Harter atheistischer Determinismus

Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Do 9. Jan 2014, 13:49

ice hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Wenn der Mörder aufgrund der Umstände und seiner inneren Verfassung gar nicht anders handeln konnte, so ist er nicht böse, sondern hat "lediglich" die Interessen der Gesellschaft verletzt. Seine Handlungen waren eine Art Naturkatastrophe, an der niemand schuld ist. Nichtsdestotrotz können Maßnahmen ergriffen werden, solche Naturkatastrophen künftig zu verhindern.
Genauso sehe ich das auch. Deswegen werden auch Mörder und andere Straftäter, je nach Straftat, eingesperrt.

Dieser richtige Hinweis auf die schwere der Tat, appelliert doch beim Verurteilenden an jenes Augenmaß, was dem Täter abgesprochen wird.

Warum nicht die Todesstrafe für leichten Raub? Warum nicht Kastration für 10 km/h zu schnelles Fahren?
Wenn Du einen Grund dafür angeben kannst und meinst, dass eine Begründung zu geben irgendeinen Sinn hat, außerhalb jeder beliebigen Äußerung, die auch "Tri tra trullala" lauten könnte - aber dann machte eine Diskussion hier auch keinen Sinn - beziehst Du Dich auf eine allgemeine Einsichtfähigkeit des Menschen, was so ziemlich jeder tut.

Warum sollte die beim Täter aufhören? Dort wo ein Hund oder kleines Kind eine teure Vase zerstört, urteilen wir anders, als wenn es jemand macht, den wir vorher explizit baten vorsichtig zu sein.
Einen geistige schwerbehinderten Menschen, jemand mit einer akuten Psychose oder einen im schweren Rausch beurteilen wir anders, als einen "normalen", auch in puncto Schuldfähigkeit. Warum wohl?
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Nanna » Do 9. Jan 2014, 13:49

fopa hat geschrieben:Entscheidet sich ein Handels-Computer an der Börse zu einem bestimmten Zeitpunkt, einen Kauf zu tätigen? Hat er denn eine Alternative? Er wägt gemäß seiner Programmierung verschiedene Alternativen ab und bewertet sie und entscheidet sich nach Abschluss des Bewertungsprozesses für die, die er für die beste hält.
Was macht der Mensch prinzipiell anders?

Ah, da gibst du mir ungewollt ein gutes Beispiel, um zu demonstrieren, dass das Wissen um die eigene Determiniertheit nur von äußerst begrenztem Nutzen ist. Der Computer, der kein Bewusstsein, kein personales Ich und keine Reflexionsfähigkeit besitzt, wird nicht davon beeinflusst, ob er weiß, dass er determiniert ist oder nicht. Er spielt das Spiel von Input-Decision-Output auch so wunderbar. Anders gesagt: Ein Regelkreislauf muss nicht wissen, dass er ein Regelkreislauf ist. Wenn es nun so wäre, wie du sagst, dass der Mensch und der Computer sich aus Sicht des Determinismus nur im Komplexitätsgrad unterscheiden, dann hat entweder das Wissen um den Determinismus auch für den Menschen keine Relevanz oder aber, und das wäre meine Antwort, es hat einen Einfluss, aber keinen Mehrwert: Ein Regelkreislauf, der weiß, dass er ein Regelkreislauf ist, entscheidet aufgrund dieses Wissens nicht besser, höchstwahrscheinlich sogar nicht mal anders. Wie du weiter unten schreibst, muss mit Mördern ja trotzdem gerichtlich verfahren werden und es müssen Sanktionen ausgesprochen werden, d.h. der Regelkreislauf bleibt erhalten. Die Frage ist, was das Wissen um die Determiniertheit hier ändern sollte. Eventuell benutzt man eine andere Sprachregelung, redet von "Bestrafung" vielleicht von "Anreiz zur Besserung", was aber Jacke wie Hose ist und den Diskussionsaufwand nicht lohnt. Dazu weiter:

fopa hat geschrieben:Die Entscheidungen und Taten von Mördern werden keineswegs bagatellisiert. Das hatte ich ja auch schon beschrieben. Immerhin laufen solche Handlungen den Interessen der meisten anderen Menschen zuwider. Letztere werden daraufhin versuchen, mit dem Mörder in einer solchen Weise zu verfahren, dass ihre Interessen künftig nicht mehr verletzt werden. Der Unterschied ist, wie gesagt, das (Selbst-)Verständnis: Wenn der Mörder aufgrund der Umstände und seiner inneren Verfassung gar nicht anders handeln konnte, so ist er nicht böse, sondern hat "lediglich" die Interessen der Gesellschaft verletzt. Seine Handlungen waren eine Art Naturkatastrophe, an der niemand schuld ist. Nichtsdestotrotz können Maßnahmen ergriffen werden, solche Naturkatastrophen künftig zu verhindern. Schließlich machen Menschen das bei Stürmen und Überflutungen auch: Erdrutsche und Lawinen können durch entsprechende Stabilisierungen vermieden werden, gegen unvermeidliche Sturmfluten baut man Deiche, um sich zu schützen.

Die Selbstüberlistung, die du hier betreibst, ist, dass du für den Mörder und für dich/die Gesellschaft hier implizit unterschiedliche Regeln in Anspruch nimmst. Wenn der Mord eine Naturkatastrophe war, dann ist die Hinrichtung des Mörders eben auch eine. Du kannst nicht einerseits fordern, dass man den Mördern aus der Objektperspektive als fehlfunktionierende Maschine begreift, die sich nicht bewusst für das Nicht-Morden entscheiden konnte, aber andererseits an den Rest von uns appellieren, dass wir uns bewusst für einen anderen Umgang mit dem Mörder entscheiden sollen. Wenn der Mörder sagen darf "Ich konnte nicht anders, als zu morden", darf der Richter auch antworten "Und ich kann nicht anders, als sie zu 20 Jahren Gefängnis zu verurteilen." Das ganze ist eine symmetrische Angelegenheit, d.h. entweder benutzen beide die deskriptive Objektperspektive ("Erst mordet der Mörder, weil er nicht anders kann, dann richtet der Richter, auch weil er nicht anders kann.") oder beide die normative Subjektperspektive ("Ich habe gemordet, weil ich XY gehasst habe" - "Ich verurteile Sie, weil Sie des Mordes schuldig sind."). Aber man kann nicht das eine mit dem anderen vermischen. Letztlich wäre das übrigens auch eine Dehumanisierung des Mörders, weil ihm seine Verantwortungs- und Entscheidungsfähigkeit abgesprochen wird, auch wenn die Intention dafür eigentlich wohlwollend ist.

fopa hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Was du unterstellst, ist, dass der Mörder einerseits handeln MUSS, wie er handelt, dass er aber andererseits friedlicher, empathischer und toleranter werden kann, wenn er sich eingesteht, DASS er morden muss. Das ist doch - Verzeihung - albern und grotesk.
Das wäre in der Tat grotesk. @ice's Aussage bezog sich aber nicht auf den Mörder, sondern die anderen Menschen und ihre Sicht auf den Mörder. (Siehe vorangegangenen Absatz.)

Ja, und genau das ist eben inkonsequent. Warum ist die Determiniertheit ausgerechnet beim Mörder entscheidend? Warum sollte man von anderen Menschen fordern, dass sie sich von einer bestimmten Meinung über Mörder lösen (zu der sie laut Determinismus eigentlich gezwungen sind!), aber nicht vom Mörder, dass er sich von seiner Affinität zum Töten löst? Implizit werden hier zwei unterschiedliche Klassen von Determiniertheit eröffnet: Eine harte für den Mörder, der gar nicht anders konnte, und eine weiche für den Rest, dem unterstellt wird, dass er dem Mörder irgendwas voraus hätte und eben doch anders über den Mörder denken könnte. Aber wenn den Mörder seine Lebensgeschichte dazu zwingt, zu morden - warum sollte meine mich weniger dazu zwingen, Mörder zu hassen und baumeln sehen zu wollen? Sorry, ich bleibe dabei: Das ist überhaupt nicht zu Ende gedacht.

fopa hat geschrieben:Der Kompatibilismus macht es zwar subjektiv leichter, mit den gesellschaftlichen Konsequenzen des Determinismus umzugehen, aber letzten Endes ist er - objektiv gesehen - inkonsequent.

Ich verweise dich da an Agent, der sich viel besser damit auskennt. Ich folge hier seinen und Vollbreits Darlegungen, die meines Erachtens schön zeigen, dass das nicht richtig und der Kompatibilismus nicht nur konsequent, sondern im Gegensatz zu ice's Determinismusinterpretation sogar widerspruchsfrei ist.

fopa hat geschrieben:Ich gebe zu, dass es schwierig zu durchdenken ist, dass all die Begriffe, die du genannt hast, durch einen "harten" Determinismus nicht entkernt werden. Sie sollen auch nicht aufgegeben werden. Das was sich durch die Abkehr von der Annahme eines nicht-determinierten Willens und damit Entscheidungen ändert, ist das Verständnis für die Handlungen Anderer. (Was nicht heißt, dass diese Handlungen gebilligt werden, wie ich bereits ausgeführt habe.)

Ihr verknüpft hier zwei Sachen, zwischen denen keine logische Verknüpfung besteht. Aus dem Wissen um den Determinismus folgt logisch nicht, dass man mehr Verständnis für die Handlungen Anderer entwickelt. Das ist ein Scheinzusammenhang und eigentlich eine völlig unabhängige Forderung. Wer den naturlistischen Fehlschluss kennt, kann das auch leicht sehen, denn es wird hier versucht, aus einer deskriptiven Theorie eine normative Handlungsanweisung abzuleiten, und dass das prinzipiell logisch widersprüchlich ist, hat Hume schon vor vierhundert Jahren gezeigt. Das Wissen um den Determinismus kann beispielsweise genausogut dazu führen, dass man sich in seiner harten Haltung gegenüber Mördern bestätigt fühlt und sich denkt: "Ich muss kein schlechtes Gewissen haben, dass ich die eingesperrt und aufgehängt sehen will, ich kann ja eh nicht anders."

fopa hat geschrieben:Ich gebe dir aber insofern Recht, als auch ich der Meinung bin, dass es wenig Sinn macht, eine deterministische Sichtweise zu propagieren. Die meisten Menschen werden darin als letzte Konsequenz einen totalen Fatalismus sehen und es deswegen ablehnen.

Das ist, glaube ich, eher eine Rationalisierung, um die Enttäuschung zu kompensieren, die daraus entsteht, dass diese ganzen Schafe da draußen einfach die wahre, friedenstiftende Konsequenz des Determinismus nicht sehen wollen. ;-)
Ich glaube aber, dass die meisten Menschen zumindest unterbewusst mitkriegen, dass der Determinismus für ihr Leben keine Implikationen hat. Es ist doch auch wirklich egal, ob man im Nachhinein jetzt sagt, dass es so kommen musste oder ob man sagt, dass das alles eine Verkettung von Zufällen war. Man ist so und so da, wo man ist, und auch der Determinist hätte nicht treffsicherer entschieden, weil er den Determinismus ja selber auch nur in der Retrospektive "sehen" kann. Rückwärtserklärungen sind zwar hilfreich als empirische Daten (als Politikwissenschaftler, der keine Experimente mit seinem Gegenstand durchführen kann, mache ich selbst prinzipiell nichts anderes als retrospektive Erklärungen, kenne also durchaus deren Wert), ändern aber nichts daran, dass man für die Zukunft ja trotzdem mit genau jenen Kategorien operieren muss, mit denen man schon in der Vergangenheit operierte. Anders gesagt, wahrscheinlich sind viele Leute heimliche Kompatibilisten, auch wenn sie das nicht wissen oder dieses Gebiet ergründet haben.

fopa hat geschrieben:Viel wichtiger für das Zusammenleben ist die Einsicht, dass Menschen nicht böse sind, wenn sie etwas tun, sondern schlicht aufgrund der Umstände so handeln oder ihren Interessen folgen.

Ich finde ehrlich gesagt, dass die Kategorie "böse" auf einen Mörder, der nicht anders konnte als böse zu handeln, viel besser passt als auf einen Menschen mit Entscheidungsfreiheit, der prinzipiell auch anders hätte handeln können. Denn der determinierte Mörder war schon immer böse und würde auf jeden Fall böse gehandelt haben. Der Determinismus betoniert diese Feststellung eigentlich noch mehr.

Natürlich muss auch der harte Determinist nicht annehmen, dass der Mörder immer so bleiben muss. Er kann aber darüber, ob etwas getan wird, was den Mörder ändert, genauso wenig entscheiden wie der Mörder selbst entscheiden konnte. Weshalb dieser normative Determinismus, den ihr hier propagiert, eben in sich widersprüchlich und witzlos ist.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Do 9. Jan 2014, 14:52

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber mein Punkt hier war der: wer behauptet, dass Determinismus Freiheit ausschlösse, muss dafür mindestens ein einziges Argument nennen. Als unbegründete Setzung (= Dogma) ist das nicht akzeptabel, weil nicht nachvollziehbar, weil nicht per se evident.

Mal ganz böse gesagt: das ist für mich ebensowenig nachvollziehbar, als wenn Du einfach so ohne Argument behaupten würdest, dass es einen Gott gäbe, (weil Du das irgendwie gut findest, aber ohne weiteres Argument).


Nenne mir ein Ereignis/Phänomen in der komplexen dynamischen Lebenswelt, die wir beobachten können, das nicht kausal geordnet ist und natürliche Ursachen, Vorbedingungen und eine Vorgeschichte hat, die für uns zugänglich und erforschbar ist. Ich stelle hier ja kein Dogma auf, sondern beziehe mich auf Dinge und Phänomene, die wir tagtäglich beobachten können. Es passiert ein Ereignis X und wir wissen/ahnen, dass Y die Ursache ist. Wir beobachten das Phänomen A und können/wollen beschreiben, dass B die Ursache/Erklärung dafür ist. Diese kausalen Zusammenhänge sind mein Argument für den harten Determinismus (das habe ich aber schon in meinem Eingangsbeitrag in diesem Thread geschrieben). Wenn der Determinismus wahr ist, dann gibt es auch keine Freiheit bzw. sie ist eine Illusion. Aber wie ich schon in der Antwort an @Nanna geschrieben habe, brauchen wir wahrscheinlich den Begriff "Freiheit", um in der sozialen Welt handlungsfähig zu bleiben.

AgentProvocateur hat geschrieben:Erschwerend kommt hinzu, dass Du aus diesem Dogma moralische Forderungen ableitest, dass z.B. niemand einen Mörder (moralisch oder sonstwie) verurteilen dürfe, weil das moralisch falsch sei. Das unterscheidet sich nun mE nicht von moralischen Forderungen von (bestimmten, einzelnen) Theisten, dass man z.B. Homosexuelle moralisch verdammen müsse.


Dass ich solche moralische Forderungen vom Determinismus ableite, stimmt nicht. Im Gegenteil: ich halte moralische Urteile prinzipiell für fragwürdig, weil ich gerade nicht an eine übernatürliche Instanz glaube, die solche moralischen Regeln aufstellen kann. Ich spreche lieber von ethischen Regeln und Richtlinien, die Menschen zu jeder Zeit gemeinsam aushandeln sollten. Aber das hat nicht unbedingt etwas mit der Frage "Determinismus Ja/Nein?" zu tun.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Do 9. Jan 2014, 17:01

Vollbreit hat geschrieben:
ice hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Wenn der Mörder aufgrund der Umstände und seiner inneren Verfassung gar nicht anders handeln konnte, so ist er nicht böse, sondern hat "lediglich" die Interessen der Gesellschaft verletzt. Seine Handlungen waren eine Art Naturkatastrophe, an der niemand schuld ist. Nichtsdestotrotz können Maßnahmen ergriffen werden, solche Naturkatastrophen künftig zu verhindern.
Genauso sehe ich das auch. Deswegen werden auch Mörder und andere Straftäter, je nach Straftat, eingesperrt.

Dieser richtige Hinweis auf die schwere der Tat, appelliert doch beim Verurteilenden an jenes Augenmaß, was dem Täter abgesprochen wird.

Warum nicht die Todesstrafe für leichten Raub? Warum nicht Kastration für 10 km/h zu schnelles Fahren?
Wenn Du einen Grund dafür angeben kannst und meinst, dass eine Begründung zu geben irgendeinen Sinn hat, außerhalb jeder beliebigen Äußerung, die auch "Tri tra trullala" lauten könnte - aber dann machte eine Diskussion hier auch keinen Sinn - beziehst Du Dich auf eine allgemeine Einsichtfähigkeit des Menschen, was so ziemlich jeder tut.

Warum sollte die beim Täter aufhören? Dort wo ein Hund oder kleines Kind eine teure Vase zerstört, urteilen wir anders, als wenn es jemand macht, den wir vorher explizit baten vorsichtig zu sein.
Einen geistige schwerbehinderten Menschen, jemand mit einer akuten Psychose oder einen im schweren Rausch beurteilen wir anders, als einen "normalen", auch in puncto Schuldfähigkeit. Warum wohl?


Ich spreche im Prinzip jeden Menschen diese Einsichtsfähigkeit und dieses Augenmaß zu - auch einem Täter (Ausnahmen hast du selbst genannt). Wie erklärt man sich jetzt diese allgemeine Einsichtsfähigkeit, dieses Augenmaß im (Be)Urteilen? Interessante Frage. Ich nehme an, dass diese Fähigkeit - genauso wie andere menschlichen Fähigkeiten - evolutionär entstanden ist. Wie denn auch sonst? Auf die Frage "Warum?" habe ich jetzt auf die Schnelle keine befriedigende Antwort.

Es war auch offensichtlich ein langer historischer Prozess, bis Menschen sich ein ausdifferenziertes kompliziertes Rechtssystem gegeben haben, wie wir es heute in der zivilisierten Welt haben. Es wird auch ständig erweitert, angepasst und verändert. Ich bin kein Richter oder Anwalt - und habe mich auch damit nicht näher beschäftigt.

In beiden Fällen haben wir aber die Gewissheit, dass es eine (determinierte?) Vorgeschichte gibt, die zu dem jetzigen Systemzustand geführt hat und dass sich dieses System differenziert weiterentwickeln wird.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Nanna » Do 9. Jan 2014, 17:52

ice hat geschrieben:Ich stelle meine deterministische Weltsicht hier zur Diskussion. Ich habe nicht das Ziel, andere von meiner Meinung zu überzeugen. Wenn jemand, wie du, diese Weltsicht nicht teilt, dann akzeptiere ich das natürlich. Jede Selbst-Reflexion und jeder Kommunikationsprozess mit anderen ändert etwas.

Sagt man "Eine deterministische Weltsicht ist besser, weil...", so ist das eine normative Aussage mit grundsätzlich appellativem Charakter ("Folge auch du dieser Weltsicht!"). Gerade an dem Punkt, wo du für das Verständnis gegenüber dem determinierten Menschen wirbst, ist der Appell schwer wegzuleugnen. Ich hätte das aber vielleicht von Anfang an begrifflich besser klären sollen, als ich auf den Appell gekommen bin: Es erscheint mir relativ unplausibel, dass man eine Diskussion überhaupt ohne implizite Appelle führen kann. Wie etwa im Vier-Seiten-Modell deutlich wird, beinhalten Aussagen immer mehr an Inhalt als den unmittelbaren Sachaspekt. Unter Appell versteht man in diesem Zusammenhang relativ weitläufig, dass man beim Gegenüber etwas bewirken will. Das muss nicht heißen, dass man andere um jeden Preis von seiner Meinung überzeugen will (das unterstelle ich dir in diesem Ausmaß auch gar nicht), aber üblicherweise erwartet man schon - also ich jedenfalls -, dass die guten Gedanken, die man äußert, eine entsprechende Rezeption erfahren. Und noch komischer wäre es doch, wenn jemand aktiv ein Weltbild vertritt, das er als überlegen ansieht, dann aber keine Hoffnung hat, dass er Andere von den Vorzügen überzeugen kann. ;-)

ice hat geschrieben:Ich habe nur geschrieben, dass auch für Mörder und andere Straftäter die Tatsache gilt, dass sie zum Zeitpunkt der Straftat determiniert sind und sie nicht im herkömmlichen moralischen Sinn "schuldig" gesprochen werden sollen, weil sie nicht frei entscheiden konnten, sondern von unzähligen Einflussfaktoren festgelegt sind.

Wenn du alles funktionalistisch betrachten willst, warum ist dann das Schuldigsprechen als Mittel der sozialen Abschreckung problematisch, die Androhung des Einsperrens aber nicht? Beides sind potentielle Mittel der Tatvermeidung, beide haben ihren jeweiligen Einfluss auf den potentiellen (zukünftigen) Mörder. Warum nicht beide ausschöpfen? Weil "Schuld" so eine religiöse Patina hat, während das Einsperren so schön technisch-funktionialistisch aussieht und daher besser in den mechanistischen lifestyle des Deterministen passt? Dem wahren Deterministen, der kühl nach Aktion-Reaktion-Wirkmustern sucht, muss sowas doch eigentlich vollkommen egal sein.

ice hat geschrieben:Noch einmal: ich appelliere an niemanden, meine Weltsicht zu teilen, sondern kommuniziere einfach. Ich habe auch keine Erlösungsfantasien und ziehe auch nicht durch die Welt und verkünde das Heil durch Determinismus.

Hab ich etwas dick aufgetragen? ;-)

"Einfach kommunizieren" hat für mich etwas von einem Oxymoron. Wie der gute alte Georg Kreisler zu sagen pflegte: "Es gibt keine harmlose Konversation." Ich verweise da auch nochmal auf das Vier-Seiten-Modell und die impliziten Botschaften, die in jeder Äußerung mitschwingen. Natürlich dominiert in einer Diskussion wie unserer hier die Sachebene, gar keine Frage, aber Kommunikation ist ganz sicher nie ein trivialer Vorgang ohne implizite Wertungen, ohne Erwartungen von feedback, ohne Annahmen über das Gegenüber. Solltest du es wirklich so von Funktionalismus durchzogen sehen, dass du eine Maschine bist, die Signale in die Welt hinaussendet und sich deren sozialer Implikation nicht bewusst ist, wäre ich schon recht erschrocken. Das glaube ich zwar nicht, aber zur Vorsicht gegenüber allzu trivialisierenden Aussagen à la "der beißt nicht, der will nur kommunizieren" würde ich schon raten. Man schreibt sich da selbst schnell mehr Rationalität, Objektivität und leidenschaftsloses Technokratentum zu, als man als soziales Tier wirklich haben kann.

ice hat geschrieben:Ich verschanze mich eben nicht in einem uneinnehmbaren Blockhaus, so wie ein Solipsist, sondern führe ein ziemlich normales Leben mit Familie und sozialen Kontakten - und stelle meine Weltsicht hier im Forum zur Diskussion, weil ich die Frage "Determinismus Ja/Nein?" für interessant und spannend halte.

Ich wollte dich nicht als verrückten Missionar hinstellen, falls du es so aufgefasst hast. Es tut mir leid, falls es so angekommen ist.

ice hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Die Lösung wäre, die Objekt- und Subjektperspektive wieder sauber zu trennen bzw. sich nach einer entwickelten Integrationsmöglichkeit wie dem Kompatibilismus umzusehen.

Im täglichen Leben trennen wir ganz natürlich die Objekt- und Subjektperspektive, sonst wären wir gar nicht in der Lage, halbwegs konstistent und sinnvoll zu handeln. Aber in der philosophischen Reflexion können wir diese Trennung aufheben und die Welt ganzheitlich denken.

Da widerspreche ich, weil wir grundsätzlich nicht in der Lage sind, als Beobachter dritter Ordnung zu fungieren, also die Subjektposition zu verlassen und uns auf sicheren letztgültigen Grund zu stellen (Münchhausen-Trilemma). Wir können Perspektiven wechseln und wir können Ausschnitte des Universums quasi-objektiv betrachten, wenn wir sie klein genug wählen und wir können analog zu Popper deduktive deskriptive Theorien empirisch prüfen (nicht jedoch normative, da kann empirisch nur festgestellt werden, ob Leute einer bestimmten Norm folgen, nicht ob sie gerechtfertigt ist). Auch dann ist das Ergebnis aber immer noch von der subjektiven Perspektive des Forschers oder eben des Philosophen beeinflusst. Je nach Situation darf man das meines Erachtens als problematischer und weniger problematisch bewerten, wobei die Reflexion und Abgrenzung der eigenen Perspektive ein wichtiges Kriterium für Unbedenklichkeit ist. Gefährlich wird es, wenn Begrifflichkeiten verschiedener Perspektiven nicht ausreichend reflektiert ineinander gemischt werden oder man Perspektiven generell leugnet - die Gefahr bei einem holistischen Ansatz, wenn man so tut, als könne man Perspektivengrenzen ignorieren, obwohl aus epistemologischer Sicht ja jetzt schon klar ist, das kein diskursives Wesen in diesem Universum das jemals im emphatischen Sinne können wird. Insbesondere die epistemologische Trennung von normativen und deskriptiven Äußerungen muss daher erhalten bleiben, sonst stapelt sich schnell Fehlschluss auf Fehlschluss.

ice hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Verstehst du ungefähr, wie krass weit ab vom Schuss du dich hier aufhältst, was jegliche innere Plausibilität angeht?

Ja, ich verstehe ungefähr, was du meinst und nehme meinen Satz mit der Empathie und Toleranz ausdrücklich zurück. Er hat nur zu Missverständnissen geführt, die ich auch nachvollziehen kann. Trotzdem bleibe ich, philosophisch gesehen, radikaler Determinist und Inkompatibilist.

Da geht er hin, unser Streit...
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon fopa » Do 9. Jan 2014, 18:41

Nanna hat geschrieben:Wenn es nun so wäre, wie du sagst, dass der Mensch und der Computer sich aus Sicht des Determinismus nur im Komplexitätsgrad unterscheiden, dann hat entweder das Wissen um den Determinismus auch für den Menschen keine Relevanz oder aber, und das wäre meine Antwort, es hat einen Einfluss, aber keinen Mehrwert: Ein Regelkreislauf, der weiß, dass er ein Regelkreislauf ist, entscheidet aufgrund dieses Wissens nicht besser, höchstwahrscheinlich sogar nicht mal anders.
Da gebe ich dir recht. Ich meine auch, dass es für einen Menschen selbst gar nicht viel, vielleicht gar nichts, ändert, wenn er von sich selbst weiß (oder glaubt), dass seine Entscheidungen vollständig determiniert sind.
Mir geht es mehr um die Sicht auf die Mitmenschen.

Nanna hat geschrieben:Du kannst nicht einerseits fordern, dass man den Mördern aus der Objektperspektive als fehlfunktionierende Maschine begreift, die sich nicht bewusst für das Nicht-Morden entscheiden konnte, aber andererseits an den Rest von uns appellieren, dass wir uns bewusst für einen anderen Umgang mit dem Mörder entscheiden sollen.
Von bewusst oder unbewusst habe ich gar nicht gesprochen. Was die Fakten angeht, wäre es auch vollkommen gleichgültig, ob eine Entscheidung für eine Straftat bewusst oder unbewusst getroffen wurde. Es wäre aber für die Behandlung sehr wohl relevant, denn jemand, der im Affekt gemordet hat, sollte anders behandelt werden als jemand, der in Heimtücke gemordet hat.

Ich fordere hier auch eigentlich überhaupt nicht... oder? :lookwrong:
Was ich darlegen wollte, und da sind @ice und ich wohl einer Meinung, ist, dass mit einer deterministischen Sichtweise auf die Mitmenschen diesen leichter verziehen werden kann, als wenn man ihnen einen nicht-determinierten Willen oder gar Bösartigkeit unterstellt. Wenn man einsieht, dass der Mitmensch im Moment seiner Tat genausowenig für diese Tat konnte, wie ein Herd etwas dafür kann, dass er einem die Hand verbrennt, gelangt man vielleicht eher zu einem geduldigeren und gutmütigeren Umgang miteinander.
Dass dies nicht die zwingende oder logische Folge aus einer deterministischen Sichtweise sein muss, sehe ich auch so.

Nanna hat geschrieben:Warum ist die Determiniertheit ausgerechnet beim Mörder entscheidend? Warum sollte man von anderen Menschen fordern, dass sie sich von einer bestimmten Meinung über Mörder lösen (zu der sie laut Determinismus eigentlich gezwungen sind!), aber nicht vom Mörder, dass er sich von seiner Affinität zum Töten löst?
Wie gesagt, ich glaube, eine Forderung stand gar nicht im Raum.
Aber ja, natürlich fordert man von einem Mörder, sich von der Affinität zum Töten zu lösen. Warum sollte das von einer deterministischen Sichtweise beeinträchtigt werden? Schließlich könnte inständiges Bitten, Androhung von Gewalt oder eine religiöse Bekehrung den Täter dazu bringen, nicht mehr zu töten.

Nanna hat geschrieben:... denn es wird hier versucht, aus einer deskriptiven Theorie eine normative Handlungsanweisung abzuleiten, und dass das prinzipiell logisch widersprüchlich ist, hat Hume schon vor vierhundert Jahren gezeigt.
Ich weiß, dass du gerne auf den naturalistischen Fehlschluss verweist, oft auch richtigerweise. Aber hier liegt er meiner Ansicht nach nicht vor. Man kann auch aus Erkenntnissen über die Dinge normative Handlungsanweisungen ableiten, die keinen naturalistischen Fehlschluss darstellen. Beispielsweise die Erkenntnis, dass Homosexualität in der Natur ganz normal vorkommt und keine zu verteufelnde Sache ist, kann schlicht und einfach zu mehr Akzeptanz(-forderung) führen, ohne dass gefordert würde, so und so viele Menschen hätten homosexuell zu sein.

Nanna hat geschrieben:Weshalb dieser normative Determinismus, den ihr hier propagiert, eben in sich widersprüchlich und witzlos ist.
Nicht der Determinismus ist normativ, sondern aus einem deterministischen Verständnis ausgehend können andere/neue Voraussetzungen für die Entwicklung von Normen gebildet werden. Sieh es so wie eine naturwissenschaftliche Erkenntnis. Sie ist deskriptiv, nicht normativ, und dennoch kann sie bestehenden Normen die Grundlage entziehen - wie eben der Annahme, Homosexualität sei des Teufels.

Zusatz zur neuen Antwort @Nanna:
Nanna hat geschrieben:Ja, selbstverständlich werben wir hier. Das tun wir doch jedes Mal, wenn wir einen Beitrag verfassen, oder? :)
Wenn du alles funktionalistisch betrachten willst, warum ist dann das Schuldigsprechen als Mittel der sozialen Abschreckung problematisch, die Androhung des Einsperrens aber nicht? Beides sind potentielle Mittel der Tatvermeidung, beide haben ihren jeweiligen Einfluss auf den potentiellen (zukünftigen) Mörder. Warum nicht beide ausschöpfen? Weil "Schuld" so eine religiöse Patina hat, während das Einsperren so schön technisch-funktionialistisch aussieht und daher besser in den mechanistischen lifestyle des Deterministen passt? Dem wahren Deterministen, der kühl nach Aktion-Reaktion-Wirkmustern sucht, muss sowas doch eigentlich vollkommen egal sein.
Das stimmt. Nichtsdestoweniger bleibt auch das Eigeninteresse. Ich möchte nicht in einer Welt mit Einteilungen nach religiösen Moralvorstellungen leben. Ich möchte, dass man auch mir verzeiht, wenn ich mal etwas Blödes getan habe oder mich (vielleicht auf Basis schlechter Informationen) unglücklich entschieden habe. Wenn mir in solchen Fällen kein "böser Wille" unterstellt wird, sondern akzeptiert wird, dass die Umstände einfach unglücklich waren und ich um eine Erfahrung reicher bin, die mich beim nächsten Mal besser entscheiden lässt, halte ich das für ein humaneres Miteinander.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Do 9. Jan 2014, 20:06

Nanna hat geschrieben:Sagt man "Eine deterministische Weltsicht ist besser, weil...", so ist das eine normative Aussage mit grundsätzlich appellativem Charakter ("Folge auch du dieser Weltsicht!"). Gerade an dem Punkt, wo du für das Verständnis gegenüber dem determinierten Menschen wirbst, ist der Appell schwer wegzuleugnen. Ich hätte das aber vielleicht von Anfang an begrifflich besser klären sollen, als ich auf den Appell gekommen bin: Es erscheint mir relativ unplausibel, dass man eine Diskussion überhaupt ohne implizite Appelle führen kann. Wie etwa im Vier-Seiten-Modell deutlich wird, beinhalten Aussagen immer mehr an Inhalt als den unmittelbaren Sachaspekt. Unter Appell versteht man in diesem Zusammenhang relativ weitläufig, dass man beim Gegenüber etwas bewirken will. Das muss nicht heißen, dass man andere um jeden Preis von seiner Meinung überzeugen will (das unterstelle ich dir in diesem Ausmaß auch gar nicht), aber üblicherweise erwartet man schon - also ich jedenfalls -, dass die guten Gedanken, die man äußert, eine entsprechende Rezeption erfahren. Und noch komischer wäre es doch, wenn jemand aktiv ein Weltbild vertritt, das er als überlegen ansieht, dann aber keine Hoffnung hat, dass er Andere von den Vorzügen überzeugen kann. ;-)

Ich sage nicht, dass die deterministische Weltsicht besser als eine andere ist. Mein Anliegen war zu erfahren, was die Teilnehmer hier im Forum zu so einem Weltbild sagen. Insofern habe ich auf Feedback und Input gehofft, weil mich das Thema zur Zeit sehr interessiert.

Nanna hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Ich habe nur geschrieben, dass auch für Mörder und andere Straftäter die Tatsache gilt, dass sie zum Zeitpunkt der Straftat determiniert sind und sie nicht im herkömmlichen moralischen Sinn "schuldig" gesprochen werden sollen, weil sie nicht frei entscheiden konnten, sondern von unzähligen Einflussfaktoren festgelegt sind.

Wenn du alles funktionalistisch betrachten willst, warum ist dann das Schuldigsprechen als Mittel der sozialen Abschreckung problematisch, die Androhung des Einsperrens aber nicht? Beides sind potentielle Mittel der Tatvermeidung, beide haben ihren jeweiligen Einfluss auf den potentiellen (zukünftigen) Mörder. Warum nicht beide ausschöpfen? Weil "Schuld" so eine religiöse Patina hat, während das Einsperren so schön technisch-funktionialistisch aussieht und daher besser in den mechanistischen lifestyle des Deterministen passt? Dem wahren Deterministen, der kühl nach Aktion-Reaktion-Wirkmustern sucht, muss sowas doch eigentlich vollkommen egal sein.

Mich stört beim Begriff "Schuld" wirklich nur die "religiöse Patina". Als technisch-funktionalistisch sehe ich das Einsperren ganz und gar nicht. Es ist jedes Mal eine menschliche Tragödie (natürlich genauso wie die Straftaten selbst, wenn Menschen als Opfer davon betroffen sind). Ich sehe zwar wirklich meist abstrakte Aktion-Reaktion-Wirkmuster bei der komplexen Interaktion zwischen Menschen (und ihrer Umwelt), aber nur wenn ich als kühler Beobachter agiere und nicht, wenn ich selbst mit Menschen in Kontakt bin.

Nanna hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Noch einmal: ich appelliere an niemanden, meine Weltsicht zu teilen, sondern kommuniziere einfach. Ich habe auch keine Erlösungsfantasien und ziehe auch nicht durch die Welt und verkünde das Heil durch Determinismus.

Hab ich etwas dick aufgetragen? ;-)

Ja ;-)

Nanna hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Ich verschanze mich eben nicht in einem uneinnehmbaren Blockhaus, so wie ein Solipsist, sondern führe ein ziemlich normales Leben mit Familie und sozialen Kontakten - und stelle meine Weltsicht hier im Forum zur Diskussion, weil ich die Frage "Determinismus Ja/Nein?" für interessant und spannend halte.

Ich wollte dich nicht als verrückten Missionar hinstellen, falls du es so aufgefasst hast. Es tut mir leid, falls es so angekommen ist.

Naja, gewundert habe ich mich schon einwenig über das Beispiel von Schopenhauer und deinem Dadaismus-"Vorwurf" ;-)

Nanna hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Im täglichen Leben trennen wir ganz natürlich die Objekt- und Subjektperspektive, sonst wären wir gar nicht in der Lage, halbwegs konstistent und sinnvoll zu handeln. Aber in der philosophischen Reflexion können wir diese Trennung aufheben und die Welt ganzheitlich denken.

Da widerspreche ich, weil wir grundsätzlich nicht in der Lage sind, als Beobachter dritter Ordnung zu fungieren, also die Subjektposition zu verlassen und uns auf sicheren letztgültigen Grund zu stellen (Münchhausen-Trilemma).


Aber künstlerisch darstellen lässt sich die ganzheitliche Sichtweise auf die Objekt- und Subjektperspektive schon (deshalb habe ich die Zeichnung "Bildgalerie" von M.C.Escher gepostet)

Nanna hat geschrieben:Gefährlich wird es, wenn Begrifflichkeiten verschiedener Perspektiven nicht ausreichend reflektiert ineinander gemischt werden oder man Perspektiven generell leugnet - die Gefahr bei einem holistischen Ansatz, wenn man so tut, als könne man Perspektivengrenzen ignorieren, obwohl aus epistemologischer Sicht ja jetzt schon klar ist, das kein diskursives Wesen in diesem Universum das jemals im emphatischen Sinne können wird. Insbesondere die epistemologische Trennung von normativen und deskriptiven Äußerungen muss daher erhalten bleiben, sonst stapelt sich schnell Fehlschluss auf Fehlschluss.


Okay, da gebe ich dir Recht.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon AgentProvocateur » Do 9. Jan 2014, 21:12

Myron hat geschrieben:"Der kausale Determinismus besteht, grob gesagt, in der Idee, dass jedes Ereignis von vorangehenden Ereignissen und Bedingungen zusammen mit den Naturgesetzen ernötigt ("nezessitiert") wird."
[© meine Übers.]

http://plato.stanford.edu/entries/determinism-causal/

Ein Determinismus ohne Notwendigkeit ist keiner, wobei zwischen nomologischer/physikalischer Notwendigkeit (Naturnotwendigkeit, naturgesetzlicher Notwendigkeit) und ontologischer/metaphysischer Notwendigkeit ein Unterschied besteht.

Oh, ich würde da eher so unterscheiden: physikalische Notwendigkeit vs. nomologische/metaphysische/ontologische Notwendigkeit. Aber egal: welche Notwendigkeit ist hier gemeint? Eine physikalische oder eine metaphysische? Falls Letzteres unabdingbar für kausalen Determinismus ist, dann halte ich kausalen Determinismus für falsch, (denn ich glaube nicht an metaphysische Notwendigkeiten, bin ein Anhänger der Humeschen Metaphysik).
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon AgentProvocateur » Do 9. Jan 2014, 21:26

fopa hat geschrieben:Vielleicht einigen wir uns auf den Begriff der "Notwendigkeit", wenn das weniger Probleme mit sich bringt.

Meiner Ansicht nach gibt es keine metaphysischen Notwendigkeiten, darauf können wir uns also nicht einigen.

fopa hat geschrieben:Die ganze restliche Diskussion hatten wir ja schon mal geführt, weswegen ich nicht näher drauf eingehe. Bitte, das zu entschuldigen.
Ich bin aber recht sicher, dass wir (beide) in den meisten Punkten sogar vollkommen derselben Meinung sind und uns lediglich an unterschiedlichen Begrifflichkeiten aufhängen.

Kein Problem, im Gegenteil, ich habe mir den von Dir oben verlinkten kleinen Diskurs zwischen uns nochmal durchgelesen, wir müssen das nicht nochmal durchkauen, einmal reicht völlig.

Unser Dissens besteht in der Tat in unterschiedlichen Begrifflichkeiten. Genauer gesagt besteht er darin, was wir jeweils meinen, wie Begriffe gemeinhin verwendet werden, was Menschen unserer Ansicht nach meinen, wenn sie bestimmte Begriffe verwenden. Ich meine nach wie vor, dass Inkompatibilisten völlig auf dem Holzweg sind, wenn sie ihren Freiheitsbegriff (Determinismus und Freiheit seien nach dem landläufigen Freiheitsbegriff sich ausschließende Gegensätze) als den landläufigen darstellen und nach wie vor überzeugen mich dazu empirische Untersuchungen sehr viel mehr als lediglich persönliche Überzeugungen von Inkompatibilisten und seien die auch noch so stark. Ehrlich gesagt ist es mir sogar ein völliges Rätsel, wie ein aufgeklärter Mensch mehr Wert auf seine eigenen Überzeugungen legen kann (hier: was man gemeinhin unter "Freiheit" versteht) als auf empirische Untersuchungen dazu, wenn er das als Grundlage/als gültige Prämisse für eine Argumentation setzen will.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon AgentProvocateur » Do 9. Jan 2014, 21:53

ice hat geschrieben:Nenne mir ein Ereignis/Phänomen in der komplexen dynamischen Lebenswelt, die wir beobachten können, das nicht kausal geordnet ist und natürliche Ursachen, Vorbedingungen und eine Vorgeschichte hat, die für uns zugänglich und erforschbar ist.

Radioaktiver Zerfall.

ice hat geschrieben:Ich stelle hier ja kein Dogma auf, sondern beziehe mich auf Dinge und Phänomene, die wir tagtäglich beobachten können. Es passiert ein Ereignis X und wir wissen/ahnen, dass Y die Ursache ist. Wir beobachten das Phänomen A und können/wollen beschreiben, dass B die Ursache/Erklärung dafür ist. Diese kausalen Zusammenhänge sind mein Argument für den harten Determinismus (das habe ich aber schon in meinem Eingangsbeitrag in diesem Thread geschrieben).

Die Frage wäre hier wohl, ob und wie man aus beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten auf eine diesen intrinsische Notwendigkeit schließen kann. Per se evident ist das nicht, sogar im Gegenteil: so eine intrinsische Notwendigkeit kann prinzipiell nicht beobachtet werden. Siehe dazu auch Humesche Metaphysik. Metaphysisch sparsamer ist es auf jeden Fall, diese metaphysische Annahme nicht zu treffen. Fragt sich dann wohl, welchen unverzichtbaren Vorteil diese Annahme hat, was sie besser erklären kann oder so.

ice hat geschrieben:Wenn der Determinismus wahr ist, dann gibt es auch keine Freiheit bzw. sie ist eine Illusion.

Kommt wohl darauf an, was Du unter Freiheit verstehst. Ein Kompatibilist versteht dies darunter:

Vollbreit hat geschrieben:Frei soll bedeuten, aufgrund eigener Erwägungen und frei von äußeren und inneren Zwängen.

Was mit Determinismus problemlos vereinbar (kompatibel) ist.

Was ist Deine Definition von Freiheit?

Ich erwarte nun ehrlich gesagt, dass Du eine Definition von Freiheit hast, die sowohl keine positive Definition darstellt, als auch eine petitio principii enthält, (ungefähr so: "Determinismus und Freiheit sind sich ausschließende Gegensätze". Evtl. noch mit dem Zusatz: "ist doch klar, selbstverständlich, selbstevident"). Ich erwarte das deswegen, weil Inkompatibilisten erfahrungsgemäß immer so etwas in der Art sagen, wenn ich sie nach ihrer Freiheitsdefinition frage.

Aber ich lasse mich immer gerne positiv überraschen.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon AgentProvocateur » Do 9. Jan 2014, 22:21

ice hat geschrieben:Ich habe nur geschrieben, dass auch für Mörder und andere Straftäter die Tatsache gilt, dass sie zum Zeitpunkt der Straftat determiniert sind und sie nicht im herkömmlichen moralischen Sinn "schuldig" gesprochen werden sollen, weil sie nicht frei entscheiden konnten, sondern von unzähligen Einflussfaktoren festgelegt sind.

Erstens: wenn die Handlungen von jemandem hauptsächlich durch seine Überlegungen, Ansichten, Meinungen und Entscheidungen determiniert sind, dann erscheint es prima facie völlig unplausibel, diese Handlungen deswegen unfrei nennen zu wollen. Nach welchem Freiheitsbegriff wäre das auch plausibel? Wie wäre es auch nur im Ansatz denkbar, dass irgend eine Art von Indeterminismus hier etwas Wesentliches/Unverzichtbares hinzufügen könnte? Oder, wenn man einen wie auch immer gearteten Indeterminismus auch als Gegensatz zu Freiheit ansieht: wieso sagt man dann nicht gleich, dass man einen Begriff von Freiheit vertritt, der in jeder möglichen Welt logisch unmöglich ist, der keinen positiven Gehalt hat, notwendigerweise leer ist? Was soll dann aber der Hinweis auf Determinismus, das wäre dann nur ein red herring? Oder will der Inkompatibilist sagen, dass Überlegungen, Ansichten, Meinungen und Entscheidungen reine Epiphänomene wären, keine Auswirkungen hätten, sondern Handlungen nur und ausschließlich durch andere (äußere, nicht beeinflussbare, nicht dem Subjekt zugehörige) Faktoren bedingt werden? Oder will er sagen, dass nur dann Verantwortung zugewiesen werden dürfe, wenn es eine Letztverantwortung gäbe, wenn also alle handlungsentscheidenden Umstände durch den Akteur selber hervorgerufen/bestimmt wurden? Aber wenn so: dann wäre Determinismus ebenfalls ein red herring, denn das ist prinzipiell unmöglich.

Zweitens: Mörder und andere Straftäter werden im juristischen Sinne schuldig gesprochen, nicht in einem moralischen Sinne, was auch immer das heißen mag. Und "juristisch schuldig" bedeutet nicht mehr und nicht weniger als: "verantwortlich für einen juristisch festgelegten Normverstoß".

Und noch was: was ich in einer solchen Diskussion noch nie verstanden habe, ist die Motivation der Inkompatibilisten, falls die auf ein liberaleres/besseres/wie auch immer Strafrecht hinaus sind, ihre Ansicht hauptsächlich dadurch motiviert ist. Dieses angestrebte Ziel könnten sie viel besser durch eine direkte Diskussion über das Strafrecht erreichen, als über den Umweg über die Behauptung, die Welt sei determiniert und deswegen seien alle unfrei. Was mE eine unplausible und nicht nachvollziehbar begründbare Ansicht ist, aus den bereits genannten Gründen.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon AgentProvocateur » Do 9. Jan 2014, 22:54

fopa hat geschrieben:Was ich darlegen wollte, und da sind @ice und ich wohl einer Meinung, ist, dass mit einer deterministischen Sichtweise auf die Mitmenschen diesen leichter verziehen werden kann, als wenn man ihnen einen nicht-determinierten Willen oder gar Bösartigkeit unterstellt.

Wieso dieses und was hat das mit Determination zu tun? Nun fällt es leicht, jemandem zu verzeihen, der z.B. in der U-Bahn unabsichtlich auf den Fuß getreten ist oder nehmen wir jemanden mit Tourette-Syndrom, der, ohne dass er eine Kontrolle darüber hätte, zu einem anderen "Arschloch, Du dumme Sau" sagte. Das aber hat nichts mit Determinismus zu tun, sondern nur mit fehlender Absicht, woraus man weiter folgern kann, dass, im ersteren Falle, derjenige keine Absichten hat, weitere Unannehmlichkeiten zu bereiten und im zweiteren Falle, dass das nicht so gemeint ist. Mit Determinismus hat aber beides nichts zu tun. Und mit einem nicht-determinierten Willen auch nicht, ein nicht-determinierten Wille wäre wohl eher so einzuschätzen wie das Beispiel mit dem mit Tourette-Syndrom.

Böswilligkeit wäre, wenn im ersten Beispiel derjenige mit voller Absicht auf den Fuß getreten wäre, mit der Absicht, zu verletzen. In dem Falle wäre man gut beraten, ihm das nicht einfach zu verzeihen, (und noch den anderen Fuß zum Drauftreten hinzuhalten), sondern ihm das übel zu nehmen und sich vor weiteren Verletzungen zu schützen.

fopa hat geschrieben:Wenn man einsieht, dass der Mitmensch im Moment seiner Tat genausowenig für diese Tat konnte, wie ein Herd etwas dafür kann, dass er einem die Hand verbrennt, gelangt man vielleicht eher zu einem geduldigeren und gutmütigeren Umgang miteinander.

Aber Menschen sind keine Herde, keine bewusstlosen Dinge, sie haben Absichten etc. Es ist klug, zu versuchen, diese zu erkennen, davon kann sogar das eigene Leben abhängen, oder aber zumindest Gesundheit, Wohlstand und was auch immer. Ein heißer Herd verbrennt immer Deine Hand, Menschen sind nicht nicht immer freundlich oder unfreundlich zu Dir. Und der Mensch kann sehr wohl in bestimmten Situationen etwas für seine Handlungen, es ist sehr nützlich, erkennen zu können, wann das der Fall ist und wann nicht. Siehe oben das Beispiel mit dem auf-den-Fuß-treten. Und wie gesagt, hat all das nichts mit Determinismus oder Nicht-Determinismus zu tun, (mit einer kleinen Einschränkung allerdings: in einer vollständig nicht-determinierten Welt könnte es keinerlei Vorhersagen geben).
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Nanna » Fr 10. Jan 2014, 03:50

fopa hat geschrieben:Mir geht es mehr um die Sicht auf die Mitmenschen.

Das ist auch ok, nur verstehe ich nicht, wo darin der Determinismus irgendeine Rolle spielt.

fopa hat geschrieben:Was ich darlegen wollte, und da sind @ice und ich wohl einer Meinung, ist, dass mit einer deterministischen Sichtweise auf die Mitmenschen diesen leichter verziehen werden kann, als wenn man ihnen einen nicht-determinierten Willen oder gar Bösartigkeit unterstellt. Wenn man einsieht, dass der Mitmensch im Moment seiner Tat genausowenig für diese Tat konnte, wie ein Herd etwas dafür kann, dass er einem die Hand verbrennt, gelangt man vielleicht eher zu einem geduldigeren und gutmütigeren Umgang miteinander.
Dass dies nicht die zwingende oder logische Folge aus einer deterministischen Sichtweise sein muss, sehe ich auch so.

Dann verstehe ich nicht ganz, warum sie für dich ein Grund darstellt, so zu denken. Ich bin grundsätzlich ein großer Fan einer geduldigen, wohlwollenden und konstruktiven Haltung gegenüber den Mitmenschen, aber doch nun wirklich aus anderen Gründen. Nicht, dass es mein Platz wäre, jemandem vorzuschreiben, auf welcher Schiene er in so eine Haltung hineinrutscht, aber so recht nachvollziehen kann ich das nicht, zumal es wirklich bessere Gründe gibt. Man kann Wohlwollen, Verzeihen und Deeskalation als Werte an sich betrachten, man kann einsehen, dass die Welt dann am schnellsten besser wird, wenn jeder bei sich selbst anfängt, usw. Es gibt wirklich genug Sachen, die viel direkter so eine Haltung begründen, von daher komme ich einfach nicht ganz mit.

fopa hat geschrieben:Aber ja, natürlich fordert man von einem Mörder, sich von der Affinität zum Töten zu lösen. Warum sollte das von einer deterministischen Sichtweise beeinträchtigt werden? Schließlich könnte inständiges Bitten, Androhung von Gewalt oder eine religiöse Bekehrung den Täter dazu bringen, nicht mehr zu töten.

Und worin genau unterscheidet sich dieses Vorgehen dann von dem, das wir jetzt auch schon haben, wo wir den Determinismus nicht dauernd explizieren? Die Idee war doch, durch das Wissen um den Determinismus eine andere Herangehensweise an Straftäter zu finden. Nun sagst du mir, dass sich durch den Determinismus eigentlich nichts ändert. Gut, aber warum thematisieren wir den Determinismus dann überhaupt, wenn es ganz offensichtlich prima ohne geht? Wie Agent schon sagt: Wenn dich die Haltung der Gesellschaft gegenüber Straftätern stört: Warum reden wir dann nicht lieber über das Strafrecht und die Bedingungen einer gelungenen Resozialisierung?

fopa hat geschrieben:Man kann auch aus Erkenntnissen über die Dinge normative Handlungsanweisungen ableiten, die keinen naturalistischen Fehlschluss darstellen. Beispielsweise die Erkenntnis, dass Homosexualität in der Natur ganz normal vorkommt und keine zu verteufelnde Sache ist, kann schlicht und einfach zu mehr Akzeptanz(-forderung) führen, ohne dass gefordert würde, so und so viele Menschen hätten homosexuell zu sein.

Rein logisch lässt sich aus der Beobachtung von homosexuellem Verhalten in der Natur nur folgern, dass es nicht "unnatürlich" ist, wie es von manchen Religiösen behauptet wird, die ein Ersatzargument für Leute suchen, bei denen Bibel- und Koranverse nicht ziehen. Dennoch folgt nicht aus der Beobachtung, dass Homosexualität keine zu verteufelnde Sache wäre. Es gibt gute Gründe dafür, Homosexualität als normale, unbedenkliche sexuelle Orientierungsmöglichkeit des Menschen zu betrachten, aber die liegen nicht in der Empirie. Empirisch gesehen gibt es im Tierreich auch Kindsmord, Kannibalismus, Vergewaltigung und generell jede Menge Tötung und Gewalt, und in keinem dieser Fälle ziehen wir das als Argument für die Unbedenklichkeit dieser Verhaltensweisen zurate. Es gibt keinen logischen Grund, das bei der Homosexualität anders zu handhaben, außer eben als Defensive gegen Vorwürfe der Unnatürlichkeit. Das ist aber etwas anderes, weil da ganz im Sinne des Kritischen Rationalismus die These "Homosexualität ist unnatürlich" empirisch getestet und verworfen wird, aber eben kein Werturteil formuliert wird.

Worauf du vermutlich hinaus willst, ist, dass die Empirie für Normativität nicht irrelevant ist. Das stimmt, hat aber auch niemand bezweifelt, würde ich sagen. Im Falle der Homosexualität kann man die Verbreitung im Tierreich ja auch sicherlich als Anhaltspunkt nehmen, eine ablehnende Meinung zu überdenken, aber zwischen dem und einer logischen Notwendigkeit besteht eben ein recht großer Unterschied.

fopa hat geschrieben:Nicht der Determinismus ist normativ, sondern aus einem deterministischen Verständnis ausgehend können andere/neue Voraussetzungen für die Entwicklung von Normen gebildet werden. Sieh es so wie eine naturwissenschaftliche Erkenntnis. Sie ist deskriptiv, nicht normativ, und dennoch kann sie bestehenden Normen die Grundlage entziehen - wie eben der Annahme, Homosexualität sei des Teufels.

Gut, da sind wir uns einig, denke ich. Allerdings können empirische Widerlegungen sich eben immer nur gegen empirische Behauptungen richten. Wenn aber, wie im Falle des Mörders, der Tathergang unstrittig ist, dann stellt sich die Frage, was das deterministische Verständnis der Situation nun noch ändern soll. Die Norm "Mord ist illegal" an die empirische Wirklichkeit des Mordens anzupassen kann ja nicht das Ziel sein, also wird sanktioniert und zwar egal, ob man nun Kompatibilist oder Inkompatibilist ist - weshalb ich auch hier wieder feststellen muss, dass ich die Relevanz des Determinismus für dieses Thema einfach nicht sehen kann.

fopa hat geschrieben:Nichtsdestoweniger bleibt auch das Eigeninteresse. Ich möchte nicht in einer Welt mit Einteilungen nach religiösen Moralvorstellungen leben.

Das finde ich vollkommen ok, nur solltest du bessere alternative Normbegründungen aufzustellen als den Inkompatibilismus, der da wirklich auf äußerst arbiträre Weise hineingezogen wird und eigentlich in diesem ganzen Streit nur nutzlos herumsteht wie bestellt und nicht abgeholt. Es gibt im Fundus rein diesseitiger Philosophien so viele Moraltheorien, dass ich mir sicher bin, dass du weitaus Besseres als diesen Determinismusverschnitt findest.

fopa hat geschrieben:Ich möchte, dass man auch mir verzeiht, wenn ich mal etwas Blödes getan habe oder mich (vielleicht auf Basis schlechter Informationen) unglücklich entschieden habe. Wenn mir in solchen Fällen kein "böser Wille" unterstellt wird, sondern akzeptiert wird, dass die Umstände einfach unglücklich waren und ich um eine Erfahrung reicher bin, die mich beim nächsten Mal besser entscheiden lässt, halte ich das für ein humaneres Miteinander.

Du hattest mir oben zu Recht auseinandergesetzt, dass die bewusste bzw. unbewusste Entscheidung für die Determiniertheit keine Rolle spielt, das ist im Prinzip dasselbe wie das Versehen und der böse Wille. Agent hat dazu ja auch etwas gesagt, das fand ich auch recht lesenswert.

Wir sind uns auf der menschlichen Seite absolut einig, wie man miteinander umgehen sollte, nur muss man wirklich kein Inkompatibilist werden, um Nachsicht mit jemandem zu zeigen. Das ist eine menschliche Regung und ein sozialer Schmierstoff, der meines Erachtens auf ganz anderen Grundlagen fußt und den sich normalerweies auch kaum jemand so umständlich über den Determinismus herleiten wird.

ice hat geschrieben:Mein Anliegen war zu erfahren, was die Teilnehmer hier im Forum zu so einem Weltbild sagen. Insofern habe ich auf Feedback und Input gehofft, weil mich das Thema zur Zeit sehr interessiert.

Ich hoffe, du wurdest nicht enttäuscht. ;-)

ice hat geschrieben:Mich stört beim Begriff "Schuld" wirklich nur die "religiöse Patina".

Warum stört sie dich so sehr? Und dann gibt es mit der "Verantwortung" doch auch eine säkularisierte Version, die nicht derart vor Entwertung und Selbstkasteiung trieft.

ice hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Ich wollte dich nicht als verrückten Missionar hinstellen, falls du es so aufgefasst hast. Es tut mir leid, falls es so angekommen ist.

Naja, gewundert habe ich mich schon einwenig über das Beispiel von Schopenhauer und deinem Dadaismus-"Vorwurf" ;-)

Ich glaube, ich habe hier im Forum in den letzten Jahren zu häufig zu penetrante Determinismus-Lobhudeleien gelesen und daher dann wohl gleich instinktiv ordentlich aufmunitioniert. Das hat aber mit dir eigentlich gar nichts zu tun, du bist einfach nichtsahnend ins Sperrfeuer gelaufen. Dafür entschuldige mich an dieser Stelle.

ice hat geschrieben:Aber künstlerisch darstellen lässt sich die ganzheitliche Sichtweise auf die Objekt- und Subjektperspektive schon (deshalb habe ich die Zeichnung "Bildgalerie" von M.C.Escher gepostet)

Künstlerisch darf man eh machen, was man will, und muss sich um logische Konsistenz nicht die Bohne scheren. Man hat außerdem das Privileg, bestimmte Aspekte im Ungefähren und der Interpretation des Betrachters zu belassen. Deshalb ist Kunst ja auch eine echte Bereicherung, weil die harten Disziplinen der Wissenschaft und Philosophie sich halt bei aller Erklärungsgewalt doch schwer tun, allen Belangen unserer Existenz auf für uns befriedigende Weise gerecht zu werden.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ujmp » Fr 10. Jan 2014, 08:08

Nanna hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Mir geht es mehr um die Sicht auf die Mitmenschen.

Das ist auch ok, nur verstehe ich nicht, wo darin der Determinismus irgendeine Rolle spielt.

fopa hat geschrieben:Was ich darlegen wollte, und da sind @ice und ich wohl einer Meinung, ist, dass mit einer deterministischen Sichtweise auf die Mitmenschen diesen leichter verziehen werden kann, als wenn man ihnen einen nicht-determinierten Willen oder gar Bösartigkeit unterstellt. Wenn man einsieht, dass der Mitmensch im Moment seiner Tat genausowenig für diese Tat konnte, wie ein Herd etwas dafür kann, dass er einem die Hand verbrennt, gelangt man vielleicht eher zu einem geduldigeren und gutmütigeren Umgang miteinander.
Dass dies nicht die zwingende oder logische Folge aus einer deterministischen Sichtweise sein muss, sehe ich auch so.

Dann verstehe ich nicht ganz, warum sie für dich ein Grund darstellt, so zu denken. Ich bin grundsätzlich ein großer Fan einer geduldigen, wohlwollenden und konstruktiven Haltung gegenüber den Mitmenschen, aber doch nun wirklich aus anderen Gründen. Nicht, dass es mein Platz wäre, jemandem vorzuschreiben, auf welcher Schiene er in so eine Haltung hineinrutscht, aber so recht nachvollziehen kann ich das nicht, zumal es wirklich bessere Gründe gibt. Man kann Wohlwollen, Verzeihen und Deeskalation als Werte an sich betrachten, man kann einsehen, dass die Welt dann am schnellsten besser wird, wenn jeder bei sich selbst anfängt, usw. Es gibt wirklich genug Sachen, die viel direkter so eine Haltung begründen, von daher komme ich einfach nicht ganz mit.

Du betonst moralische Gründe und sie kausale. Ich behaupte mal, dass es nicht wirklich möglich ist, sich überhaupt irgend etwas ohne "Grund" vorzustellen. Wir können uns nicht zugleich vorstellen, dass unser bewusstes Handeln nicht von unserem Willen abhängt und dass es auch keine äußere Ursache hat. Soziobiologen könnten dir außerdem vermutlich im Detail nachweisen, dass der Grund für deine Moral die Optimierung von Reproduktionschancen ist und dass deine Überlegungen darüber reines "Sprachverhalten" sind. "Ursache" und "Grund" sind Begriffe, die vermutlich auf der selben Art Erfahrung beruhen, nämlich dass bestimmte Klassen von Ereignissen in regelmäßigen Mustern aufeinander folgen. Es sind doch ziemlich austauschbare Begriffe!
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Fr 10. Jan 2014, 09:09

AgentProvocateur hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Nenne mir ein Ereignis/Phänomen in der komplexen dynamischen Lebenswelt, die wir beobachten können, das nicht kausal geordnet ist und natürliche Ursachen, Vorbedingungen und eine Vorgeschichte hat, die für uns zugänglich und erforschbar ist.

Radioaktiver Zerfall.


Die Frage lautet ja: Was löst den Zerfall des Atoms gerade jetzt aus? Die Antwort: Wir wissen es nicht. Und die Quantenphysik postuliert: Wir wissen es prinzipiell nicht. Sie verbietet quasi die Vorstellung irgendeines "Mechanismus", wodurch an einem bestimmten Zeitpunkt das Zerbrechen ausgelöst wird. Es gibt einfach laut Quantentheorie nichts, was den Zerfall auslöst. Es ist reiner, purer, absoluter Zufall.
Trotzdem lässt sich mit Gewissheit mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorhersagen, dass zB bei einer Menge von einer Milliarde radioaktiver Kohlenstoffatome nach exakt 5728 Jahren 500 Millionen zerfallen sein werden, nach weiteren 5728 Jahren zusätzlich 250 Mill. zerfallen sein werden usw. usf. Diese 5728 Jahren nennen wir dann die Halbwertszeit des radioaktiven Kohlenstoffs. Radioaktives Uran hat zB eine Halbwertszeit von 4,47 Mrd. Jahren.
Die Quantentheorie postuliert nun, dass nicht nur alle radioaktive Zerfälle, sondern im Grunde alle Naturprozesse, auf dem perfekten Zufall beruhen. Und genau das bezweifle ich, weil ich einfach philosophisch nicht verstehe, was ein reiner, purer, blinder, perfekter, absoluter Zufall sein soll.

AgentProvocateur hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Wenn der Determinismus wahr ist, dann gibt es auch keine Freiheit bzw. sie ist eine Illusion.

Kommt wohl darauf an, was Du unter Freiheit verstehst. Ein Kompatibilist versteht dies darunter:

Vollbreit hat geschrieben:Frei soll bedeuten, aufgrund eigener Erwägungen und frei von äußeren und inneren Zwängen.

Was mit Determinismus problemlos vereinbar (kompatibel) ist.

Was ist Deine Definition von Freiheit?

Ich erwarte nun ehrlich gesagt, dass Du eine Definition von Freiheit hast, die sowohl keine positive Definition darstellt, als auch eine petitio principii enthält, (ungefähr so: "Determinismus und Freiheit sind sich ausschließende Gegensätze". Evtl. noch mit dem Zusatz: "ist doch klar, selbstverständlich, selbstevident"). Ich erwarte das deswegen, weil Inkompatibilisten erfahrungsgemäß immer so etwas in der Art sagen, wenn ich sie nach ihrer Freiheitsdefinition frage.

Aber ich lasse mich immer gerne positiv überraschen.


Ich kann mich durchaus anschließen an deiner und @Vollbreits Definition von Freiheit, weil ich das "Gefühl" kenne, frei von äußeren und inneren Zwängen erwägen, überlegen und reflektieren zu können. Zu diesem "Gefühl" kommt aber jetzt meine Vermutung, dass dieses bewusste Erwägen, Überlegen und Reflektieren ein determinierter Prozess ist, wie andere unbewusste Prozesse im Gehirn und physikalische Prozesse in der Umwelt auch. Nur können wir diese Determiniertheit unseres Bewusstseins nicht wirklich denken, weil wir ja ständig das "Gefühl" der Freiheit bei unseren Entscheidungen haben. Ich halte nun dieses "Gefühl" der Freiheit für eine von unserem Gehirn "gemachte" Illusion/Täuschung. Diese Illusion/Täuschung ist eng verknüpft an unser subjektives "Ich"-Bewusstsein, das ich ebenfalls für eine Täuschung halte. Aber mir ist schon klar: über sieben Milliarden Menschen sagen "Ich" zu sich selber und die meisten von ihnen fühlen sich frei in ihren täglichen Entscheidungen. Das wird sich auch nicht ändern...
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon fopa » Fr 10. Jan 2014, 09:10

Tja, nun bin ich irgendwie, warum auch immer, in der Inkompatibilisten-Ecke gelandet. :sauer:
Ich werde mal versuchen, mich da wieder rauszuboxen. :boxen:

Nanna hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Mir geht es mehr um die Sicht auf die Mitmenschen.

Das ist auch ok, nur verstehe ich nicht, wo darin der Determinismus irgendeine Rolle spielt.
Ich sehe ihn als eine mögliche Grundlage, von der aus man zu einem "besseren" Miteinander kommen kann.
Diese Aussage impliziert, dass auch andere Weltvorstellungen dies leisten können, und dass man vom Determinismus ausgehend auch zu anderen Schlussfolgerungen kommen kann.

Nanna hat geschrieben:Man kann Wohlwollen, Verzeihen und Deeskalation als Werte an sich betrachten, man kann einsehen, dass die Welt dann am schnellsten besser wird, wenn jeder bei sich selbst anfängt, usw. Es gibt wirklich genug Sachen, die viel direkter so eine Haltung begründen, von daher komme ich einfach nicht ganz mit.
Durchaus. Aber vielleicht möchte ja jemand, der diese Werte hochhalten möchte, sie auch mit seiner ontologischen Vorstellung vereinbaren und sie darin begründen können. Das könnte insbesondere für Deterministen gelten, da dessen Konsequenz auf den ersten Blick Fatalismus und Relativismus zu sein scheint.

Im Übrigen bin ich, wie ich in diesem Thread schon anfangs erwähnt hatte, gar kein "gläubiger Determinist". Es fällt mir nur schwer, etwas anderes für plausibel zu halten. Deswegen halte ich es aber nicht für unmöglich.

Nanna hat geschrieben:Gut, aber warum thematisieren wir den Determinismus dann überhaupt, wenn es ganz offensichtlich prima ohne geht?
Die Diskussion um die gesellschaftlichen Konsequenzen ist ja erst später dazugekommen. Zu Beginn hat @ice ja lediglich seine Weltsicht dargelegt und nach Meinungen dazu gefragt.

Nanna hat geschrieben:Worauf du vermutlich hinaus willst, ist, dass die Empirie für Normativität nicht irrelevant ist. Das stimmt, hat aber auch niemand bezweifelt, würde ich sagen. Im Falle der Homosexualität kann man die Verbreitung im Tierreich ja auch sicherlich als Anhaltspunkt nehmen, eine ablehnende Meinung zu überdenken, aber zwischen dem und einer logischen Notwendigkeit besteht eben ein recht großer Unterschied.
Genau. Von logischer Notwendigkeit hat ja auch niemand gesprochen, oder?

Jetzt der Versuch eines Befreiungsschlags... :boxen:
Nanna hat geschrieben:Wir sind uns auf der menschlichen Seite absolut einig, wie man miteinander umgehen sollte, nur muss man wirklich kein Inkompatibilist werden, um Nachsicht mit jemandem zu zeigen.
An welcher Stelle habe ich mich denn als Inkompatibilist dargestellt?
Was ich geäußert habe, ist mein Nichteinverständnis mit dem Begriff des "freien Willens" der Kompatibilisten. Das macht mich aber nicht zu einem Inkompatibilisten in dem Sinne, dass ich Lebewesen mit Bewusstsein dieses Bewusstsein oder das Gefühl "freier" Entscheidungsfähigkeit absprechen würde.

AgentProvocateur hat geschrieben:Ich meine nach wie vor, dass Inkompatibilisten völlig auf dem Holzweg sind, wenn sie ihren Freiheitsbegriff (Determinismus und Freiheit seien nach dem landläufigen Freiheitsbegriff sich ausschließende Gegensätze) als den landläufigen darstellen und nach wie vor überzeugen mich dazu empirische Untersuchungen sehr viel mehr als lediglich persönliche Überzeugungen von Inkompatibilisten und seien die auch noch so stark.
Ja, genau um diesen Begriff geht es. Wenn mit Freiheit das Gefühl von Freiheit gemeint ist, bin ich mit dem Begriff vollkommen einverstanden. Letztlich ist es das ja auch, was Hume meint... denke ich.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Fr 10. Jan 2014, 17:20

ice hat geschrieben:Ich spreche im Prinzip jeden Menschen diese Einsichtsfähigkeit und dieses Augenmaß zu - auch einem Täter (Ausnahmen hast du selbst genannt). Wie erklärt man sich jetzt diese allgemeine Einsichtsfähigkeit, dieses Augenmaß im (Be)Urteilen? Interessante Frage.

Noch interessanter ist, dass Du Einsichtigfähigkeit nicht gleichzeitig zu- und absprechen kannst.
Wenn wir uns einig sind, dass es Ausnahmen von der Regeln gibt, dann sollten wir uns auch einig sein, dass es eine Regel gibt und die lautet einfach, dass wir voneinander stillschweigend erwarten, dass wir wissen, was wir tun und Verantwortung übernehmen.

Das muss nichts Großes sein, Post rausnehmen und Blumen gießen, wenn der Nachbar im Urlaub ist, wissen, wie man ein Essen kocht, freundlich ist, wie man sich beim Bäcker verhält... und wir haben einen sehr genauen Sensor für Abweichungen. Und da sollen wir nur Statisten, stumme und ohnmächtige Beobachter unserer eigenen Handlungen sein?
Zuletzt geändert von Vollbreit am Fr 10. Jan 2014, 18:04, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Fr 10. Jan 2014, 17:40

ujmp hat geschrieben:Soziobiologen könnten dir außerdem vermutlich im Detail nachweisen, dass der Grund für deine Moral die Optimierung von Reproduktionschancen ist und dass deine Überlegungen darüber reines "Sprachverhalten" sind.

Ich halt' dagegen. Nenn' mal die Gründe.

ujmp hat geschrieben:"Ursache" und "Grund" sind Begriffe, die vermutlich auf der selben Art Erfahrung beruhen, nämlich dass bestimmte Klassen von Ereignissen in regelmäßigen Mustern aufeinander folgen. Es sind doch ziemlich austauschbare Begriffe!
Ziemlich, aber nicht austauschbar.
Einen Grund zu haben impliziert ein Motiv, eine Intention zu haben, eine Ursache nicht.
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon Vollbreit » Fr 10. Jan 2014, 18:01

ice hat geschrieben:Ich kann mich durchaus anschließen an deiner und @Vollbreits Definition von Freiheit, weil ich das "Gefühl" kenne, frei von äußeren und inneren Zwängen erwägen, überlegen und reflektieren zu können. Zu diesem "Gefühl" kommt aber jetzt meine Vermutung, dass dieses bewusste Erwägen, Überlegen und Reflektieren ein determinierter Prozess ist, wie andere unbewusste Prozesse im Gehirn und physikalische Prozesse in der Umwelt auch.

Hier fehlt ein wichtiges Komma.
Entweder Du willst sagen „...wie andere, unbewusste Prozesse …“, dann kann der Kompatibilist abnicken und sagen: Ja, auch Erwägen, Überlegen und Reflektieren sind determiniert (oder könnten es zumindest sein) . Aber Freiheit und Determinismus schließen einander ja auch nicht aus.

Willst Du aber sagen „...wie andere unbewusste Prozesse …“, dann würde ich sagen, dass „dieses bewusste Erwägen, Überlegen und Reflektieren“ eben nicht unbewusst ist.

ice hat geschrieben:„Nur können wir diese Determiniertheit unseres Bewusstseins nicht wirklich denken, weil wir ja ständig das "Gefühl" der Freiheit bei unseren Entscheidungen haben.
Doch wir können das denken, vielleicht nicht bis ins Detail, aber prinzipiell schon.
Und ich meine, dass wir frei sind und nicht einfach nur so ein Gefühl haben.
Wie Agent schon anmerkte, Du musst sagen, was Freiheit für Dich ist, dann kann man schauen, wo die Unterschiede liegen.

ice hat geschrieben:Ich halte nun dieses "Gefühl" der Freiheit für eine von unserem Gehirn "gemachte" Illusion/Täuschung.

Ich nicht, denn ich glaube nicht an dieses Gefühl.
Wo liegt denn für Dich der Unterschied zwischen gefühlter und wahrer Freiheit?

ice hat geschrieben:Diese Illusion/Täuschung ist eng verknüpft an unser subjektives "Ich"-Bewusstsein, das ich ebenfalls für eine Täuschung halte.

Ich halte unser Ichbewusstsein für das einzige, dessen wir uns überhaupt sicher sein können.
Ich kann mir jetzt kein Szenario denken, in dem ich nicht vorkomme. Auch wenn ich über meinen Tod nachdenke oder darüber, was wäre, wenn ich nie geboren worden wäre, so kann ich das nur jetzt tun, vor dem zweifelsfreien Hintergrund meiner Existenz und das ist eine Denkende und also kann ich sagen, dass ich existiere.

ice hat geschrieben:Aber mir ist schon klar: über sieben Milliarden Menschen sagen "Ich" zu sich selber und die meisten von ihnen fühlen sich frei in ihren täglichen Entscheidungen. Das wird sich auch nicht ändern...
Nein, es geht nicht um Mehrheitsargumente, das ist reine Logik.
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Vollbreit
 
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Re: Harter atheistischer Determinismus

Beitragvon ice » Fr 10. Jan 2014, 18:53

Vollbreit hat geschrieben:
ice hat geschrieben:Ich spreche im Prinzip jeden Menschen diese Einsichtsfähigkeit und dieses Augenmaß zu - auch einem Täter (Ausnahmen hast du selbst genannt). Wie erklärt man sich jetzt diese allgemeine Einsichtsfähigkeit, dieses Augenmaß im (Be)Urteilen? Interessante Frage.

Noch interessanter ist, dass Du Einsichtigfähigkeit nicht gleichzeitig zu- und absprechen kannst.
Wenn wir uns einig sind, dass es Ausnahmen von der Regeln gibt, dann sollten wir uns auch einig sein, dass es eine Regel gibt und die lautet einfach, dass wir voneinander stillschweigend erwarten, dass wir wissen was wir tun und Verantwortung übernehmen.


Da sind wir uns ja vollkommen einig. Auch ich befolge diese Regel meistens - weiß (hoffentlich) was ich tue und trage Verantwortung (im Rahmen meines Handlungsspielraums). Aber ich weiß auch, dass diese Fähigkeit/Regel nicht vom Himmel gefallen ist, sondern sie ist uns im persönlichen Umfeld beigebracht worden: von den Eltern in der Erziehung , während der Ausbildung - also während des Sozialisierungsprozesses in unserem Kulturraum mit Traditionen/Konventionen. Auf all diese Einflüsse hat keiner eine Wahl. Nun kommt irgendwann der Zeitpunkt (bei einem früher, beim anderen später oder gar nicht), wo man über all diese Dinge nachdenken/reflektieren kann. Und dann kann gefragt werden, wie bin ich zu dem geworden, der ich bin. Wenn dann noch das Glück hinzukommt, dass man (sehr viel) Zeit zum Lesen und Kommunizieren hat, dann kommt man vielleicht zu der Einsicht, dass vieles von dem, wie man ist (mit all den Fähigkeiten und Regeln zum Handeln), festgelegt war/ist. Von da ist es dann nur ein kleiner Sprung zu der (seltsamen) Idee des allumfassenden Determinismus.

Vollbreit hat geschrieben:Das muss nichts Großes sein, Post rausnehmen und Blumen gießen, wenn der Nachbar im Urlaub ist, wissen, wie man ein Essen kocht, freundlich ist, wie man sich beim Bäcker verhält... und wir haben einen sehr genauen Sensor für Abweichungen.


Ja, die meisten Menschen, die ich kenne bzw. mit denen ich in Kontakt trete, sind freundlich, hilfsbereit und nett. Wir haben in der Tat einen sehr genauen und feinen Sensor für Abweichungen aller Art. Aber könnte nicht auch diese Sensibilität eine Fähigkeit sein, die sich im Leben ganz automatisch entwickelt (hat)?

Vollbreit hat geschrieben:Und da sollen wir nur Statisten, stumme und ohnmächtige Beobachter unserer eigenen Handlungen sein?


Wir sind eben nicht nur Statisten oder Zuschauer, sondern auch Akteure auf der Lebensbühne. Wir handeln aktiv und haben die Fähigkeit, dieses Handeln zu beobachten und zu reflektieren.

"Zeitlebens sind wir in der Lage von Leuten, die zu spät ins Theater kommen - in einem Zwischenakt wird die Tür noch einmal halb geöffnet, wir zwängen uns atemlos in den Raum und suchen im Dunkeln nach dem eigenen Platz. Den Anfang der Handlung haben wir verpasst, und für den Augenblick kann nicht mehr geschehen, als dass wir von nun an ihrem Gang so aufmerksam wie möglich folgen."
(Peter Sloterdijk in "Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen", S. 12)
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