschistischen System genausogut leben, wie in einem vergleichsweise freien System? Jetzt wird der Kritiker sagen: Also das! Das ist ja offensichtlich! Aber wenn das so sein sollte, muss man eben in der Lage sein zu erkennen, dass es offenkundig dann doch einen Übergang von „klar besser-schlechter“ zu „untentscheidbar“ gibt, wo man dann wieder bei mehreren möglichen Gebirgen in der Moral Landscape wäre.
Ja, natürlich ist das so, zumindest aus meiner Sicht.
Zirkulär wird es nur dann, wenn es zu vorhersehbar wird. Um mal die heißen Themen zu meiden, aber dennoch zu sagen, was ich meine:
Stell Dir einen Dialog zwischen einer Hardcore-Emanze vor (um das gleich zu sagen: Ich finde die Emanzipation der Frauen, eine richtige und wichtige Errungenschaft) und einer braven Hausfrau und Mutter von vier Kindern, die völlig ausgesöhnt damit ist, „nur“ Hausfrau und Mutter zu sein.
Dieser braven Frau kann man nun um die Ohren hauen, wie sehr sie fremdbestimmt ist, wie klein sie sich macht und welche ekelhaft patriachalen Rollenbilder sie verinnerlicht hat, wie traumhaft ihr Leben werden könnte, wenn...
Hier wird es schon schwieriger, denn wer hat nun recht? Ist dieser ganze Befreiungskram nun linkes Gesülze, ideologisches Sperrfeuer, oder doch im Kern irgendwie wahr? Vielleicht hat die brave Mutter die um Längen schlechteren Argumente, aber kann sagen: „Aber ich bin gerne Hausfrau und Mutter. Ich wollte das immer so haben.“ Und man könnte ihr erklären, was sie alles an unbewussten Wünschen hat, die sie selbst nicht kennt und an der Stelle wird es immer gefährlich. Zufriedenheit ist ein subjektiver Wert und ich kann jemandem nicht erklären, wie schlecht es ihm eigenlich geht und viele der Versuche jemandem zum Opfer wider Wissen und Willen zu stilisieren, gehen böse nach hinten los – und haben zumeist die Funktion dem selbsternannte Befreier den Status des Edelmütigen zu verleihen.
Und dennoch gibt es Frauen, für die die Möglichkeit Hausfrau und Mutter im Hauptberuf zu sein, eine Drohung ist, ein Horror und auch das muss man auf dem Schirm haben. Es gitb hier nicht die eine Wahrheit.

Lumen hat geschrieben:Daher gehe ich davon aus, dass die Reaktion gegen diese recht grundsätzliche Überlegung dadurch motiviert ist, dass man die Werkzeuge erstmal verbiegen und verstecken möchte, die dafür geeignet sind, z.B. den Islam zu durchleuchten.
Naja, das ist wohl Deine persönliche Note.
Die große Liebe linksgerichteter Frauen zum Islam kannst Du ja an der Person Alice Schwarzer nachvollziehen.
Denn das Klischee ist doch: Beim Gendermainstreaming geht es um eine ideologische Gleichmacherei, bei der zu gucken ist, wem es nutzt, dann hat man den Täter. Also Frauen, Schwule, Linke und Soziologen, die sich aufplustern wollen, weil sie in Wahrheit wissen, dass ihre „Wissenschaft“ keine echte Wissenschaft ist. Ob aber nun Frauen, Schwule, Linke und ein paar Soziologen die Profiteure einer „Islamisierung“ der Gesellschaft wären?

Lumen hat geschrieben:Also macht man erstmal was Grundsätzliches daraus, verschleiert und verhindert und bringt alle möglichen Gründe auf, warum die Argumentation untauglich sein soll. Damit wird erzwungen, dass das Gegenüber bei Bienen und Blümchen anfangen muss. Nochmal: das unterstelle ich nicht dir, aber vielen andern Kritikern von Sam Harris.
Man muss immer dort anfangen, wo der Schuh drückt, wo das m.M.n. der Fall ist, hatte ich kenntlich gemacht.

Lumen hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Die zentrale Frage ist hier, warum man genau einer Perpektive den Vorrang gegenüber anderen ebenfalls möglichen Perspektiven geben soll. Ist eine Tomate nun vorrangig ein kugelartiger Festkörper, der vor allem Licht des Spektrums 600 – 800 nm reflektiert oder ist eine Tomate vor allem die Frucht eines Nachtschattengewächses oder ist eine Tomate ein zentraler Bestandteil von Tomatensosse Napoli? Was ist nun wahrer, realer, objektiver und warum


Das ist eine Art von Denken, die bei dir häufig vorkommt, mir aber fremd ist. Ich bleibe dabei, du verwechselst Karte mit Territorium.
[...]

Objektivität ist ein Versuch, der Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen und dabei sind Umstände immer ein Bestandteil es Ergebnisses. Zwei Wissenschaftler werden nicht streiten, was die wirkliche Länge der Küste ist, sondern werden argumentieren dass mit Methode X dieses und jenes Ergebnis erzielt wurde und mit Methode Y jenes andere. Diese Ergebnisse müssen reproduzierbar sein und sind auch falsifizierbar.

Ich bin vollkommen einverstanden mit dieser Darstellung, aber ich sehe nicht, wie und wo daraus folgt, das ich Karte und Territorium verwechsle.
Warum?
Wenn ich sage: „Dieses Buch ist rot“, so ist das eine Festlegung (ich kann mich irren, es könnte grün sein) und die Methode ist: „Schau hin.“
Der Physiker könnte sagen, dass dieses Buch Licht der Wellenlänge 750 nm reflektiert und darum rot erscheint. Eine andere Sichtweise und eine andere Methode, warum sollte sie wahrer oder falscher sein, denn in beiden ist das Messverfahren defniert und die Aussagen sind prinzipiell falsifizierbar.
Auch das Spaghetti-Sauce Napoli überwiegend aus Tomaten besteht, ist eine Tatsache.

Lumen hat geschrieben:Es geht hier nicht darum, die Wahre Wahrheit™ zu entdecken, die als geisterhafte Essenz in der Küste sitzt und die durch irgendeine bestmögliche Technik auslesen werden kann.
Schon klar, gerade deshalb bitte ich um eine Eräuterung der Kritik.

Lumen hat geschrieben:Wie ich im Soziologie Thread erläutert habe, meinen „Module“ nicht, dass es Areale gibt (also lokal gebündelte Orte) die bestimmte Funktionen übernehmen, sondern es ist sind die Neuronen, Netzwerke, Zellen, graue Masse gemeint, die nötig sind, die Funktion zu ermöglichen und die — wenn beschädigt — die Funktion beeinträchtigen. Steven Pinker schreibt in How the Mind Works irgendwo, dass die Ansicht bei Kritikern, dass wortwörtliche Orte im Gehirn gemeint sein, ein Strohmann wäre (das Buch ist von 1997).
Erstens ist das kein Strohman, sondern eine ernsthafte Einstellung gewesen, die ja so wenig ganz falsch ist, wie sie ganz richtig ist. Zweitens handelt es sich durchaus um spezifische Repräsentationen auch auf hirnorganischer Basis nur sind diese eben individuell, so wie man sagen kann, jeder habe Rillenmuster an den Fingern, die immer ähnlich sind und doch sind die konkreten Fingerabdrücke individuell.

Lumen hat geschrieben:Natürlich kenne ich Hofstadter und GEB ist eins meiner Lieblingsbücher. „Surfaces and Essences“ ist das Nächste bei mir auf dem Stapel. Ich habe aber schon zwei Vorträge von Hofstadter zu dem Thema gehört (siehe YouTube). Ich bin mir nicht ganz sicher, inwiefern das zu meinem Einwurf passt… deine Antwort war dazu diese:

Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, Du irrst Dich [damit, dass du/vollbreit Karte mit Gebiet verwechselts]. Es gibt wenige rein rhetorische Figuren, gerade in den letzten Jahren geht der Trend (der im Grunde mit Wittgenstein begann) dahin, immer mehr zu erkennen, dass Sagen ein Tun ist.


Das ist ein Non Sequitur. Falls es überhaupt etwas bedeutet, ob Sagen „ein Tun“ ist, hat das wenig mit meinem Einwandt zu tun, oder ich kann nicht erkennen was hiermit gemeint ist.
Unter rein rhetorisch verstehe ich, dass etwas mehr oder weniger nur so dahergesagt ist und es im Grunde vollkommen folgenlos ist, was man sagt und das sehe ich nicht so. Brandom hat das schön formuliert und ich kann mich ihm weitgehdn anschließen:
Robert Brandom hat geschrieben:„Die Wörter bilden ein eigenes und weitgehend unabhängiges Reich innerhalb der Welt – nicht nur in dem Sinne, dass die nichtsprachlichen Tatsachen im wesentlichen dieselben sein könnten, auch wenn die spezifisch sprachlichen Tatsachen (als eine Klasse der Tatsachen über die Welt) ganz anders wären, sondern auch in dem Sinne, dass die Wörter (Geräusche, Zeichen usw.) im wesentlichen so sein könnten, wie sie sind, auch wenn die nichtsprachlichen Tatsachen ganz anders sind. Aber unsere diskursiven Praktiken, wie sie hier aufgefasst werden, sind von der übrigen Welt nicht in dieser Weise isoliert. Die nichtsprachlichen Tatsachen könnten im wesentlichen so sein, wie sie sind, auch wenn unsere diskursiven Praktiken ganz andere wären (oder es keine gäbe), denn welche Behauptungen wahr sind, hängt nicht davon ab, ob sie jemand aufstellt. Doch unsere sprachlichen Praktiken könnten nicht so sein, wie sie sind, wenn die nichtsprachlichen Tatsachen anders wären.
Denn diese Praktiken sind keine Dinge, wie Wörter als Geräusche oder Zeichen, die unabhängig von ihren Gegenständen und den von ihnen ausgedrückten Tatsachen spezifizierbar wären. Zu den diskursiven Praktiken gehört wesentlich ein Austausch mit den Gegenständen der Welt beim Wahrnehmen und Handeln. Zu den in diesen Praktiken implizit enthaltenen begrifflichen Richtigkeiten gehören empirische und praktische Dimensionen. Alle unsere Begriffe sind das, was sie sind, zum Teil wegen ihrer inferentiellen Verknüpfungen mit solchen, die nichtinferentielle Umstände und Folgen der Verwendung haben – also, mit Begriffen, deren richtiger Gebrauch nicht unabhängig von der Berücksichtigung der Tatsachen und Gegenstände spezifizierbar ist, von denen sie responsiv hervorgebracht werden oder die sie durch ihre Anwendung hervorbringen. Die normative Struktur der Autorität und Verantwortung, die Beurteilungen und Zuweisungen der Verlässlichkeit beim Wahrnehmen und Handeln aufweisen, ist kausal bedingt.“
(Brandom, Expressive Vernunft, 1994, dt. Suhrkamp 2000, S.474)
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Do 4. Sep 2014, 11:30

Lumen hat geschrieben:Ich habe Hofstadter (und Pinker und Co) im übrigen genau so verstanden, dass das Gehirn fortwährend vergleicht — also Analogien bildet.
Ja, ich auch.

Lumen hat geschrieben:Diese Vergleiche und die dadurch entstehende Abbildung der Welt ist aber hier die Karte, nicht das Territorium.
Da bin ich anderer Meinung, denn was in Deinem „Kopf“ (besser Bewusstsein) passiert, ist Deine Welt. Es gibt nicht Deine Welt und die Welt da draußen. Man ist zwar immer in einer Doppelrolle von Beobachter und Teilnehmer, aber die Weltverdoppelung im Sinne von meine subjektive Welt hier und die objektive Welt dort, führt zu einem ziemlich idiotischen Dualismus.
Es ist Heideggers Kritik, dass diese Verwirrung überhaupt nur zustande kommt, weil man sich auf eine theoretische Position eingelassen hat in der überhaupt erst ein Subjekt einer objektiven Welt gegenübersteht. Seine Antwort ist, dass es diese Trennung überhaupt nicht gibt, dass der Mensch immer schon mit Welt umgeht, ganz praktisch und mit Welt verbunden und in sie eingebettet ist, dass der Mensch ein in die Welt Geworfener ist, zutiefst verbunden mit ihr. Irgendwann ist man dann in der Lage sein Subjektsein theoretisch, nämlich reflexiv zu erfassen (und auch hier gibt es hierarachische Stufen des Ich-/Subjektsein, was darunter verstanden wird: Nach Daniel Stern haben bereits Neugeborene sofort oder nach ganz kurzer Zeit ein Subjektempfinden, aber dieses Subjekt ist nicht identisch mit dem Subjekt was irgendwann um das dritte Lebensjahr auftaucht, wenn Kinder sich vor dem Spiegel erkennen und es ist wieder etwas anderes sein Ich als reflexives Ich jenseits der sozialen Rollen zu erkenne, zu definieren und zu formulieren.) und ab diesem Punkt nimmt man das Spiel so ernst, dass man sich ernsthaft fragt, ob denn die Welt überhaupt ohne mich da sein könnte, was Kant als einen „Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft“ barsch zurückwies, was wiederum Heidegger dazu veranlasste es für einen Skandal zu halten, dass man immernoch diese Beweise fordert. Denn Ich und Welt sind und waren nie getrennt und werden es nie sein.

Zumal auch gar nicht klar ist, was eine objektive Welt überhaupt sein soll. Man könnte sie noch als Gesamtheit der physischen Gegenstände definierten, aber deckt man dadurch Welt ab? Wenn Welt alles ist, was der Fall ist und was der Fall ist Tatsachen sind, dann impliziert „Tatsache“ nicht nur das Verhältnis physischer Dinge zueinander, sondern auch von Einstellungen wie: „Lumen ist ein Religionskritiker.“ Oder komplizierter: „Lumen denkt von Vollbreit, dass er notorisch das Essen mit der Speisekarte verwechselt.“
Man könnte behaupten, dass es durchaus möglich ist, dass es für die Einstellung, „Lumen denkt von Vollbreit, dass er notorisch das Essen mit der Speisekarte verwechselt.“, eine cerebrale Repräsentation gibt, aber um hier nicht das Essen mit der Speisekarte zu verwechseln – das geht durchaus, nämlich indem man denkt, es würde reichen, über etwas zu reden, bzw. davon Kenntnisse zu haben, statt es zu machen/zu praktizieren: Ich kann180kg wiegen und behaupten, ich wüsste wie man abnimmt und das genau und richtig erklären; aber es wirkt nur, wenn ich mich auch tatsächlich so ernähre – muss man es eben herzeigen, objektivieren. Die Kogitionspsychologen machen das ja derzeit vorbildlich, sie zeigen auf der Ebene der mentalen Prozesse (nicht der Hirnzustände!) was passiert wenn man Analogien bildet und so weiter. Die Neurologen machen es nicht. Sie legen bestimmte eindrucksvolle Ergebnisse vor, aber Struktur von „A denkt von B, dass er etwas verwechselt“ Zuständen kennt man ganz einfach nicht. Sie wedeln nur mit der Speisekarte. Würde man sie kennen, gehen einem immer noch Feinheiten durch die Lappen und zwar reichliche und wichtige.
Nehmen wir an, man hätte diese Struktur und sind blinkt bei Dir nicht mehr, nach einer Behauptung von mir, bei der es früher blinkte. Was heißt das?
Konnte ich Dich überzeugen?
Doch es könnte auch folgendes der Fall = eine Tatsache sein: „Zappa denkt von Lumen, dass er aktuell von Vollbreit nur deshalb nicht denkt, dass er Essen und Speisekarte verwechselt (was Zappa weiterhin denkt), weil er etwas den Überblick verloren hat.“ Die Frage, ob das per Hirnscan einzufangen ist, ist nicht irrelevant, sondern zentral, es ist das Essen, was man uns versprochen hat.
Die ganze Idee des Physikalismus beruht darauf, dass man irgendwann mal mit einem Blick auf die Physik all das (und noch viel mehr) können wird, was heute andere Ansätze leisten. Das ist ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft.
Für den Fall:„Zappa denkt von Lumen, dass er aktuell von Vollbreit nur deshalb nicht denkt, dass er Essen und Speisekarte verwechselt (was Zappa weiterhin denkt), weil er etwas den Überblick verloren hat.“, was ist denn da relevant? Dass wir Hirnscans von 1000 Leuten haben, die zu der Frage Stellung beziehen sollen oder dass wir Gründe vorliegen haben? Auch von Gründen und ihrer Güte könnte man denken, dass sie irgendwie auf physikalischem Wege a) darstellbar und (vor allem) b) bewertbar sein müssten, aber es ist nicht mal im Ansatz klar, was Gründe physikalisch sein könnte. Geräusche oder Striche auf Papier, aber was unterscheidet (physiklaisch!) Fluch und Grund, Bitte und Seufzer, wann ist ein Argument überzeugend, wann widersprüchlich?
Wie wirkt ein Vertrag? Irgendwie durch die Unterschrift, aber diese setzt nur eine Kaskade von Verpflichtungen (und Rechten des Vertragspartners und moralische Implikationen für den Fall, dass man den Vertrag nicht einhält) in Gang, es ist keine spukhafte Fernwirkung, die von der Tinte ausgeht.
Nichts, nicht einmal einen Ansatz kann der Physikalismus bisher anbieten und schlimmer noch, man kann die Variable aus den Begründungen eratzlos streichen und es ändert sich nichts. Bei einer Neurose mag es noch interessant sein neurobiologische Korrelationen zu finden, physikalische sind außer der Globalbehauptung, „dass ja immer irgendwie alles auch Physik ist, weil ja immer alles irgendwie auch Materie ist“ nicht mal zu finden. Die Ausssage ist so gewichtig, wie die, dass es nicht grundsätzlich auszuschließen ist, dass alles so ist, weil Gott es so gewollt hat. Stimmt, hilft uns nur nicht weiter.

Fakten über ein physikalische Aueßnwelt, die gibt es, keine Frage. Wie hoch der Eiffelturm ist, wie dicht Gold ist, bei welchem Druck Wasser kocht.
Aber was ein gutes Leben ist? Wann man mit seinem Leben zufrieden sein darf? Was Lumen von Vollbreit meint? Was die Wurzel aus 5 ist? Das Verhältnis von Semantik und Syntax? Die Qualität einer Theateraufführung? Was Gerechtigkeit ist? Die Güte eines Arguments? Was der Nachbar wohl denkt, wenn ich jetzt noch die Rollläden unten habe? Das und 1000 weitere Dinge sind physikalisch nicht darstellbar.
Warum also die Tatsachen auf Physikalisches einkürzen, also unsere tägliche Lebens- und Erlebenswelt dramatisch beschneiden und das dann als Objektivität zu verkaufen versuchen?
Deine subjektive Einstellung Religionen für ein Übel zu halten, ist ja nicht weniger objektiv, als zu sagen, was man tun muss, um Feuer zu machen. Du musst nur Deine Prämissen veröffentlichen und sagen: „Schaut euch das mal durch meine Brille an, dann seht ihr, warum man so denken muss, es ist logisch und folgerichtig.“ Das ist dann Dein Werkzeug, wie die Logik oder eine Lupe: Was man kritisieren kann sind dann zu mögliche falsche Schlüsse (dafür gibt es die Logik), vor allem aber, die Prämissen und die wahrzunehmen ist immer in gewisser Weise individuell, so dass überhaupt nicht einzusehen ist, wie man qua simpler Mehrheit an Wahrheit kommt.
Wenn schon Mehrheit, dann die der Scientific Community, aber dahinter sehr eine breite normative Institution und derer gibt es mehrer und alle haben etwas andere Spielregeln und Wahrheitsbedingungen. Und dann gilt die Frage, welche Fraktion wofür zuständig ist, die Frage der Deutungshoheit.
Bei den Prämissen kommt dann auch Moral ins Spiel, wenn man sagt, dass man so nicht denken sollte. Man muss dann aber erläutern, warum man so nicht denken sollte. Die Frage steht im Raum ob Moral und Ethik objektiv sind, was das Werkzeug ist um das zu beurteilen und welche Kriterein es für die Objektivität gibt.

Lumen hat geschrieben:Aber denkt man das zuende, dann wäre die „wahrste aller Karten“ mit der Wirklichkeit genau identisch.

Dann wäre die wahre Repräsentation keine Repräsentation, willkommen beim Zen.
Aber so leicht darf man es sich auch hier nicht machen, denn Wahrheit, respektive Wirklichkeit ist für jeden etwas anderes, es ist eine Illusion zu glauben, jeder nähme die Welt in Wirklichkeit identisch wahr, das ist der Mythos des Gegebenen und Hofstadter & Sander werden Dir erklären, warum das so ist. Man weiß nicht nur nicht, wei es ist eine Fledermaus zu sein, ich weiß auch nicht, wie es ist Lumen zu sein und das was Dennett marginal findet, nämlich Deine ganz spezielle Sicht auf die Welt (eine Tatsache der Welt, nebenbei), ist für andere das Zentrum dessen, um was es geht und was man vergleichen muss.

Lumen hat geschrieben:Für mich zerfasert sich das alles ziemlich, also würde ich vorschlagen dass du bei Interesse eher darauf achtest, was du konkret meinst.
Das zerfasert sich nicht nur für Dich, sondern man muss in der Tat weite Weg und Umwege gehen um dann zurückzukehren. Dann und erst dann wird alles wieder ganz einfach und die Praktiken haben wir längst parat. Wir hinken nur mit dem Verständnis dessen, was wir tun hinterher. Es ist eine persönliche Frage, wie tief man da eintauchen will, es ist eine Frage der Intelligenz und wie sehr man in der Lage ist wirklich neu und anders zu denken, die Perspektive zu wechseln und das ist mitunter schwer. Man ist kein schlechterer Mensch wenn man das nicht kann oder will, die Ironie liegt liegt nur darin, dass man häufig bei expliziten Atheisten den Zug findet, dass sie sich durch ihre vemeintliche Intelligenz und ihre angebliche intellektuelle Überlegenheit von den anderen, „den Doofen“ wie Schmidt-Salomon es so feixend vorbetet, absetzen möchte, dann aber den Schwanz einzieht, wenn man feststellt, dass das, was man polemisch herbasetzt weder so doof, noch so einfach ist, wie es in der Lesart der simplifizierendnen Welterlärungen manchmal erscheint.

Davon mal abgesehen ist ein breiter aufgestelltes Projekt alles andere als hoffnungslos. Es tut sich gehörig was und das bietet mehr als genug Erfüllung, auch wenn man sich über intellektuelle Klassenkämpfe hinweggesetzt hat.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Lumen » Do 4. Sep 2014, 13:41

Vollbreit, schöne Diskussion! Dennoch werde ich dir im zentralen Punkt widersprechen müssen, auf den ich mich in Anbetracht der Länge konzentrieren möchte.

Ich denke dass du auch der zitierte Heidegger sich irren. Zwar ist dieser Irrtum auf höherem Niveau, aber dennoch ein Irrtum. Es gibt die naive Sichtweise, dass es einfach nur Objekt und Subjekt gibt und es sich damit alles erledigt. Dem bist du und auch Heidegger offenbar schon voraus, indem ihr anerkennt, dass die Übergänge fließend sind und wir es oft mit Kontinua zu tun haben, statt mit diskreten Entitäten.

Wie du weißt ist mir wichtig, was das konkret bedeutet. Es bedeutet erstmal recht einfach, dass der Mensch oder irgendein Bestandteil (Gehirn, Herz, Seele, Geist usw.) natürlich keine magische Substanz ist, sondern aus demselben physikalischen Zeug besteht wie alles andere auch.

Wir haben Wahrnehmungsapparatur und „Triebe“ evolutionär einprogrammiert bekommen, unsere Umgebung (physikalisch wie sozial) zu erkennen, was im Wesentlichen meint, mentale Repräsentationen zu erzeugen die wir in unserer internen, mentalen Simulation dafür benutzen um zukünftige Zustände der physikalischen Realität zu errechnen. Eine Repräsenation ist kein Dualismus und die Tatsache, dass die Repräsentationen mit physikalischem Zeug erzeugt wird ist keine sonderlich mysteriöse Angelegenheit, jedenweils weit weniger spukhaft als Philosophen und Theologen es uns weis machen wollen, indem sie diese Ideen sprachlich verstellen und dabei vergessen, was das alles konkret bedeutet.

Konzeptionell bedeutet dies, dass die physikalische Außenwelt einerseits nahtlos in unsere mentale Innenwelt mündet: Schwingungen werden durch Knochen aufgefangen und auf quasi mechanische Weise in neuronale Signale umgewandelt. Im Auge sind es Substanzen (hier das Sehpurpur) die durch Photonenbeschuss zerfallen und dabei Elektronen springen lassen, die dann die Nerven anregen. Weil die Welt offenbar Muster aufweist, die scheinbar durch tiefe Regeln generiert werden, können sich diese Muster fortsetzen.

Ein einfaches Beispiel. Nimm eine Tapetenbahn und fahre mit einem Stift gleichmäßig von Links nach Rechts, während die Bahn abgerollt wird. Es ergibt sich ein Muster, ein Stück „Wahrheit“. Das Wellenmuster bedeutet eine mechanische Bewegung über eine Zeit. Das ist hier bedeutungslos, aber andere Muster sind es eben nicht. Apparate sind programmierbar, die Muster erkennen und darauf reagieren. Wir wissen, dass wir ein solcher Apparat sind, der durch Evolution über Millarden von Jahren programmiert wurde. Zu „Sinn“ und „Bedeutung“ kommen wir noch.

Das heißt, einerseits gibt es einen Übergang, aber anderersets entstehen dennoch quasi-diskrete Entitäten durch Kontraste. Visuell vorstellbar ist das vielleicht, wenn der fließende Übergang von Schwarz nach Weiß ausgeschnitten wird und einmal herumgebogen wird, dann kann man zwar einerseits fließend von Schwarz über Dunkelgrau, Hellgrau nach Weiß gelangen und nirgendwo ist eine Kante, aber die weiße Seite stößt dann direkt an die schwarze Seite und somit, siehe da, gibt es eine krasse Zweiteilung, Schwarz dort, Weiß hier. Mein Verdacht ist nun, dass genau an dieser Stelle sich Subjekt und Objekt gegenüberstehen, auch wenn das Subjekt aus dem Objekt „entwachsen“ ist und damit auf der anderen Seite fließend verbunden ist. Anders gesagt, Heidegger ist ein Idiot und Obskurantist.

Falls du mir folgen kannst, gibt es eine Muster-Kette, die irgendwo „da draußen“ beginnt, und die sich fortsetzt bis zur Musterkette in Mentalese. Dort wo wir subjektiv empfinden ist die Musterkette nicht identisch mit der physikalischen Masse, sondern eine Repräsentation und das meint eigentlich eine Verlängerung und Übersetzung der Muster in andere Muster.

„Bedeutung“ und deine Verträge und sozialen Verpflichtungen sind turmhoch aufgebaute Entsprechungen, nur ist es auch wieder Verschleierung, die komplizierstesten Dinge zu nehmen um etwas zu veranschaulichen. Es ergibt schon Sinn, warum wir z.B. Wörter erfinden, die sehr umständlich beschreibbaren Sachverhalte entsprechen.

Kurzum, wir müssen uns Beispiele suchen die etwas einfacher gestrickt sind. Schauen wir dazu ins Tierreich, ob und wo es dort „Sinn“ und „Bedeutung“ gibt. In der Tat, gibt es. Tiere zum Beispiel markieren ihr Territorium, und schicken nicht nur Gerüche durch die Luft, sondern auch komplizierte Gesänge. Da mag der Philosoph sinnieren, ob das Zeichen sind und ob sie real sind und so weiter, aber aus naturalistischer Perspektive sind das alles sinnlose und aus meiner Sicht dumme Fragen mit wohlmöglich noch dümmeren Antworten.

Was ist der Sinn? Auch hier sind es wieder Entsprechungen. Ein bestimmter Gesang bedeutet, dass ein paarungswilliger Artgenosse in der Nähe ist. Ein markiertes Gebiet bedeutet, dass auf dem Flecken bereits ein konkurrent wohnt und mir Schwierigkeiten machen wird. Auffällige Farben bei Insekten können bedeuten, dass diese Insekten giftig sind oder sich zur Wehr setzen. Sinn und Bedeutung, und andere für Schwurbler anfällige Konzepte zeigen sich hier in einer recht einfachen Form. Im menschlichen Zusammenleben ist es natürlich weitaus komplizierter, aber nicht unnähnlich. Auch hier ist Bedeutung eine Entsprechung zu entwas anderem, ohne dass dabei geisterhafter Dualismus vonnöten ist. In der Semiotik zum Beispiel ist dieser Pseudo-Dualismus der Unterschied aus Zeichen und Referent.

Manchmal muss man einen Ausfallschritt beherrschen und kontinental-schwurblerische Traditionen in die Tonne treten, auch wenn die Gedanken bisweilen spannend und anregend sind. Aus meiner Sicht ist das vielleicht Poesie oder Kunst, aber als Versuch die Welt zu verstehen untauglich.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon stine » Do 4. Sep 2014, 15:08

Vollbreit hat geschrieben:Aber was ein gutes Leben ist? Wann man mit seinem Leben zufrieden sein darf? Was Lumen von Vollbreit meint? Was die Wurzel aus 5 ist? Das Verhältnis von Semantik und Syntax? Die Qualität einer Theateraufführung? Was Gerechtigkeit ist? Die Güte eines Arguments? Was der Nachbar wohl denkt, wenn ich jetzt noch die Rollläden unten habe? Das und 1000 weitere Dinge sind physikalisch nicht darstellbar.


Lumen hat geschrieben:„Bedeutung“ und deine Verträge und sozialen Verpflichtungen sind turmhoch aufgebaute Entsprechungen, nur ist es auch wieder Verschleierung, die komplizierstesten Dinge zu nehmen um etwas zu veranschaulichen. Es ergibt schon Sinn, warum wir z.B. Wörter erfinden, die sehr umständlich beschreibbaren Sachverhalte entsprechen.

Kurzum, wir müssen uns Beispiele suchen die etwas einfacher gestrickt sind. Schauen wir dazu ins Tierreich, ob und wo es dort „Sinn“ und „Bedeutung“ gibt. In der Tat, gibt es. Tiere zum Beispiel markieren ihr Territorium, und schicken nicht nur Gerüche durch die Luft, sondern auch komplizierte Gesänge. Da mag der Philosoph sinnieren, ob das Zeichen sind und ob sie real sind und so weiter, aber aus naturalistischer Perspektive sind das alles sinnlose und aus meiner Sicht dumme Fragen mit wohlmöglich noch dümmeren Antworten.


Ich finde, Lumen hat anschaulich erklärt, wie Bedeutungen, abstrakte Nomen, letztlich doch in einem physikalischen Ursprung gründen.

LG stine
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Fr 5. Sep 2014, 08:49

Zappa hat geschrieben:Was soll nun der Satz: Man kann aus dem Sein kein Sollen begründen, aussagen?

Sicher nicht, das das Sollen nicht ist.
Ehrlich gesagt, macht mich Deine Frage etwas sprachlos, weil Du eigentlich zu belesen bist um diesen Punkt nicht zu verstehen.
Der NF bedeutet nicht, dass das Sollen nicht ist (eine sehr eigenartige Formulierung, nebenbei), sondern, dass aus dem was ist prinzipiell nicht abgeleitet werden kann, wie etwas sein soll.
Es ist eine Tatsache, dass Vergewaltigungen seit Jahrtausenden stattfinden. Die Tatsache, dass dies so ist (und Evolutionsbiologen ggf. auch noch „nachweisen“ können, dass es eine evolutionär nützliche Strategie ist), heißt nicht, dass es gut ist.
Kurz gesagt ist alles was hier und heute existiert aus einer evolutionären Sicht sinnvoll und nützlich, denn es hat sich durchgesetzt. Hätte es das nicht, würde es nicht heute existieren. Alles was heute existiert ist: Mitleid und Demokratie, Kooperation und Sozialhilfe, aber auch Foltermord und Vergewaltigung, die ISIS und Drogentote, Erpressung und Psychoterror. Wie kann unklar sein, dass aus der Tatsache, dass der Vormarsch der ISIS, mit der Strategie des demonstrativen Schreckens, aktuell recht gut funktioniert, nicht folgt, das dies auch gut und richtig ist?

Zappa hat geschrieben:Eher schon, dass das Sollen nicht im Sinne des Naturalismus ist. Ist dann das Sollen etwas außernatürliches, übernatürliches oder mystisches und kann nur so begründet werden?
Wie kommst Du jetzt ausgerechnet darauf?

Zappa hat geschrieben:Das ist explizit nicht meine Meinung und ist an sich im Übrigen philosophisch alles andere als trivial. Wie soll denn ein übernatürliches Sollen, das natürlich Sein beeinflussen (die alte Leib / Seele Leier)?
Wer redet denn überhaupt von einem übernatürlichen Sollen?

Zappa hat geschrieben:Meiner Meinung nach ist das Sollen ein als solches empfundenes Sein, beruht also auf biologischen, sozialen, kulturellen, psychologischen etc. Prägungen des einzelnen Individuums.
Klar, ein Ideal, wie es sein sollte. Und eben nicht zwingend, wie es ist.

Zappa hat geschrieben:Deswegen macht es auch so viel Sinn nach biologischen, evolutionären, psychologischen, kulturellen etc. Wurzeln zu fragen.

Um dann was genau zu erfahren? Wo Ideale herkommen? Das erklärt die Psychologie, Winnicott, Übergangsobjekte und so, aber Winnicott erklärt uns nicht, ob, wann und warum man nicht oder doch lügen sollte. Schimpansenforscher auch nicht. Neurobiologen auch nicht.
Was folgt denn daraus, dass Täuschung eine evolutionäre erfolgreiche Strategie ist? Oder dass Löwenmännchen die Kinder der Konkurrenten töten?
Dass man geschickt täuschen sollte und wenn man neu heiratet den Kindern der neuen Frau erst mal einen Genickschuss verpassen sollte?

Zappa hat geschrieben:Und deshalb ist die argumentative Keule des NF auch gar nicht angebracht.
Wo ist da die Keule?

Zappa hat geschrieben:Allenfalls eine extreme Minderheit von, sagen wir, evolutionär interessierten Moralphilosophen sagt, dass man mit diesem Aspekt die wesentlichen oder sogar alle Aspekte der Moral erklären kann.
Du meinst man sollte den Genickschuss nicht kategorischen auchließen? :mg:

Zappa hat geschrieben:Es ist und bleibt aber ein sehr interessanter Aspekt. Wenn Mitgefühl evolutionär angelegt ist, ist das für mich erst einmal ein Faktum. Und wer sagt eigentlich, dass ein - von mir aus rein biologisches Faktum - nicht als Sollen empfunden werden kann?

Dieser Artikel: http://www.psyheu.de/5794/empathie-spie ... en-glueck/
Denn zwischen Spiegelneuronen und Empathie klafft eine Lücke.
Es ist gut, empathisch zu sein und sein zu können, aber die Begründung kann doch nicht sein, weil wir Spielgelneuronen entwickelt haben. Wir haben auch Hinterlist und Mordgelüste entwickelt.
Die Forderung die zu begründen ist, geht immer von einem wechselseitgen Wollen aus. Ich will in Frieden leben und damit ich es gut kann, sollte ich auch Dich in Frieden leben lassen. Dass eine Gesellschaft so auch gut funktioniert ist erst mal kein Argument, sondern eine soziologische oder biologische Funktionsbeschreibung. Warum es gut ist eine funktionierende Gesellschaft zu haben (und was gut funktionieren genau bedeutet), das muss begründet werden.

Zappa hat geschrieben:Begründet kann es so alleine auch nicht werden, dazu kommen dann Aspekte, wie die Widerspuchslosigkeit, Akzeptanz, Aspekte der Allgemeingültigkeit, der Folgeabschätzung etc. pp.

Deshalb ist es aber noch lange kein Fehlschluss, vielleicht ein Kurzschluss :mg:
Das sind alles keine Begründungen im ethischen Sinne.

Zappa hat geschrieben:Warum ein Faktum kein Argument sein kann, verstehe ich auch nicht. Ich brachte das Beispiel des Utilitarismus. Es gibt das bekannte Transportwagendilemma (Teil 2): Ich sehe einen Transportwagen ungebremst auf einer Schiene auf ein Gruppe von 5 Arbeitern zuraten. Nichts kann den Wagen jetzt noch aufhalten, die 5 Arbeiter werden sicher sterben. Allerdings steht neben mir ein dicker Mann, der sich über eine Brüstung beugt und den ich leicht auf die Gleise schupsen könnte. Der Mann ist so fett, dass der Wagen sicher anhalten würden, der Mann würde sterben, die 5 Arbeiter sicher überleben. Ein Utilitarist müsste den Mann eigentlich auf die Schienen schupsen, nur macht das praktisch Niemand, wenn man die Menschen fragt. Die Tötungshemmung oder der Wert des Lebens ist so hoch, dass die Allermeisten in solch einer Situation schlicht nicht ein Menschenleben für 5 opfern würden. Die ist ein anthropologisches Faktum und ein ziemlich gutes Argument gegen den Utilitarismus.
Eigentlich nicht.
Denn nicht der Wert des Lebens ist die Erklärung, sondern, dass man sich die Finger nicht schmutzig machen will. Es wirkt besser einfach nichts zu machen und 5 durch unterlassene Hilfeleistung über den Jordan zu schicken, als einen aktiv zu töten.
Und Wert des Lebens? Ändere das Szenario mal ab und lass die 5 entflohene Strafgefange sein und jemand muss die Weiche definitiv stellen. Möglichkeit 1: Ein Toter, oder 2: 5 Tote. Lass die 5 Kinderschänder sein und Du wirst sehen wie schnell der Wert des Lebens kippt.

Zappa hat geschrieben:Abgesehen davon: Wer sagt denn, dass Werte (außernatürlich :erschreckt:) begründet werden (sollen/müssen) und nicht vorrangig emotionale, evolutionär angelegte Verhaltensinstinkte darstellen? Warum ist ein Sollen erst dann ein Sollen, wenn es nicht einfach nur ist?

Auch hier: wieso außernatürlich?
M.E. sind Werte von der Seite der evolutionären Herkunft her überhaupt nicht zu begründen und darum solle man dies schlicht lassen.
Es reicht doch zu begründen, was man hier und heute will und warum man es will, dann ist man im Geschäft. Was bringt es auch, zu sagen, der Gorilla sei auch meiner Meinung. Es ist ein altbekanntes Spiel, dass die Ansage, dass man dies oder das in China oder vor 500 Jahren auch machen konnte, nichts gilt, warum dann das Wolfsrudel auf einmal mehr Gewicht bekommen soll, kann ich nicht verstehen.

Der Mensch ist in der Lage, sich die Regeln seines Zusammelebens selbst zu geben. Dass er dabei auf seine Natur und andere Faktoren Rücksicht nehmen muss, ist richtig, aber ansonsten? :ka:
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Vollbreit » Fr 5. Sep 2014, 09:20

Ich finde die Diskussion auch schön.

Hier möchte ich einhaken:
Lumen hat geschrieben:Wie du weißt ist mir wichtig, was das konkret bedeutet. Es bedeutet erstmal recht einfach, dass der Mensch oder irgendein Bestandteil (Gehirn, Herz, Seele, Geist usw.) natürlich keine magische Substanz ist, sondern aus demselben physikalischen Zeug besteht wie alles andere auch.

Es ist in meinen Augen ein Kategorienfehler Geist und Seele, schwierige Begriffe, weil z.B. gerade bei Seele keinesfalls klar ist, was das sein soll und Geist kann wahlweise Bewusstsein, aber auch Intelligenz sein. Nehmen wir an, Geist sei Bewusstsein.

Natürlich kann man formulieren, dass Bewusstein aus dem gleichen physikalischen Zeug besteht, wie ein Auto, Stern oder Baum, nur kommt man dann, was die Erklärungen angeht, nicht viel weiter. Bewusstsein kriegt man nicht aus der Welt. So wie wir immer schon mit Welt umgehen, sind wir immer schon bewusste Wesen. Bewusstsein muss man nicht erst irgendwie suchen, wir baden darin, Bewusstsein stellt den Hintergrund all dessen dar, vor dem wir Welt erleben und mit ihr und unseren Mitmenschen bewusst interagieren.

Bewusstsein hat nun mindestens zwei und beim Menschen drei konstituierende Elemente.
Zum einen das Nervensystem. Es hat seine evolutionsbiologische Geschichte, sowie seine individuelle.
Zweitens, das affektive Erleben. Der Umschlagpunkt, wo genau sich an die Seite von Funktionsabläufen ein inneres Erleben stellt ist unklar, aber vermutlich stellen Neurotransmitter diesen Wendepunkt dar. Nun gesellte sich an die Seite endokriner Drüsenfuntionen zum erstem mal ein inneren Drang, ein Motiv, aus dem nun „bewusst“ erlebenden Individuum.
Drittens, die sprachpragmatische Ebene. Symbole, Sprache, Zeichen, Normen und ihre Tradition. Habermas nennt das sehr passend, das äußere Gehirn.

Das Problem ist nun, dass man Sprache, soziale Praktiken, Tabus und Ideale, Regeln und Rollen, Individualität, aber auch Führerscheinprüfungen und Abitur, wie man ein Fass baut, einen Zugball beim Billard spielt, einen logischen Beweis führt, eine gute Suppe kocht, wie man erkennt, was ein Fehlschluss ist, wie man versteht, was Verstehen von Funktionieren unterscheidet, eine Schleife macht, sich selbst beherrscht, erfolgreich flirtet, wo man sich in die Reihe (Warteschlange) zu stellen hat (und wie man über Leute denkt, die das nicht tun – und wann man wem Ausnahmen gewährt), aber auch die Glieder einer längeren Kausalkette (und wie man begreift, was eine Kausalkette ist) nicht auf Hirnprozesse reduzieren kann.

Das sind Praktiken, die man zu einem sehr großen Teil von außen erklärt bekommt, manche, wie man eine Geige baut, werden akribisch gelehrt, andere bekommt man nie erklärt. Einen sehr großen Teil unserne Verhaltensnormen lernt man implizit und induktiv und man bekommt sein Verhalten korrigiert – durch die Reaktion der anderen auf einen selbst, falls man in der Lage ist, diese zu deuten – aber man lernt nach und nach, am Beispiel der anderen, wie man sich beim Bäcker zu verhalten hat, wie lange ein Small Talk gehen sollte, wann er angebracht ist und wann er stört, dass das Verhalten gegenüber einem Polizisten irgendwie anders ist, als gegenüber jemand anderem, der einen anspricht, wie man sich bei den Etlern der ersten Freundin verhält und so weiter.
Dass und wo man anders ist, lernt man auch auf diesem Weg, dass man mit anderen auch anders umgeht, ebenfalls. Dass manches Anderssein gut und anderes Anderssein schlecht ist. Dass manches Anderssein bei einigen gut ist und dasselbe Anderssein bei anderen schlecht ist.

Nichts, was man im Hirn vorfindet, wenn man es einfach wachsen lässt, natürlich etwas, was sich auch im Hirn niederschlägt, sowie sich Hirnprozesse, auf verschiedenen Wegen, auch in der sozialen Umwelt und Traditionskette niederschlagen.

Ich weiß nicht, ob Dir unmittelbar klar, ist, dass ohne den direkten Umgang mit Welt Wissen nicht generiert werden kann und dass die Rekonstruktion von Ereignissen über den Weg der reinen Reiz-Reaktion beim dem was das Erfolgsorgan reizt zusammenbricht und damit weit hinter dem zurückbleibt, was wir in unseren Alltasgsprachspielen ganz selbstverständlich erwähnen und verstehen „... und bin dann mit dem Kopf gegen die Scheibe geprallt, darum habe ich diese Beule.“ Was davor war können wir semantische einfangen, in der Reiz-Reaktionssprache nicht.

Aber die Aussage war ja, alles sei Physik und natürlich ist es irgendwie denkbar, dass die neurobiologischen Prozesse im Hirn mal irgendwan in die Sprache der Physik umgeschrieben werden könnten, doch wie das bei sozialen Praktiken, Feinheiten der Sprache gehen könnte und dann in eine gemeinsames Bild des inneren Erlebens und der sozialen Bedeutung überführt werden könnten, das in vollem Umfang das Darstellen kann, was soziale Systeme leisten und wie man innerlich erlebt, das stelle ich mir schwer vor, zumal der Faktor Individualität dazukommt, der Dich immer etwas anders erleben lässt als mich, so dass eine Objektivierung m.E sogar prinzipiell ausgeschlossen ist. Zwischen Erleben und Funktion bleibt ein irreduzibler Rest.

Die nächste simple, aber nicht unbedeutende Frage wäre, gesetzt den Fall es sei möglich, die Sprache der ersten Person in die der dritten zu übertragen: Wissen wir dann wirklich mehr und warum? Gesetzt, die Theaterkritik aus quantenphysikalischer Siicht würde mal geschrieben, ich kann mir gegenwärtig nicht mal vortellen, was sie uns mehr liefern sollte.

Mit anderen Worten: Mit der Idee der Übrsetzbarkeit von allem in die Sprache der Physik, wird ein Ideal beschworen, das m.E. prinzipiell unerfüllbar ist und von dem gar nicht klar ist, inwieweit es uns weiterhelfen kann und ganz aktuell: nichts davon ist auch nur in Sichtweite.
Gute Gründe, die Physik dort in Ehren zu halten, wo sie gut ist, wenn sie uns Physik erklärt, aber ansonsten bringt uns die Floskel, dass ja irgendwie alles immer auch Physik ist, genauso weit die die Floskel, dass das alles so ist, weil Gott es so gewollt hat: Man kann es verwenden oder ersatzlos streichen und nichts ändert sich.

Lumen hat geschrieben:Wir haben Wahrnehmungsapparatur und „Triebe“ evolutionär einprogrammiert bekommen, unsere Umgebung (physikalisch wie sozial) zu erkennen, was im Wesentlichen meint, mentale Repräsentationen zu erzeugen die wir in unserer internen, mentalen Simulation dafür benutzen um zukünftige Zustände der physikalischen Realität zu errechnen.
Nein, wenn überhaupt, dann nur sehr begrenzt. Wir sind da eher im Sozialen unterwegs.
Das wird gerne bestritten, aber man erkennt es daran, dass jemand der das nicht tut, sein Gegenüber auf seine Emotionen zu durchleuchten, uns sofort komisch vorkommt. Auch wenn man sich fragt, was Putin wohl vor hat, geht es ja eben darum und nur sekundär, ob und wo bald russische Panzer stehen könnten.

Lumen hat geschrieben:Eine Repräsenation ist kein Dualismus und die Tatsache, dass die Repräsentationen mit physikalischem Zeug erzeugt wird ist keine sonderlich mysteriöse Angelegenheit, jedenweils weit weniger spukhaft als Philosophen und Theologen es uns weis machen wollen, indem sie diese Ideen sprachlich verstellen und dabei vergessen, was das alles konkret bedeutet.
Theorien werden immer sprachlich dargestellt.
Die Welt ist nicht wahrer oder besser, wenn man Sprache abzieht, sondern ärmer und reduzierter. Wissenschaft basiert natürlich ebenso auf Sprache wie Philosophie.

Lumen hat geschrieben:Konzeptionell bedeutet dies, dass die physikalische Außenwelt einerseits nahtlos in unsere mentale Innenwelt mündet: Schwingungen werden durch Knochen aufgefangen und auf quasi mechanische Weise in neuronale Signale umgewandelt.
Du müsstest nur erklären können, warum bestimmte Schwingungen einem Menschen sehr viel und andere sehr ähnliche demselben Menschen gar nichts bedeuten. Mit Freuquenz, Lautstärke und Amplitude wird das nicht gelingen.

Lumen hat geschrieben:Zu „Sinn“ und „Bedeutung“ kommen wir noch.
Okay.

Lumen hat geschrieben:Das heißt, einerseits gibt es einen Übergang, aber anderersets entstehen dennoch quasi-diskrete Entitäten durch Kontraste. Visuell vorstellbar ist das vielleicht, wenn der fließende Übergang von Schwarz nach Weiß ausgeschnitten wird und einmal herumgebogen wird, dann kann man zwar einerseits fließend von Schwarz über Dunkelgrau, Hellgrau nach Weiß gelangen und nirgendwo ist eine Kante, aber die weiße Seite stößt dann direkt an die schwarze Seite und somit, siehe da, gibt es eine krasse Zweiteilung, Schwarz dort, Weiß hier. Mein Verdacht ist nun, dass genau an dieser Stelle sich Subjekt und Objekt gegenüberstehen, auch wenn das Subjekt aus dem Objekt „entwachsen“ ist und damit auf der anderen Seite fließend verbunden ist. Anders gesagt, Heidegger ist ein Idiot und Obskurantist.
Du hast Heidegger hier nicht richtig verstanden oder ich habe ihn nicht gut erklärt.
Es gibt in der Philosophiegeschichte einige große Schritte: Einer ist mit Sicherheit von Descartes. Er fragte sich wessen er sich ganz gewiss sein kann, da seine Sinne ihn prinzipiell immer täuschen könnten. Seine Antwort war: Ich kann alles bezweifeln, aber dass ich zweifle, kann ich nicht bezweifeln. Also ist das Zweifeln, eine Form des Denkens, mein Ausgangspunkt. Das bekannte: Ich denke, also bin ich.
Im Zuge dieser Lesart kam die (noch heute gewälzte) Frage auf, ob nicht auch alles anders, ein Traum, eine Illusion sein könnte.

Das war der Skandal, den Kant zu erblicken meinte, Kant ist an sich genial, seine Begründung hier finde ich so lala. Sie lautet in etwa, dass die Außenwelt darum real sein müsse, weil sie dauerhaft und immer wieder erscheint. Für Kant hat eine Illusion eher flüchtigen Charakter, reale Welt nicht. (Was bei Kant wirklich neu ist, ist, dass man beides bei ihm findet: Ihm ist bewusst, dass wir nichts anderes zur Verfügung haben, als Erscheinungen, weshalb er nicht zu unrecht als früher Konstruktivist angesehen wird, doch die andere Seite ist eben sein unerschütterlicher Realismus, in dem er sagt, es sei dennoch auf eine reale Außenwelt zu schließen.)

Da grätscht Heidegger nun rein und sagt, der Skandal sei, für die Existenz der Welt überhaupt einen Beweis zu verlangen. Denn, wir sind in Welt immer schon eigebunden und dass a) die Frage auftaucht, ob es Welt überhaupt gibt (Descartes) und b) jemand versucht darauf eine ernsthafte Antwort zu geben (Kant), ist für ihn der Skandal: Weil der aufkommende Zweifel über die Existenz der Welt für Heidegger ein rein theoretisches Konstrukt, eine Position eines lediglich gedachten Subjekts, dass erst im Zuge dieser Abstraktion einer lediglich gedachten Welt gegenübersteht, wo doch für Heidegger unverrückbar feststeht, dass das Dasein (wie er den Menschen nennt) vortheoretisch und im Alltag aufs Engste mit Welt verbunden ist.
Für Heidegger klatschen also gerade nicht Subjekt und Objekt als greller Kontrast aufeinander, sondern er kirtisiert diese Position aufs Schärfste und ist einer der Anti-Subjekt-Philosophen.

Lumen hat geschrieben:Falls du mir folgen kannst, gibt es eine Muster-Kette, die irgendwo „da draußen“ beginnt, und die sich fortsetzt bis zur Musterkette in Mentalese. Dort wo wir subjektiv empfinden ist die Musterkette nicht identisch mit der physikalischen Masse, sondern eine Repräsentation und das meint eigentlich eine Verlängerung und Übersetzung der Muster in andere Muster.
Weltwahrnehmung ist immer Repräsentation. Und sehr früh nicht mehr von Begriffen zu trennen und damit verbacken. Und die Begriffe werden individuell verstanden, weil sich einfach an bestimmte Begriffe bestimmte Assoziationen andere Begriffe, Erinnerungen anheften, die speziell mit Deinem Leben zu tun haben.
Das darf nicht völlig schräg werden, man muss den Begriff selbst noch adäqut verwenden können (wenn man verstanden werden will), aber im Leben bekommt jeder Begriff eine individuelle Note, qua Assozioationsgitter, das mitläuft und eine 1:1 Übersetzbarkeit limitiert.
Es ist diese Mischung, dass wir durch Empathie und Analogien das eigentlich Unüberbrückbare doch überbrücken können (das ist für mich auch die Begründung dafür, warum ich die positive Kommunikationstheorie von Habermas, die von einem wechselseitig geteilten Vorverständnis der Kommunikationspartner ausgeht, der Theorie von Luhmann vorziehe, die von einer Unüberbrückbarkeit ausgeht und von einer wechselseitgen Irrtiation der Systeme), wenngleich das nie ganz gelingt. Aber wäre einer wie der andere – und müssten lediglich ein paar Begriffsunschärfen überwunden werden -, worüber wollten wir auch reden?

Lumen hat geschrieben:„Bedeutung“ und deine Verträge und sozialen Verpflichtungen sind turmhoch aufgebaute Entsprechungen, nur ist es auch wieder Verschleierung, die komplizierstesten Dinge zu nehmen um etwas zu veranschaulichen. Es ergibt schon Sinn, warum wir z.B. Wörter erfinden, die sehr umständlich beschreibbaren Sachverhalte entsprechen.

Da bin ich gründsätzlich anderer Meinung und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht.
Begriffe sind Abstraktionen, ja, aber sie sind nicht wahnsinnig kompliziert, sondern buchstäblich kinderleicht zu erlernen. Kinder lernen das so spielereisch wie Klötzchen aufeinanderzustellen, Ball zu spielen, wie Dir dann notfalls Hofstadter & Sander erklären werden. Der Begriff „Mama“ erfährt seine Erweiterungen alle paar Jahre, die konkrete Verknüpfung mit der eigenen Mutter ist dabei nur der erste Schritt.
Und auch turmhohe Entsprechungen fallen uns kinderleicht. Es ist mitunter saumäßig schwer die zu explizieren, korrekt deutsch zu sprechen ist für Muttersprachler nicht sehr schwer, die Grammatik dahinter ist ein Albtraum. Erste Regeln und Rollen lernen Kinder so mit 4 Jahren, wenn nicht sogar eher.

Lumen hat geschrieben:Kurzum, wir müssen uns Beispiele suchen die etwas einfacher gestrickt sind.
Können wir gerne machen, aber ich möchte dennoch dazu noch anmerken, dass es in meinen Augen keine Erleichterung und Klärung darstellt, da wir Affen nicht besser verstehen als Menschen und Erdmännchen noch ein wenig besser und richitg gut dann die Einzeller verstehen (und noch besser Quarks und Strings) … denn es ist nicht so. Menschen verstehen wir gut, weil wir welche sind. Nichts davon ist wahnsinnig kompliziert auszuführen. Aufrecht zu gehen ist sicher ein Meisterleistung, aber wir machen es spielend. Sprechen, den Urlaub planen, Einkaufen, einen Arm von einer Lehne unterscheiden (bei diesem Vorgang sind Computerprogrammierer an ihre Grenzen geraten, nicht beim Schach oder der 11 Wurzel aus einer 500-stelligen Zahl), dennoch, für und ein Klacks.
Kategorien und Abstraktionen, das Geben und Verlangen von Gründen ist unser Metier und wir sind alle Experten darin.

Lumen hat geschrieben:Schauen wir dazu ins Tierreich, ob und wo es dort „Sinn“ und „Bedeutung“ gibt. In der Tat, gibt es. Tiere zum Beispiel markieren ihr Territorium, und schicken nicht nur Gerüche durch die Luft, sondern auch komplizierte Gesänge.
... und wissen nicht, was sie tun, das ist der Punkt.
Was Termiten machen, lässt Architekten blass werden, in ihren Bauten sind extrem komplizierte Strömungs- und Kühlungstechnikiken „mitbedacht“, nur dass die Biester eben keinen Schimmer von Strömungstechnik haben.
Deshalb der wichtige Unterschied zwischen Sagen und Tun und dem Verstehen, was man sagt und tut.

Lumen hat geschrieben:Da mag der Philosoph sinnieren, ob das Zeichen sind und ob sie real sind und so weiter, aber aus naturalistischer Perspektive sind das alles sinnlose und aus meiner Sicht dumme Fragen mit wohlmöglich noch dümmeren Antworten.
Gut, aber warum?
Das sind die fruchtbarsten Zweige vor allem der neueren Philosophie. Du musst Dein Urteil schon begründen.

Lumen hat geschrieben:Was ist der Sinn? Auch hier sind es wieder Entsprechungen. Ein bestimmter Gesang bedeutet, dass ein paarungswilliger Artgenosse in der Nähe ist. Ein markiertes Gebiet bedeutet, dass auf dem Flecken bereits ein konkurrent wohnt und mir Schwierigkeiten machen wird. Auffällige Farben bei Insekten können bedeuten, dass diese Insekten giftig sind oder sich zur Wehr setzen. Sinn und Bedeutung, und andere für Schwurbler anfällige Konzepte zeigen sich hier in einer recht einfachen Form. Im menschlichen Zusammenleben ist es natürlich weitaus komplizierter, aber nicht unnähnlich. Auch hier ist Bedeutung eine Entsprechung zu entwas anderem, ohne dass dabei geisterhafter Dualismus vonnöten ist. In der Semiotik zum Beispiel ist dieser Pseudo-Dualismus der Unterschied aus Zeichen und Referent.

Auch das musst Du erläutern, denn die Semiotik sagt im Grunde, dass die Speisekarte nicht das Essen ist, was Du ja auch betonst.
Es gibt eine Differenz zwischen dem Wort „Hund“ (Signifikant - eine Zeichenfolge, die nicht frisst, bellt und mit dem Schwanz wedelt), dem was in Dir auftaucht, wenn Du denn „Hund“ hörst (Signifikat) und dem Referenten, dem realen Hund („Ah ja, Waldi ist ein Hund“). Dass man das Wort „Currywurst“ nicht essen kann, ist doch kein Dualismus.

Sinn und Nutzen sind wiederum zwei Paar Schuhe. Nutzen heißt, es hat die und die Funktion, wie Du es für einige Tiere beschrieben hast, Sinn geht über die Funktion hinaus. Wenn jemand sagt, dass er in seiner Arbeit keinen Sinn sieht, braucht man ihm nicht die Funktion der Tätigkeit, die er ja schon ausführt zu erklären, sondern es bedeutet etwas wie: „Ich kann mich damit nicht mehr identifizieren. Ich weiß nicht, was das soll.“

Lumen hat geschrieben:Manchmal muss man einen Ausfallschritt beherrschen und kontinental-schwurblerische Traditionen in die Tonne treten, auch wenn die Gedanken bisweilen spannend und anregend sind. Aus meiner Sicht ist das vielleicht Poesie oder Kunst, aber als Versuch die Welt zu verstehen untauglich.

Mein genereller Einwand ist, dass Du bei einer Technisierung und Funktionalisierung genau in die Problem kommst, in denen der Naturalismus bereits ist. Man kann die Werte die man vertreten möchte, nicht begründen und dies wird offenbar als Missstand empfunden, doch die Lücke kriegt man nicht geschlossen. Die liegt in der Methode begründet. Neben bestimmt 20 Detaileinwänden, die ich hätte.
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Re: Dawkins fordert Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom

Beitragvon Myron » Fr 5. Sep 2014, 20:38

Lumen hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:
n-tv.de hat geschrieben:Der streitbare Biologe und Religionskritiker Richard Dawkins hat sich mit einem Kommentar über ungeborene Babys mit Down Syndrom Kritik eingehandelt. "Treib es ab und versuch es nochmal", hatte der britische Autor ("Der Gotteswahn") einer Frau auf Twitter geantwortet, die über ein mögliches Dilemma schwangerer Mütter geschrieben hatte. "Es wäre unmoralisch, es in die Welt zu setzen, wenn du die Wahl hast." In seinem Blog stellte Dawkins klar, dass das keine Handlungsempfehlung gewesen sei, sondern nur, was er selbst in diesem Fall entschieden hätte.
Quelle: http://www.n-tv.de/panorama/Dawkins-ist ... 65681.html

Da sind wir ja froh, dass der Prophet des Atheismus seinen Jüngern uns keine Handlungsanweisung gegeben hat.

Der Grund, warum er das klarstellte, lag daran, dass eine häufige Kritik darin bestand, dass Dawkins angeblich Leuten vorschreiben würde, wie sie zu handeln hätten, was er nicht tat, was aber wiederum eingebettet ist in andere Zusammenhänge von denen du ebenfalls keinen blassen Schimmer hast.


Ein wenig allgemeine Morallogik:

"Es ist unmoralisch, X (nicht) zu tun" impliziert "Man soll X (nicht) tun", was wiederum den Aufforderungssatz "Tue/Tut X (nicht)!" impliziert.

Wenn es also unmoralisch ist, behinderte Föten nicht abzutreiben, dann sollen behinderte Föten abgetrieben werden, was einer Aufforderung zur Abtreibung behinderter Föten gleichkommt: Treibe/Treibt behinderte Föten ab!

Übrigens, Dawkins verhält sich im Folgenden widersprüchlich:

"There’s a profound moral difference between 'This fetus should now be aborted' and 'This person should have been aborted long ago'. I would never dream of saying to any person, 'You should have been aborted before you were born.'"


https://richarddawkins.net/2014/08/abor ... witterwar/

Denn wenn behinderte Föten abgetrieben werden sollen, dann folgt daraus morallogisch sehr wohl, dass nichtabgetriebene behinderte Erwachsense hätten abgetrieben werden sollen (als sie Föten waren). Er sollte also die Ehrlichkeit und den Mut besitzen, dies behinderten Erwachsenen ins Gesicht zu sagen. Daraus, dass behinderte Erwachsene als Föten hätten getötet werden sollen, folgt allerdings nicht, dass sie nun als Erwachsene getötet werden sollen, um das Versäumnis nachzuholen.
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