Anarchie

Re: Anarchie

Beitragvon laie » Di 30. Apr 2013, 14:13

@ujmp
da haben wir uns missverstanden.Mit "Glaubenssache" meinte ich die These, dass der aufgeklärte, säkulare Atheismus westlicher Prägung nicht unwesentlich christlich geprägt ist. Dass mit dem Christentum zum einen aus einem Weltenherrscher plötzlich ein schwacher Mensch wird und zum anderen eine Abkehr von sakralen Geboten vollzogen wird (Samariter-Geschichte, Sabbatfrage, Ährenraufen usw.), hat für mich einen ganz starken Einfluss auf die abendländische Geistesgeschichte ausgeübt. Ebenso das Bekenntnis, dass nichts geglaubt werden kann, was man mit Vernunft und Wissenschaft verstehen kann. Dieses Bekenntnis hat die Axt an die heiligen Haine gelegt mit ihren Naturgeistern, Schlagwort "der grosse Pan ist tot". Dazu kommen noch Ideen wie Gleichheit aller Menschen (Katholizität) und daraus folgend, dass alle Menschen einen Anspruch auf Zuwendung haben. Hans Maier schrieb dazu sinngemäß: "Natürlich gab es auch in der vorchristlichen Welt Ärzte, aber eben keine Krankenhäuser" (zitiert nach "Welt ohne Christentum, was wäre anders").

Was würde geschehen, wenn all das nicht mehr tradiert würde, in welcher Form und von wem auch immer? Ich kann mir das Ergebnis nicht vorstellen. Mit Form meine ich, dass ich nicht in die Kirche zu gehen brauche, um diese mächtigen Ideen weiterzutragen und mit "wem" meine ich, dass nicht nur Christen diese Ideen weitertragen.

ujmp hat geschrieben:Nein, das ist "Willenssache" oder ganz profan ausgedrückt "Geschmackssache". Schopenhauer nannte das den "Grund des Willens". Bestimmte Vorstellungen lassen sich nicht weiter hinterfragen, sagen wir mal z.B. dass man leben möchte. Wenn ein Mensch erst Mal satt ist und nicht friert, fallen ihm noch viele andere Dinge ein, die er will. Der Grund dafür ist letztlich der eigene Organismus, der in unserem Bewusstsein als Wollen zum Ausdruck kommt. Dass wir zwar tun können, was wir wollen, aber nicht wollen können, was wir wollen, macht das Wollen etwas mysteriös. Diese Erklärung wird daher nicht akzeptiert. Die Menschen vergeistigen das lieber in irgendeinem gezirkelten -ismus.


Ich verstehe. Glaube ich jedenfalls. Also ich kann tun, was ich will ("in die Küche gehen und ein Bier holen"), aber ich kann nicht wollen, was ich will ("in die Küche gehen und ein Bier holen")? Kannst du mir das bitte einmal auseinandersetzen, vielleicht verstehe ich es dann besser.
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Di 30. Apr 2013, 18:44

provinzler hat geschrieben:Manche versprechen sich die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse vom Staat (zum Beispiel den Wunsch Verantwortung fürs eigene Leben abzugeben, und dafür die Absolution zu bekommen) und beten diesen mit einem Fanatismus an, der Fundamentalisten der verschiedenen Religionen in nichts nachsteht. Der Ketzer der Neuzeit ist der Steuerhinterzieher, die Sozial-/Politikwissenschaftler sind die Priester,die Politiker die Kardinäle und die Journalisten das Inquisitionskommando. Der Delinquent wird an den medialen Pranger gestellt, wo ihn jeder anpöbeln und anrotzen darf und es wird penetrant Widerruf (Rücktritt) und Buße gefordert...
Man nennt das Ideologie und das ist genau der Religionsersatz, der früher oder später die Lücke füllen wird. Religion ist nicht umsonst in Staaten verboten, wo der Regierende selbst angebetet werden möchte.

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Re: Anarchie

Beitragvon Vollbreit » Di 30. Apr 2013, 19:11

stine hat geschrieben:Danke, @Vollbreit, sonst hätte ich das schreiben müssen.
Je nach dem, wer gerade Zeit hat.

laie hat geschrieben:In deinem letzten Absatz hast du auf die Bedeutung biographischer Eindrücke und Erlebnisse verwiesen. Wer kann schon sagen, wie ihn was beeinflußt!
Die allgemeinen Faktoren sind schon ganz gut bekannt. Im Falle Breivik wurde viel dummes Zeug berichtet, weil stellenweise der Eindruck erweckt wurde, Breivik könne psychisch auch gesund sein, was vollkommen falsch ist. Was nun genau welche Auswirkungen hat, das weiß man nicht, aber die gute Nachricht ist, dass man in der Regel schon massiv und vor allem längere Zeit geschädigt werden muss um psychisch schwer aus dem Ruder zu laufen. Und es gibt ja auch noch die „Unfälle“ in die andere Richtung...
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Re: Anarchie

Beitragvon Vegan33 » Mi 1. Mai 2013, 20:34

Vollbreit hat geschrieben:weil stellenweise der Eindruck erweckt wurde, Breivik könne psychisch auch gesund sein, was vollkommen falsch ist.


Warum denn das; Er hat grausam gehandelt, verdient wohl eine lebenslange Haft, ist kaltherzig und hat nicht eine Sache bereut, aber was sagt das ganze über seine Psyche aus, es ist doch nicht jeder fanatische Anhänger einer Ideologie ( = Extremist ) gleich psychisch krank, es bestimmen die Umstände.
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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » Mi 1. Mai 2013, 22:52

laie hat geschrieben:@ujmp
da haben wir uns missverstanden.Mit "Glaubenssache" meinte ich die These, dass der aufgeklärte, säkulare Atheismus westlicher Prägung nicht unwesentlich christlich geprägt ist.

Das Christentum ist bekanntlich heidnisch geprägt. Und man weiß z.B. glauebe ich auch, dass Neanderthaler sich gegenseitig gesund gepflegt haben (es gibt viele Skelette mit verheilten Knochenbrüchen) und ihre Alten versorgt haben. Ich würde mal sagen, das Christentum ist menschlich geprägt - und es geht auch noch menschlicher! Mit den Christentum ist es wie mit den Regenmachern: Was soll der ganze Hokuspokus? Es regnet auch von selber!
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Do 2. Mai 2013, 08:31

ujmp hat geschrieben:Mit den Christentum ist es wie mit den Regenmachern: Was soll der ganze Hokuspokus? Es regnet auch von selber!
Und das schreibt einer, der die Bibel mit ihrer Sammlung an Metaphern ablehnt. :wink:
Vielleicht regnet es von alleine, aber die Forderung nach Regen kann im Notfall auch nichts schaden.

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Re: Anarchie

Beitragvon provinzler » Do 2. Mai 2013, 11:10

stine hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Mit den Christentum ist es wie mit den Regenmachern: Was soll der ganze Hokuspokus? Es regnet auch von selber!
Und das schreibt einer, der die Bibel mit ihrer Sammlung an Metaphern ablehnt. :wink:
Vielleicht regnet es von alleine, aber die Forderung nach Regen kann im Notfall auch nichts schaden.

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Und die ganz schlauen, fordern den gesetzlichen Mindestregen...
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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » Do 2. Mai 2013, 18:43

stine hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Mit den Christentum ist es wie mit den Regenmachern: Was soll der ganze Hokuspokus? Es regnet auch von selber!
Und das schreibt einer, der die Bibel mit ihrer Sammlung an Metaphern ablehnt. :wink:
Vielleicht regnet es von alleine, aber die Forderung nach Regen kann im Notfall auch nichts schaden.

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Das ist keine Metapher, sondern eine Analogie zu einer zeimlich ähnlichen Denkstruktur. Ich sehe nicht worin sich ein katholischer Geistlicher, der seinen Altar einnebelt und eine Schamane, der Regentänze aufführt qualitativ unterscheiden sollten.
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Do 2. Mai 2013, 19:02

Qualitativ unterscheiden sie sich wahrscheinlich auch nicht. Es geht doch darum, was sie für die Menschen bedeuten!
Was bringen sie dem Einzelnen, der Gemeinde, das ist doch der Punkt. Es könnte auch ein Wissenschaftler da sitzen und sagen: "Liebe Leute, Pech gehabt. Die Bäume sind weg, der See ist ausgetrocknet und so wie es aussieht wird es die nächsten 10 Jahre eine Dürreperiode geben". Glaubst du das macht die Menschen fröhlicher?

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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » Do 2. Mai 2013, 19:24

stine hat geschrieben:Qualitativ unterscheiden sie sich wahrscheinlich auch nicht. Es geht doch darum, was sie für die Menschen bedeuten!

Werd mal konkret! Regenmacher gelten zumindest in aufgeklärten Gesellschaften als Scharlatane. Wenn man wissenschaftlich belegen kann, dass es die nächsten zehn Jahre nicht regnet, ist es doch gut, sich darauf einzustellen, oder? Da helfen doch keine Weihrauchkerzchen!
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Do 2. Mai 2013, 19:40

Siehst du, ganz genau das unterscheidet eben deine Denkweise von der eines Gläubigen. Ein Gläubiger wird dir sagen, das kann man nicht wissen. Vielleicht hilft es doch und wenn nicht, dann schadet es auch nicht und Hoffnung ist was Wunderbares.
Versteh doch, dass es Menschen gibt, die anders denken und das genauso als "normal" empfinden, wie du deine Wissenschaft.
Die Gläubigen tun das doch nicht, um dich zu ärgern, sondern weil sie noch eine andere Möglichkeit wähnen.

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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » Do 2. Mai 2013, 20:03

Du konstruierst mal wieder deinen Untermenschen-Strohmann. Ich habe auch Hoffnungen. Wissenschaftler sind auch keine Zyniker. Es ist aber gelegentlich sehr dumm, zu hoffen, wo es nichts zu hoffen gibt. Und es ist ziemlich fies, den Menschen mit solchen Hoffnungen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Es ist außerdem ein großer Unterschied, ob man Menschen trösten möchte oder ob man ihnen eine Ideologie verklickern möchte. Ich weiß z.B. nicht was ein einem Gebet für Kranke so tröstlich sein soll, wenn es doch stets komplett wirkungslos bleibt. Ich finde da die Vorstellung eines Gottes, der das Leid in der Welt so tatenlos mit ansieht sehr viel kälter, als die eines unpersönlichen Universums, in dem Menschen aufeinander angewiesen sind, weil sie sonst niemanden haben, in dem sie daher gemeinsam so gut wie möglich zurechtkommen müssen.
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Fr 3. Mai 2013, 07:01

ujmp hat geschrieben:Ich finde da die Vorstellung eines Gottes, der das Leid in der Welt so tatenlos mit ansieht sehr viel kälter, als die eines unpersönlichen Universums, in dem Menschen aufeinander angewiesen sind, weil sie sonst niemanden haben, in dem sie daher gemeinsam so gut wie möglich zurechtkommen müssen.
Stimmt, das kann man so sehen.
Das Gebet für einen Kranken hilft vielleicht nicht dem Kranken, aber dem, der es spricht mit der Krankheit des Freundes, der Freundin umzugehen.
Auch Gläubige sollten sich untereinander tatkräftig helfen, weil das Gottes Gebot ist. Aber der Trost und die Stütze für einen selbst, kommt aus dem Gebet und dem Glauben. Das zu verstehen ist für einen Realisten genauso schwer, wie auf Globuli zu vertrauen.
Gäbe es keinen Unterscheid zwischen der Denkweise von Gläubigen und puren Realisten, dann bräuchte es die Brights gar nicht geben. Diesen Unterschied (in der vielleicht sogar veranlagten Denkweise) gibt es aber, der ist genauso real, wie alle anderen natürlichen Vorkommen auch.

Mich würde mal interessieren, was Hoffnug für einen Ungläubigen bedeutet? Welches Wunder soll denn geschehen, wenn alle Ampeln auf rot stehen und Regen ausgeschlossen wird?

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Re: Anarchie

Beitragvon laie » Fr 3. Mai 2013, 14:30

ujmp hat geschrieben:Das Christentum ist bekanntlich heidnisch geprägt. Und man weiß z.B. glauebe ich auch, dass Neanderthaler sich gegenseitig gesund gepflegt haben (es gibt viele Skelette mit verheilten Knochenbrüchen) und ihre Alten versorgt haben. Ich würde mal sagen, das Christentum ist menschlich geprägt - und es geht auch noch menschlicher! Mit den Christentum ist es wie mit den Regenmachern: Was soll der ganze Hokuspokus? Es regnet auch von selber!


Das Christentum hat heidnische Sitten und Gebräuche bewahrt und umgeprägt. Es ist nicht dasselbe. Aber: Ja, die letzte Frage ist wirklich interessant, und ich denke, darauf kann es nur eine inviduelle Antwort geben. Ich habe es für mich versucht so zu beantworten: Jeder Glaube (und hier beschränke ich mich aus naheliegenden Gründen auf den christlichen Glauben) beginnt mit einer negativen Erkenntnis, einem negativen Bekenntnis unserer Existenz.

Kurz besagt dieses Bekenntnis: Ich bin schwach, ich weiss nicht, was ich tun soll, ich weiss nicht Recht von Unrecht unterscheiden (Recht und Unrecht sind hier als ethische, nicht als juristische Begriffe verwendet), ich kann nicht Gut von Böse unterscheiden, jedenfalls ist es oft sehr schwer. Ich bin sterblich, ich empfinde Schmerzen und Leid und verursache Schmerzen und Leid.

Das ist die Ausgangslage. Der schwache Mensch. Im Glauben wird diese Sichtweise positiv aufgehoben und transzendiert. Das "Wort Gottes" ist die positive Antwort auf unsere Existenz, unsere eigenen Worte können dagegen auf Dauer nur die negative Antwort sein. Ich bin überzeugt: "Es regnet eben nicht von selbst", um dein Bild aufzugreifen. Der Glaube kann uns von uns und unseren eigenen endlichen und kleinlichen Antworten wegführen und eben dadurch zu uns zurückführen. Das kann man glauben, muss man aber nicht.

"Gottes Wort" als positive Antwort. Ist nicht das fliegende Spaghetti-Monster auch so ein Gott und kann ich ihm nicht alles mögliche zuschreiben? Kann ich wohl, aber damit habe ich nichts anderes geschaffen als ein Teil dieser Welt, das wiederum an meiner eigentlichen Grundsituation nichts ändert und mich aus ihr nicht herausführt. Im übrigen ist die Idee eines Spaghetti-Monsters eh ein alter Hut. Die Prophetenbücher des AT sind voll mit Schilderungen solcher falscher Gottesbilder.

Die therapeutische Bedeutung der Idee "Wort Gottes" liegt gerade darin, dass sie nicht auf die Vernunft und menschliche Erkenntnis zurückgeführt werden darf. Alles, was der Vernunft und der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist und mit ihr widerlegbar ist, ist nicht "Gottes Wort". Es sind Privatoffenbarungen, die nur mein eigenes Wort wären, welches an meiner Existenz dauerhaft nichts wesentliches ändern würde. Es würde mich nicht erlösen.

Ich kam zu diesen Betrachtungen, als ich mich in das Apostolische Bekenntnis vertiefte: "Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen ... " usw. Was bedeuten diese Sätze überhaupt? Warum soll man daran glauben? Was ist der tiefere Sinn hinter diesen Formeln? Nur, wenn man zuerst bekennt "Ich bin ein schwacher armer Mensch, der in den entscheidenden Lebensfragen keine Ahnung hat" beginnt man allmählich, langsam, ganz langsam den eigentlichen, stärkenden Gehalt des Glaubens zu erkennen. Kann man glauben, muss man nicht glauben :up:
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Re: Anarchie

Beitragvon Lumen » Fr 3. Mai 2013, 21:08

laie hat geschrieben:[...] Kurz besagt dieses Bekenntnis: Ich bin schwach, ich weiss nicht, was ich tun soll, ich weiss nicht Recht von Unrecht unterscheiden (Recht und Unrecht sind hier als ethische, nicht als juristische Begriffe verwendet), ich kann nicht Gut von Böse unterscheiden, jedenfalls ist es oft sehr schwer. Ich bin sterblich, ich empfinde Schmerzen und Leid und verursache Schmerzen und Leid.

Das ist die Ausgangslage. Der schwache Mensch. Im Glauben wird diese Sichtweise positiv aufgehoben und transzendiert. Das "Wort Gottes" ist die positive Antwort auf unsere Existenz, unsere eigenen Worte können dagegen auf Dauer nur die negative Antwort sein. Ich bin überzeugt: "Es regnet eben nicht von selbst", um dein Bild aufzugreifen. Der Glaube kann uns von uns und unseren eigenen endlichen und kleinlichen Antworten wegführen und eben dadurch zu uns zurückführen. Das kann man glauben, muss man aber nicht.


Das entspricht nicht den Tatsachen. Religiöse Menschen werden in aller Regel während ihrer Kindheit bekehrt. Es gibt in den meisten Fällen kein Abwägen, keine Betrachtung der eigenen Existenz und kein Gefühl der Schwäche des Menschseins (vielleicht des Kindseins). Von da an ist dann alles religiös eingetrübt. Viele in weniger stark religiösen Haushalten werden den Schnupfen recht schnell wieder los. Ich habe oft gesehen, dass viele um die Pubertät herum vom Glauben abfallen. Bei Menschen aus religiöse Haushalten ist es oftmals ein jahrelanges Ringen im gehobenen Erwachsenenalter, gegen stärkste Widerstände des Umfelds, dass mit dem ganzen psychologischen Arsenal zuschlägt.

Im Gegensatz zu deiner Darstellung gibt es viele Schilderungen die nahelegen, dass der religiöse Glaube negative Gefühle und schlechtes Gewissen verstärken und nutzbar machen. Gerade bei stärker Religiösen gibt es zum Teil starke Schamgefühle und Ängste, die sich das Glaubenssystem und der dahinter liegende Machtapparat dankbar zunutze machen. Die Behauptung dass es kein Rechtsempfinden ohne Religion gäbe ist widerlegt und unhaltbar, außerdem sind solche Sichtweisen suprematisch, weil sie nahelegen, dass Menchen die von reliösen Angeboten nicht überzeugt sind, grundlegende menschliche Qualitäten vermissen lassen. Das ist ohne Übertreibung die gleiche Liga wie Rassismus.

laie hat geschrieben:"Gottes Wort" als positive Antwort. Ist nicht das fliegende Spaghetti-Monster auch so ein Gott und kann ich ihm nicht alles mögliche zuschreiben? Kann ich wohl, aber damit habe ich nichts anderes geschaffen als ein Teil dieser Welt, das wiederum an meiner eigentlichen Grundsituation nichts ändert und mich aus ihr nicht herausführt. Im übrigen ist die Idee eines Spaghetti-Monsters eh ein alter Hut. Die Prophetenbücher des AT sind voll mit Schilderungen solcher falscher Gottesbilder.


Wenn Geschichten über uns hinausführen, dann auch die biblische. Ansonsten gibt es für die Behauptung keine Belege. Moralisch gesehen ist der Glaube an falsche Annahmen dubios.

laie hat geschrieben:Die therapeutische Bedeutung der Idee "Wort Gottes" liegt gerade darin, dass sie nicht auf die Vernunft und menschliche Erkenntnis zurückgeführt werden darf. Alles, was der Vernunft und der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist und mit ihr widerlegbar ist, ist nicht "Gottes Wort". Es sind Privatoffenbarungen, die nur mein eigenes Wort wären, welches an meiner Existenz dauerhaft nichts wesentliches ändern würde. Es würde mich nicht erlösen.


Du kannst Irrationalismus gerne auch anders benennen und dem einen positiven Dreh geben. Das ist wahrscheinlich die einzige Chance für Gläubige. Es ist hingegen nicht nachvollziehbar, warum irrationale Ansichten dann wiederum einem geordneten System unterstehen sollen, dass zufälligerweise bestimmten Machtstrukturen dient. Ohne einen Maßstab ist der Glaube an einen Gott genauso gerechtfertigt wie der Glaube an Fünf Gottheiten, Odin or Zeus. Es gibt keinen plausiblen Grund für eine bestimmte Form des christlichen Glaubens. Christen selbst haben es nicht fertig gebracht sich allein schon innerhalb ihrer Weltsicht abzustimmen. Es gibt rund 38.000 christliche Konfessionen. Welche davon die richtige sein soll, viel Glück. Es ist auch wiederum unplausibel warum ein allgemeiner Glaube (d.h. "allgemein Christlich") eine hinreichende Bedingung sein soll. Vielmehr legt die Geschichte nahe, dass die Sektiererei kein Bug, sondern ein Feature ist. Jeder kann seinen Kult aufmachen und jede beliebige Behauptung aufstellen und durch verschiedene Techniken, die von echter Leistung bis Quacksalberei für Jünger sorgen. Es ist nach wie vor absolut unplausibel inwiefern das Christentum eine Ausnahme darstellen sollte.

laie hat geschrieben:Ich kam zu diesen Betrachtungen, als ich mich in das Apostolische Bekenntnis vertiefte: "Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen ... " usw. Was bedeuten diese Sätze überhaupt? Warum soll man daran glauben? Was ist der tiefere Sinn hinter diesen Formeln? Nur, wenn man zuerst bekennt "Ich bin ein schwacher armer Mensch, der in den entscheidenden Lebensfragen keine Ahnung hat" beginnt man allmählich, langsam, ganz langsam den eigentlichen, stärkenden Gehalt des Glaubens zu erkennen. Kann man glauben, muss man nicht glauben :up:


Kann ja machen. Aber der Glaube ist eher größenwahnsinnig. Immerhin wird behauptet, man könne sich mit dem Schöpfer des Universums gütlich stellen, der sich auch auch noch für jedes Wehwechen interessiert. Die Rhetorik der Schwäche und der Demut, ein einstmals wichtiges Konzept des Christentums, diente eher als Mittel die Armen arm und die Schwachen schwach zu halten. Der Glaube, ein einziges Buch erkläre alles, wie zahlreiche christliche Konfessionen behaupten ist auch eher größenwahnsinnig. Dem entgegen steht der Unwissende, der nur ein Leben hat, aber viel lernen kann im wissenschaftlichen Weltbild, was wirklich demütig und aufrichtig ist.
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Re: Anarchie

Beitragvon laie » Sa 4. Mai 2013, 09:48

@Lumen

du hast in vielem Recht. Mir ist natürlich klar, dass Glaube und Religiosität auch ganz anders verstanden werden können, wie man auch an dir sieht:

Lumen hat geschrieben:Kann ja machen. Aber der Glaube ist eher größenwahnsinnig. Immerhin wird behauptet, man könne sich mit dem Schöpfer des Universums gütlich stellen, der sich auch auch noch für jedes Wehwechen interessiert. Die Rhetorik der Schwäche und der Demut, ein einstmals wichtiges Konzept des Christentums, diente eher als Mittel die Armen arm und die Schwachen schwach zu halten. Der Glaube, ein einziges Buch erkläre alles, wie zahlreiche christliche Konfessionen behaupten ist auch eher größenwahnsinnig. Dem entgegen steht der Unwissende, der nur ein Leben hat, aber viel lernen kann im wissenschaftlichen Weltbild, was wirklich demütig und aufrichtig i


Genau diese Aussagen sind theologisch nicht begründet und völliger Unsinn, der nicht nur von Atheisten immer wieder vertreten wird. Nein, der Schöpfer interessiert sich nicht für uns, jedenfalls nicht ausserhalb der Trinitätsvorstellung, wo alles nur Privatoffenbarung bleiben muss; nein Demut dient nicht dazu, Arme arm zu halten. Nein, es ist nicht ein einzelnes Buch, welches alles erklärt, und nein, auch der Christ hat nur ein Leben. Und was die Demut angeht, vor der du sprichst, die angeblich echte Demut der "Unwissenden", wie du sie im letzten Satz nennst, die viel in der Wissenschaft lernen - diese Demut ist -zumindest in meinen Augen - falsche Demut: da sind halt Leute beeindruckt, wenn sie einen einfachen Grössenvergleich mit sich und dem Universum machen. Das finde ich wie gesagt eher uninteressant, aus ihr folgt unmittelbar nichts. Über einen solchen, naiven Vergleich, der eigentlich nur Selbstverständlichkeiten hervorbringen kann (natürlich ist der Mensch kleiner als der Elefant, ist die Sonne heller als eine Kerze, usw.), macht sich schon das Alte Testament lustig. Unter Demut verstehe ich persönlich eher das, was ich als "persönliches Schwächebekenntnis" umschrieben habe.

Ich finde, wir sollten miteinander auf einer indivduellen Ebene miteinander sprechen. Natürlich sind Klischees oft zutreffend.
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Sa 4. Mai 2013, 20:51

ujmp hat geschrieben:Ich habe auch Hoffnungen. Wissenschaftler sind auch keine Zyniker. Es ist aber gelegentlich sehr dumm, zu hoffen, wo es nichts zu hoffen gibt.


stine hat geschrieben:Mich würde mal interessieren, was Hoffnug für einen Ungläubigen bedeutet? Welches Wunder soll denn geschehen, wenn alle Ampeln auf rot stehen und Regen ausgeschlossen wird?


@Ujmp: Mich würde die Antwort an meiner obigen Frage immer noch interessieren: woraus ein wissenschaftlich arbeitender Realist seine Hoffung schöpft? Hofft er, dass er doch nicht Recht hat? Hofft er auf einen Denkfehler?

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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » So 5. Mai 2013, 18:46

stine hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Ich finde da die Vorstellung eines Gottes, der das Leid in der Welt so tatenlos mit ansieht sehr viel kälter, als die eines unpersönlichen Universums, in dem Menschen aufeinander angewiesen sind, weil sie sonst niemanden haben, in dem sie daher gemeinsam so gut wie möglich zurechtkommen müssen.
Stimmt, das kann man so sehen.
Das Gebet für einen Kranken hilft vielleicht nicht dem Kranken, aber dem, der es spricht mit der Krankheit des Freundes, der Freundin umzugehen.
Auch Gläubige sollten sich untereinander tatkräftig helfen, weil das Gottes Gebot ist. Aber der Trost und die Stütze für einen selbst, kommt aus dem Gebet und dem Glauben. Das zu verstehen ist für einen Realisten genauso schwer, wie auf Globuli zu vertrauen.
Gäbe es keinen Unterscheid zwischen der Denkweise von Gläubigen und puren Realisten, dann bräuchte es die Brights gar nicht geben. Diesen Unterschied (in der vielleicht sogar veranlagten Denkweise) gibt es aber, der ist genauso real, wie alle anderen natürlichen Vorkommen auch.

Mich würde mal interessieren, was Hoffnug für einen Ungläubigen bedeutet? Welches Wunder soll denn geschehen, wenn alle Ampeln auf rot stehen und Regen ausgeschlossen wird?

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"Pure" Realisten gibt es zwar m.E. nicht, aber ist ist ja gerade der Anspruch einer Religion, dass die Dinge tatsächlich so sind, wie sie verkündet werden. D.h. Religion vertritt ja selbst i.d.R. einen Realismus: "Für mich ist Gott ganz real". Und auch Naturalisten haben Überzeugungen, die nicht direkt nachprüfbar oder widerlegbar sind, die in einem sehr allgemeinen Sinn als "Glauben" bezeichnet werden können. Der Unterschied besteht in der unverhältnismäßig großen Willkür, mit der religiöse Gedankengebäude geschaffen wurden. Naturgesetzte kann man nicht einfach so dogmatisch festlegen, die Natur beugt sich der menschlichen Phantasie nicht. Menschen, die Ermutigung brauchen und niemanden haben, der ihnen damit persönlich helfen kann, kann man oft auch mit einem guten Buch oder Film helfen. Bestimmt auch mit Märchen. Naturalisten haben nichts gegen Poesie oder Kunst oder womit man sonst noch menschliche Träume und Empfindungen zum Ausdruck bringen kann. Und wenn man demgegenüber mal in einen katholischen Katechismus reinliest, scheint da ja irgendwie ein Anspruch von Rationalität vorzuherrschen - und zwar ganz kühler Rationalität. Wenn man sich mit Gläubigen unterhält, landen sie auch oft unaufgefordert bei der Rationalisierung ihres Glaubens.

Die berühmte Redeweise vom "Opium des Volkes" enthält leider sehr viel Wahrheit. Wenn man nämlich eine Situtuation gläubig akzeptiert, hört man auf, nach Lösungen zu suchen. Erfindungen werden dagegen immer von Zweiflern gemacht. Von Zweiflern - nicht zu verwechseln mit Ignoranten die einfach mal Jesus übers Wasser laufen lassen. Religion schläfert die Menschen ein.
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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » So 5. Mai 2013, 18:57

stine hat geschrieben:@Ujmp: Mich würde die Antwort an meiner obigen Frage immer noch interessieren: woraus ein wissenschaftlich arbeitender Realist seine Hoffung schöpft? Hofft er, dass er doch nicht Recht hat? Hofft er auf einen Denkfehler?

Er hofft darauf, dass sich Probleme lösen lassen und kann aber Fakten akzeptieren, wenn sie unabänderlich sind. Ein Religiöser mag ja auf sein Wunder hoffen, aber er bekommt letzlich auch nur Fakten. Er hätte vielleicht auch Lösungen haben können, wenn er seine Zeit nicht mit religiösen Übungen verschwendet hätte. Zum Schluss holt er sich dann aber sein Medikament von einem Wissenschaftler ab, den er zuvor als "kalt" beschimpft hat - es ist so peinlich!
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » So 5. Mai 2013, 20:18

ujmp hat geschrieben:Er hofft darauf, dass sich Probleme lösen lassen und kann aber Fakten akzeptieren...
Das ist ein Paradoxon, @ujmp. Entweder ich habe Fakten und beziehe mich darauf oder ich habe keine und hoffe, dass das schon alles irgendwie wird. Hoffnung ist ein Wort des Glaubens und hat in der Wissenschaft nichts verloren.
In der Wissenschaft kann ich sagen, dass ich etwas noch nicht weiß und muss mit fehlenden Fakten leben. Ich kann daran arbeiten, mir fehlendes Wissen anzueignen, aber auch dann muss ich je nach Wissensfortschritt mit den mir bekannten Fakten leben.
Glaube, Liebe, Hoffnung sind die drei christlichen Tugenden. Ich denke, du hast die Hoffnung traditionell übernommen. Die Hoffnung würde ich als atheistischer Realist aus meinem Wortschatz streichen und lieber Wunschdenken nennen.

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