AgentProvocateur hat geschrieben:Unter "Handlungsfreiheit" verstehe ich: jemand kann tun, was er will.
"Perfekte Handlungsfreiheit" wäre: jemand kann immer tun, was er will.
Unter "Entscheidungsfreiheit" verstehe ich: jemand ist fähig dazu, die Umstände einer Situation erkennen, dazu passende Optionen generieren und unter diesen passenden Optionen die im am besten erscheinende auswählen zu können.
"Perfekte Entscheidungsfreiheit" wäre demnach: jemand ist immer in der Lage dazu, eine Situation vollkommen abzuschätzen, alle dazu passenden Optionen generieren zu können und immer die daraus die ihm als beste erscheinende Option auswählen zu können.
"Alle dazu passenden Optionen zu generieren": ich höre schon das Rattern der Festplatte. Angesichts deiner folgenden Anmerkung wäre die Unterscheidung von Entscheidungsfreiheit und perfekter Entscheidungsfreiheit eigentlich überflüssig.
Dabei spielte es mE keine Rolle, falls dabei jeweils in einer bestimmten Situation immer eine bestimmte Entscheidung und eine bestimmte Handlung erfolgte. Im Gegenteil sogar: wenn das nicht der Fall wäre, würde ich das als weniger frei ansehen. (Es sei denn, dass mehrere als gleich bewertete Optionen vorlägen, dann wäre es mE egal, welche dieser als gleichwertigen Optionen ausgewählt würden. Und es wäre auch egal, wenn immer dieselbe Option ausgewählt würde.)
Gehst du von einer rational choice Theorie aus? Wenn nicht, machen deine Anmerkungen wenig Sinn, noch weniger als wenn du nicht von einer solchen ausgehst. Allerdings bedingte dies eine Analyse dessen was als "gleich bewertete Option" zu verstehen ist: Was ist das Kriterium der Bewertung? Und bei vorliegen mehrerer gleichwertiger (auf Grund welcher Meta-Kriterien?
) Kriterien? Was ist der Motor der Veränderung (der Person) wenn idealer Weise immer gleich entschieden wird...braucht es da nicht auch trial and error oder andere Faktoren der Unsicherheit? Wie kann ich je wissen ob eine Verhaltensweise die optimalste ist? Genügt dazu subjektives Überzeugtsein (wo doch solches oftmals genau das gegenteilige ist)? etc.
Wohlgemerkt: ich behaupte nicht, dass es in dem oben definierten Sinne in unserer Welt perfekte Entscheidungsfreiheit und/oder perfekte Handlungsfreiheit gäbe. Ich behaupte lediglich, dass es auch in einer determinierten Welt eine solche graduelle Entscheidungs- und Handlungsfreiheit geben kann.
Schlimm genug, dass du es als wünschenswert erachtest. Nach Verabschiedung der Illusion eines "so oder anders handeln könnens", soll nun der Mensch Richtung homo oeconomicus perfektioniert werden. Gott sei dank (oder wem auch immer) eine ebensolche Illusion als es die indeterministische Freiheitsidee war.
Nun meinst Du wohl, dass, wenn es keinen Freiraum in Deinem Sinne gäbe, (= "es hätte nicht anders kommen können"), man Personen nicht frei bezüglich ihrer Entscheidungen und Handlungen nennen könne.
Aber das erscheint mir prima facie unplausibel, denn was wäre mehr Handlungsfreiheit, als wie wenn eine Person immer das tun könnte, was sie wollte? Wäre eine Person freier, falls sie manchmal das täte, was sie nicht wollte? Aber wieso? Das ist mE nun keineswegs so selbstverständlich, wie Du zu meinen scheinst.
Dass es dir prima facie so scheint, wie es dir scheint, liegt ich weiss nicht an was, aber vielleicht doch am prima facie. Ein Beispiel: Ich erfülle alle Bedingungen um als zurechnungsfähig eingeschätzt zu werden (im heutigen Strafrecht werden diese wohl im Kontext des indeterministischen Freiheitsbegriffs erruiert). Das heisst ich weiss um mein Tun und kann deren Folgen abschätzen etc., dummer Weise bin ich sehr eifersüchtig und schädige meine Freundin nach ertapptem Fremdgehen. Kurzum: der Schaden ist grösser als
gewollt oder
intendiert. Ich wusste zwar was ich tat, schätzte die Folgen evtl. etwas falsch ein, aber unter dem Strich werde ich eine heftige Strafe dafür bekommen. Rückblickend erscheint mir das Ganze als determinierte Abfolge, bedingt durch Motive und zufällige Randbedingungen. Ich bereue zutiefst die Folgen für alle (nicht weil ich mich schuldig weiss, sondern weil ich die Folgen als so nicht gewollt und das verursachte Leid wahrnehme. Reue kann sich durchaus einfach auf das spezifische Determiniertsein beziehen), und denke auch: wenn ich doch nur anders gehandelt hätte, mich mehr unter Kontrolle gehabt hätte (=anders gewollt hätte).
Dies illustriert eine Situation, in welcher das Bedürfnis nach "anders handeln können unter gleichen Bedingungen" verständlich ist: wären meine Motive und Affekte doch andere gewesen, oder hätte ich sie unter Kontrolle gehabt etc. Ja: hier wollte ich tatsächlich was ich tat (auch wenn nicht in seinen Folgen), aber zugleich wollte ich es nicht! Es gibt Menschen die ein gänzlich andere Person hätten sein wollen, ihre ganzen begangenen Taten rückgängig machen wollen würden, könnten sie es nur. Anders handeln können impliziert hier: das Wissen, dass solche Handlungen meine waren: 100% gewollt von mir, dass ich nicht von Motiven gelenkt wurde welche ich nicht steuern konnte etc.
Du argumentierst wie jemand der glaubt Willensbildungen entstünden analog einer Berechnung am Computer. Du unterschlägst damit nur schon die vielfach ambivalente Motiviertheit vieler Handlungen und Entscheide.(Ich vermute, dass das mit Erlebtem zusammenhängt ob man für solches ein Verständnis hat oder eben nicht, aber das Fehlen eines solchen sollte nicht dazu verleiten das eigene nicht Verstehen können als rational einzustufen).
Unter dem Strich ist der Sachverhalt der Folgende: solange es Menschen gibt welche solche Bedürfnisse haben (anders wollen können als sie es faktisch tun), diese nicht als völlig unverständlich und irrational aufgewiesen werden können (und da sehe ich kein einziges valides Argument bei dir und grundsätzlich nicht wie dies, gegen das gegenteilige Empfinden von Menschen, begründet werden könnte), kann ein kompatibilistischer Freiheitsbegriff nicht beanspruchen jedermanns diesbezügliche Bedürfnisse abdecken zu können. Ergo: ein solcher Freiheitsbegriff mag der einzig denkbare sein, aber ganz bestimmt nicht der einzig sinnvolle (nicht der indet. Freiheitsbegriff ist semantisch sinnvoll, aber das was mit "anders handeln können in derselben Situation" intendiert ist, d.h. das zu Grunde liegende Bedürfnis kann als rational expliziert werden, da es letztlich ein Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit ist!).
Nicht nur tun können was man will, sondern auch wollen können was man will, wird ja auch im Kompatibilismus diskutiert z.B. bei H. Frankfurt ("Theorie der hierarchischen Motivation"). Dies zeigt, dass auch im Kompatibilismus durchaus eine diesbezüglich verwandte Form des Problematisierens und Verstehens existiert.
Und analog: was wäre mehr Entscheidungsfreiheit, als wie wenn eine Person immer vollständiges Wissen der relevanten Umstände einer bestimmten Situation hätte, alle möglichen Handlungsoptionen für diese Situation generieren könntge und immer die am für sie beste Option in der Situation auswählen könnte? Wäre eine Person freier, falls sie manchmal eine von ihr als schlechter angesehenen Option auswähle würde?
Siehe oben: beste Option etc., da müsste wahrlich viel argumentiert werden um zu wissen was "das Beste" sein soll oder gar ist (kann es da nur ein Kriterium geben? Ist das Beste immer das objektiv Beste oder das nur subjektiv als das Beste interpretierte? etc. etc.). Wie gesagt: du strebst den perfektionierten rational choice Menschen an, oder scheinst einen solchen als Ideal vor Augen zu haben.
Dein Einwand hier: ja, aber diese Person tut nie, was sie nicht will, bzw. sie entscheidet sich nie für eine von ihr als schlechter angesehene Option, erscheint mir nun keine plausible Begründung für eine Freiheitseinschränkung dieser Person zu sein.
Wäre auch merkwürdig das subjektiv Schlechtere für sich zu wollen. Aber in meinen Augen ist das ein Strohmann. Es geht darum das Gefühl eigenen Determiniertseins - unter Umständen auch dort wo man wollte was man tat! - nicht in Einklang bringen zu können mit meiner angeblichen Verantwortlichkeit. Dass ich einen Bruch empfinde zwischen meinen Handlungen und deren zu tragenden Konsequenzen (im Guten wie im Schlechten). Ich bitte mein obige erwähntes Beispiel zu entkräften.
ganimed hat geschrieben:Zurück zum Mörder, der gestern um 15 Uhr sein Opfer erschoss. Du sprichst ihn schuldig, wenn er die grundsätzliche Fähigkeit hatte, durch Selbstkontrolle nicht zu schießen.
Ja, oder den Steuerhinterzieher oder den Betrüger oder den Vertragsbrecher. Um nicht nur Kapitalverbrechen zu nennen.
"Die grundsätzliche Fähigkeit". Da lacht ich mich krumm! Eine Fähigkeit ist in genau dem Umfang grundsätzlich wie sie auch aktualisiert wird. Ansonsten dir die Beweislast gegeben ist zu zeigen, dass diese grundsätzliche Fähigkeit zwar dauernd auf ihrem Posten steht, um dann zu erklären warum diese Grundsätzlichkeit sich nicht mehr ganz so grundsätzlich "verhielt" als es darauf ankam (schwieriges Thema: existiert Möglichkeit nur als Wirklichkeit etc.). Zumindest ist in solchen Formulierungen die metaphysische Aufgeladenheit ihrer Begriffe ersichtlich...womit man sich erhebliche argumentative Probleme einhandelt.
ganimed hat geschrieben:Mit deinem Schuldkriterium kann der Richter also genausogut würfeln und einen großen Teil der Prozesskosten sparen, oder?
Es gibt diverse Verfahren, um festzustellen, um jemand schuldfähig ist oder nicht. Diese Verfahren sind zwar weit davon entfernt, unfehlbar zu sein, jedoch sind sie dennoch unverzichtbar. Es geht dabei mE nicht darum, wie Du anscheinend meinst, festzustellen, ob jemand böse sei oder nicht, sondern es geht vor allem darum, nicht jemanden ungerechtfertigt zu verurteilen. Dabei spielt es keine wesentliche Rolle, ob eine Verurteilung eines bestimmten Menschen eine positive Auswirkung auf andere hätte; auch falls die Verurteilung eines Unschuldigen eine positive Auswirkung auf die zukünftige Gesellschaftsentwicklung hätte, würde man es als ungerecht ansehen, diesen Menschen derart als Mittel zum Zwecke der zukünftigen positiven Gesellschaftsentwicklung zu verwenden.
Die Kriterien sind doch recht einfach: Einsicht in die Tat und deren möglichen Folgen oder ähnlich. Komplizierter wird es bei der Feststellung ob diese Kriterien zur Tatzeit beim Täter auch wirklich vorhanden waren. Sinn von Strafen können ja unterschiedliche sein: Vergeltung, positive resp. negative Spezial-oder Generalprävention (4 Varianten), Schutz der Gesellschaft. Dass die negative/positive Generalprävention keine Rolle in der Strafbegründung spielt ist falsch. Es spielen hier in der Praxis mehrere eine Rolle inkl. der Vergeltung (Strafangemessenheit).
ganimed hat geschrieben:Nehmen wir doch lieber mein Kriterium. Das ist klar vorgegeben, sehr einfach anwendbar und man gelangt immer zu einem logisch widerspruchsfreiem Ergebnis: nicht schuldig im Sinne "er hätte (in derselben Situation) auch anders handeln können", denn er konnte gestern um 15 Uhr nicht anders handeln (laut Determinismus).
Der Mörder, Steuerhinterzieher, Betrüger oder Vertragsbrecher oder wie auch immer hat gestern um 15 Uhr so gehandelt, wie er gehandelt hatte. Und, Determinismus vorausgesetzt, hätte es nicht anders kommen können als so, wie es kam. Was jedoch nichts daran ändert, dass die Handlung desjenigen auf seinem Mist gewachsen ist, falls er zurechnungsfähig war. Und was nichts daran ändert, dass seine Handlung gegen bekannte Normen verstieß. Und was auch nichts daran ändert, dass jemand anderes, der damit nichts zu tun hatte, tautologischerweise damit nichts zu tun hatte.
Und was nichts daran ändert, dass deine Argumente zweierlei vermischen: erstens eine Strafpraxis welche einen Unterschied macht zwischen gewollten Handlungen und erzwungenen (=unzurechenbaren) Handlungen (Alkohol, Drogen, psychische Verfasstheit etc.). Dies wird einem Eigenerleben des Menschen auf einer ersten Stufe gerecht nicht aber auf einer zweiten. Zudem redest du "von auf seinem Mist" gewachsen...hier weichst du vom Eigenerleben des Menschen ab und negierst damit, dass "anders handeln können auf einer zweiten Stufe" subjektiv dem Menschen zum Bedürfnis werden kann. Des weiteren redest du davon, dass nicht ein anderer die Tat beging (was nur zuallererst eine zu klärende Frage ist), dies scheint mir aber im Widerspruch mit einem Determinismus zu stehen. Aus Sicht eines konsequent durchgedachten Determinismus fang Ich (pure Illusion im Kontext der Freiheitsfrage) ja nicht erst mit meinem Geboren werden an zu existieren. Ich bin das Produkt einer bis zum Urknall reichenden Kette von Verursachungen. Natürlich lässt sich schlecht das Universum in der Praxis anklagen, aber die Isolierung des "Ich" als entscheidender Kausalfaktor bleibt pure Willkür (metaphysisch gesehen, aber auch ich konzediere: das Pragmatische muss wohl oder übel zu seinem Recht kommen...weil es dem Bedüfnis der meisten entspricht. Müsste und könnte es nicht das Bedürfnis aller sein? (Dazu z.B.: N. Hoerster, "Muss Strafe sein?").
Und weiter? Soll der Mörder, Steuerhinterzieher, Betrüger oder Vertragsbrecher oder wie auch immer deswegen nicht sanktioniert werden? Was soll mit ihm statt dessen geschehen? Ihn einfach laufen lassen? Und was, wenn darauf jemand Selbstjustiz ausübt und den Mörder, Steuerhinterzieher, Betrüger oder Vertragsbrecher oder wie auch immer killt oder übel verletzt? Immer nur müde mit den Schultern zucken und sagen: "niemand kann etwas dafür, was er tut, ist ja alles determiniert"? Oder sagen: "Mord, Steuerhinterziehung, Betrug und Vertragsbruch sind kein Problem, diese sind ja determiniert, daher alternativlos, daher darf das nicht bestraft/sanktioniert werden, aber Selbstjustiz geht gar nicht, daher muss Selbstjustiz bestraft/sanktioniert werden"?
Doch, aber mit den richtigen (d.h. in bestmöglicher Übereinstimmung mit den anthropologischen Sachverhalten stehenden) Argumenten. Und zuletzt mit Wischwaschi- Wortklaubereien und irreführender Begriffsverwendungen.
Oder zwar weiter sanktionieren wie bisher, aber fürderhin den Begriff "Strafe" vermeiden und statt dessen z.B. "Sanktion" sagen? Genau dasselbe tun wie bisher, jedoch die Begriffe ändern, also lediglich Sprachkosmetik betreiben?
Sprachkosmetik betreibst du und ähnlich operierende Kompatibilisten, die Begriffe auf ihre Bedürfnisse zurechtstutzen und alles darüber Hinausgehende auf Grund persönlicher psychischer Verfasstheit ungerechtfertigter Weise als nicht existierend erachten.
Falls der juristische Grundsatz "keine Strafe ohne Schuld" Deiner Ansicht nach fallen gelassen werden soll, was soll an dessen Stelle treten? Niemanden mehr bestrafen/sanktionieren, oder nach völligem Belieben dann sanktionieren, wenn wahrscheinlich ein Nutzen für die Gesellschaft daraus folgte? Also z.B. irgend jemand völlig Beliebigen (z.B. Dich oder Deine Kinder) willkürlich bestrafen/sanktionieren, falls die Präsentation eines Sündenbockes voraussichtlich gute Auswirkungen auf die Gesellschaft hätte? Weil es in einer determinierten Welt völlig egal wäre, wer bestraft/sanktioniert würde, weil in einer determinierten Welt alle gleichermaßen unschuldig wären und daher entweder ausnahmslos niemand oder völlig beliebige Leute sanktioniert/bestraft werden düften, falls das irgendwie einen voraussichtlichen Nutzen hätte?
Nein, jenseits von Sprachkosmetik der Realität ins Auge schauen: dass der Zusammenhang Schuld-Strafe ein nur sehr bedingter ist, dass wirkliche Schuld ein "anders handeln können" voraussetzen würde. Dass Strafen aber eine gesellschaftliche Notwendigkeit darstellt, will eine solche ihr Dasein sichern etc.
Dass Strafe anders begründet werden kann, ist bekannt (z.B. D. Hoerster "Muss Strafe sein" und andere).