Kann die Erkenntnistheorie verbessert werden ?

Kann die Erkenntnistheorie verbessert werden ?

Beitragvon Mark » Fr 30. Mai 2008, 15:17

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Re: Kann die Erkenntnistheorie verbessert werden ?

Beitragvon Myron » Fr 30. Mai 2008, 17:06

    "Ich setze mich für einen pluralistisch-realistischen Ansatz der Ontologie ein; er besagt nicht, dass es verschiedene Welten gebe, aber es gibt demnach mehrere richtige, einander ergänzende Wege, um unsere Welt zu analysieren: Dabei werden verschiedene Gegenstände und Prozesse herausgegriffen, in denen sich sowohl die Kausalstrukturen als auch unsere Interessen widerspiegeln. Die Vorstellung, es gebe für die Welt nur eine richtige Darstellung, die genau ihre natürlichen Entsprechungen wiedergibt, ist vermessen. Jede Darstellung ist im besten Fall partiell, idealisiert und abstrakt. Diese Eigenschaften machen Darstellungen nützlich, aber sie setzen auch Grenzen für unsere Behauptungen über die Vollständigkeit jeder einzelnen Darstellung."

    (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mens ... 83,00.html)

Wenn Frau Mitchell nichts weiter als den Begriffsrelativismus vertritt, dann hat auch ein "Vollblut-Realist" wie John Searle nichts dagegen einzuwenden:

    "Die Idee der Begriffsrelativität ist alt und, wie ich glaube, korrekt. Jedes Klassifikations- oder Individuationssystem von Objekten, jedes Kategoriensystem zur Beschreibung der Welt, ja, jedes Repräsentationssystem überhaupt ist konventionell und insofern willkürlich. Die Welt teilt sich so auf, wie wir sie aufteilen, und wenn wir jemals geneigt sind zu glauben, dass unsere gegenwärtige Methode, sie einzuteilen, die richtige oder irgendwie unvermeidliche ist, können wir uns immer alternative Klassifikationssysteme ausdenken. (...) Weil jede wahre Beschreibung der Welt immer innerhalb irgendeines Vokabulars, in irgendeinem System von Begriffen gegeben werden wird, hat Begriffsrelativität die Konsequenz, dass jede wahre Beschreibung immer relativ auf ein System von Begriffen gegeben wird, das wir mehr oder weniger willkürlich für die Beschreibung der Welt ausgewählt haben. So charakterisiert scheint der Begriffsrelativismus vollständig wahr zu sein, ja geradezu platt."

    (Searle, John. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Übers. M. Suhr. Reinbek: Rowohlt, 1997. S. 170f.)

    "Ein weiterer Aspekt des Pluralismus betrifft unser Verständnis für wissenschaftliche Gesetze. Der Denkrahmen des 19. Jahrhunderts leitete aus der Betrachtung von Newtons Erfolgen die Vorstellung ab, ein Naturgesetz müsse eine von Natur aus notwendige, universelle, ausnahmslos gültige Wahrheit sein. Analysiert man aber genauer, was für allgemeine Aussagen in der Wissenschaft verbreitet sind, so stellt sich heraus, dass die meisten allgemein anerkannten Aussagen über die Welt kontingent, von begrenzter Geltung und von Ausnahmen geprägt sind. Wir brauchen eine erweiterte Bedeutung für den Begriff "Gesetze", in der sich unterschiedliche Grade von Kontingenz, Stabilität und Geltungsbereich der abgebildeten Kausalstrukturen widerspiegeln. In der neuen Erkenntnistheorie des integrativen Pluralismus gibt es mehr als nur die physikalischen Elementarteilchen, und es gibt auch nicht nur jene Gesetze, die von Natur aus notwendig, universell und ausnahmslos gültig sind."

    (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mens ... 83,00.html)

Man kann zwischen Naturgesetzen als naturwissenschaftsunabhängigen Tatsachen und Naturwissenschaftsgesetzen als naturwissenschaftsabhängigen Aussagen unterscheiden.

    "Laws of Nature vs. Laws of Science:
    In 1959, at the annual meeting of the American Association for the Advancement of Sciences, Michael Scriven read a paper that implicitly distinguished between Laws of Nature and Laws of Science. Laws of Science (what he at that time called "physical laws") – with few exceptions – are inaccurate, are at best approximations of the truth, and are of limited range of application. The theme has since been picked up and advanced by Nancy Cartwright.

    If scientific laws are inaccurate, then – presumably – there must be some other laws (statements, propositions, principles), doubtless more complex, which are accurate, which are not approximation to the truth but are literally true."


    (http://www.iep.utm.edu/l/lawofnat.htm)
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Re: Kann die Erkenntnistheorie verbessert werden ?

Beitragvon Mark » Fr 30. Mai 2008, 18:17

Ich vermisse bei ihr eine plausible Darlegung, warum sie überhaupt denkt eine andere Theorie zur Erkenntnis könnte uns dabei helfen Erkenntnisse zu erlangen, derer wir jetzt noch grundsätzlich nicht habhaft werden könnten.
Was sollte denn ihre Theorie zB übertragen auf die Mathematik schlußletzlich bedeuten ?
Mir fällt nix ein.
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Re: Kann die Erkenntnistheorie verbessert werden ?

Beitragvon pkrall » So 1. Jun 2008, 18:43

Mark hat geschrieben:http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,556283,00.html

Was denkt Ihr ?

Ich habe bis jetzt das Buch noch nicht gelesen, beziehe mich als nur auf den Artikel. Was den betrifft, denke ich, dass Sandra Mitchel grundsätzlich recht hat. Ich glaube, dass ich das relativ durchgängig argumentieren kann:

1. Voraussetzung: Ich gehen davon aus, dass wir, wenn wir überhaupt etwas sinnvoll beschreiben, ausnahmslos natürliche Systeme beschreiben. Auch wenn wir Menschen beschreiben, beschreiben wir natürliche Systeme, weil Menschen ganz Teil der Natur sind.
---
2. Aus (1) folgt: Wenn wir kognitive Prozesse beschreiben, dann beschreiben wir Prozesse in natürlichen Systemen. Konkreter sind es Beschreibungen, die so aufgebaut sind, dass darin Subsysteme ausgezeichnet werden, die mit ihrer Umgebung interagieren. Interaktion ist dabei nichts anderes als die Spur der Dynamik des Gesamtsystems in den Projektionen in die Zustandsräume der Subsysteme. So etwas kann man zum Beispiel am Computer spielen, indem man ein Szenario programmiert, in dem Agenten mit ihrer Umgebung interagieren und lernen, anhand von Ereignissen in der Interaktion mit der Umgebung erfolgreiche Spielzüge zu machen. Natürlich lässt sich diese Beschreibung auch in die eines deterministischen Programms übersetzen - die ganzen Aspekte von Kognition kamen nur dadurch zustande, dass wir in unserer Beschreibung des Programmablaufs 'Objekte' als Einheiten der Beschreibung eingeführt haben, die mit ihrer Umgebung verschränkt sind.
2.a) Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Organismen irgendwie etwas anderes wären als Subsysteme, die wir in userer Beschreibung komplexer Systeme einführen, weil das eine praktische Möglichkeit ist, Aussagen über Observable zu gruppieren (so, wie 'Objekte' in die Beschreibung des Zustandsraums eines Computers eingeführt werden. Nicht praktisch, aber logisch könnte die gesamte Ontologie durch Verweise auf Observable des Systems elimniert werden, in dem die Organismen auftreten, also durch Aussagen über chemische und physikalische Prozesse, in denen nur Atome und Moleküle als Beteiligte auftreten.
2.b) Epistemische Begriffe (Wahrheit/Repräsentation/..) müssen aus jeder Theorie kognitiver Prozesse logisch eliminierbar sein. Soweit Theorien kognitiver Prozesse sinnvollen Inhalt haben, sind sie ja Theorien von Vorgängen in natürlichen Systemen. Der Rest betrifft das Handwerkszeug, um solche Theorien formulieren zu können - also rein abstrakte, mathematische Formalismen.
2.c) Erkenntnistheorie ist, wenn sie keine dualistischen Annahmen einführen will, Naturwissenschaft plus rein abstrakte Theorie. Radikal zu Ende gedacht: Naturwissenschaft plus Algebra. Nur, dass wir es eben nicht schaffen, das radikal zu Ende zu denken. Deswegen bleibt dort Philosophie und Alltagserfahrung wichtig. Das ist aber kein Grund, von einem naiven Konzept der Wahrheit von Theorien auszugehen.
3.) Wenn Kognitive Prozesse in natürlichen Systemen ablaufen, dann sind sie letztlich Prozesse, bei denen es um die Stabilität der Interaktionsmuster von Subsystemen mit ihrer Umwelt geht. Wenn man will, kann man das als Anpassung an Chancen beschreiben, die sich für Agenten in ihrer Interaktion mit der Umgebung aus den Regularitäten ergeben. Letztlich ist aber diese adaptationistische Interpretation ebenso eliminierbar, wie in der Theorie der biologischen Evolution. Es geht einfach um die Dynamik komplexer Systeme, die man als Resultat der Überlagerung von Vorgängen beschreiben kann, bei denen Variation entsteht und selektiert wird.
3.a) Für kognitive Strategien gilt etwas analoges wie für Organismen: welche Form in einer Umgebung überlebt, hängt von den Eigenschaften der Umgebung ab. Damit löst die evolutionstheoretische Betrachtung sehr elegant die Probleme auf, die sich aus der Unmöglichkeit der Begründung induktiver Schlüsse oder Paradoxien wie dem grot-paradoxon oder dem Russelschen Huhn ergeben. Wir brauchen nicht zu begründen, dass wir irgendwas erkennen können; wir beschreiben einfach die Beschaffenheit von Systemen, in denen Populationen von Agenten existieren und sich verändern, wobei sich auch die Form ihrer Interaktion mit der Umgebung ändert.
4.) Wenn wir uns dafür interessieren, welche Regularitäten von Trajektorien in Interaktionen von Agenten und Umwelt 'ausnutzbar' sein können, dann sind das sehr oft nicht solche, bei denen die Prognosewahrscheinlichkeit mit der Komplexität der betrachteten Prozesse oder der Dauer der Prognose monoton abnimmt. Dafür gibt es ganz handfeste Besipiele: in der natürlichen Umgebung von Katzen ist es normal, dass sich aus dem Verschwinden einer Maus in einem Mauseloch sehr viel besser vorhersagen lässt, dass diese Maus wahrscheinlich wieder auftauchen wird, als dass sie es in kurzer Zeit wieder tun wird. Es ist daher nicht sonderlich erstaunlich, dass Katzen vor Mauselöchern warten - Antizipation ist etwas völlig normales.
4.a) Der Term 'ausnutzbar' steht dafür, dass die Ergebnisse der Reaktion des Agenten auf Ereignisse in der Interaktion mit der Umgebung relevant für die Stabilität ist. Er wird so verwendet wie der Asudruck 'Chancen, die eine ökologische Nische bietet' in der Theorie der biologischen Evolution; also als praktische Kurzform für Aussagen über Stabilitätsbedingungen.
5.) Der naturwissenschaftliche Reduktionismus ist eine Strategie zur Ausbeutung der Chancen, die sich aus einer speziellen Klasse von Regelmäßigkeiten in natürlichen Systemen ergeben; nämlich denen, die sich gewissermaßen additiv aus einfachen Ketten zusammensetzen lassen. Dies ist aber nicht in allen Systemen die einzige ausbeutbare Form von Regelmäßigkeiten für Agenten, die mit ihrer Umgebung interagieren.
--
Insgesamt landen wir, wenn wir Naturalismus ernst nehmen, meiner Ansicht nach zwangsläufig bei einer offen komplexen evlutionär-systemtheoretischen Erkenntnistheorie. Die einzige für mich sichtbare Alternative setzt einen Begriff von Wahrheit oder Erkenntnis voraus, der sich aus logischen Gründen nicht in einer Theorie kognitiver Prozesse als einer Theorie von Vorgängen in natürlichen Systemen explizieren lässt und daher dem naturalistischen Weltbild widerspricht. Für die Beseitigung vorgeblich irreduzibler Begriffe von Wahrheit oder Erkenntnis gilt dabei meines Erachtens etwas ähnliches wie für die Beseitigung Gottes: Scheinbar wird die Welt durch den Verzicht auf den Taschenspielertrick komplizierter. In Wirklichkeit wird ihre Komplexität behandelbar.
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Re: Kann die Erkenntnistheorie verbessert werden ?

Beitragvon Pille » So 1. Jun 2008, 21:15

Mir gefällt der Artikel nicht,
ganz schön verschwurbelt.

Auf Scienceblogs gibts schon eine Rezension:

http://www.scienceblogs.de/andere-bildung/2008/05/einfach-komplex-und-einfach-dumm.php
Pille
 

Re: Kann die Erkenntnistheorie verbessert werden ?

Beitragvon Mark » Mi 11. Jun 2008, 10:35

Ich glaub der Comment von "Kamenin" auf Scienceblog drückt es am besten aus :
Mitchell in kurz: Ich nehm jetzt mal ewig bekannte Wissenschaftstheorie, behaupte die wäre revolutionär neu, und damit's keiner merkt, nenn ich es Erkenntnistheorie. Ist zwar eigentlich was anderes, wird dann auch nicht mehr durch meine Argumente gestützt, aber soll man mir erst mal das Gegenteil beweisen.
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