Naturalisierung der Ethik

Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Myron » Sa 19. Jan 2013, 05:07

Ich erinnere an einen älteren Freigeisterhaus-Thread: "Kann Wissenschaft moralische Fragen beantworten?"
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Myron » Sa 19. Jan 2013, 05:10

Libertaer hat geschrieben: Und was den 'naturalistischen Fehlschluss' angeht: Soll er mehr als ein Totschlagargument sein, muss man schon erwähnen, dass es inzwischen auch den Vorwurf der 'natural fallacy fallacy' gibt.


Siehe dazu: http://plato.stanford.edu/entries/natur ... #OpeQueArg
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Myron » Sa 19. Jan 2013, 05:30

AgentProvocateur hat geschrieben:Es gibt mE noch nicht mal eine Ethik, die Harris vertreten würde.


Wenn von Ethik die Rede ist, dann ist entweder die Metaethik, die normative Ethik oder die angewandte Ethik gemeint:

"The field of ethics (or moral philosophy) involves systematizing, defending, and recommending concepts of right and wrong behavior. Philosophers today usually divide ethical theories into three general subject areas: metaethics, normative ethics, and applied ethics. Metaethics investigates where our ethical principles come from, and what they mean. Are they merely social inventions? Do they involve more than expressions of our individual emotions? Metaethical answers to these questions focus on the issues of universal truths, the will of God, the role of reason in ethical judgments, and the meaning of ethical terms themselves. Normative ethics takes on a more practical task, which is to arrive at moral standards that regulate right and wrong conduct. This may involve articulating the good habits that we should acquire, the duties that we should follow, or the consequences of our behavior on others. Finally, applied ethics involves examining specific controversial issues, such as abortion, infanticide, animal rights, environmental concerns, homosexuality, capital punishment, or nuclear war."

http://www.iep.utm.edu/ethics/

Metaethische Fragen:

"(a) Meaning: what is the semantic function of moral discourse? Is the function of moral discourse to state facts, or does it have some other non-fact-stating role?

(b) Metaphysics: do moral facts (or properties) exist? If so, what are they like? Are they identical or reducible to some other type of fact (or property) or are they irreducible and sui generis?

(c) Epistemology and justification: is there such a thing as moral knowledge? How can we know whether our moral judgements are true or false? How can we ever justify our claims to moral knowledge?

(d) Phenomenology: how are moral qualities represented in the experience of an agent making a moral judgement? Do they appear to be 'out there' in the world?

(e) Moral psychology: what can we say about the motivational state of someone making a moral judgement? What sort of connection is there between making a moral judgement and being motivated to act as that judgement prescribes?

(f) Objectivity: can moral judgements really be correct or incorrect? Can we work towards finding out the moral truth?"
———
"(a) Bedeutung: Was ist die semantische Funktion des moralischen Diskurses? Ist die Funktion das Ausdrücken und Feststellen von Tatsachen, oder hat er eine andere, nicht tatsachenbezogene Rolle?

(b) Metaphysik: Existieren moralische Tatsachen (oder Eigenschaften)? Wenn ja, von welcher Art sind sie? Sind sie identisch mit oder reduzierbar auf eine bestimmte andere Art von Tatsache (oder Eigenschaft) oder sind sie irreduzibel und von ganz eigener Art?

(c) Epistemologie und Rechtfertigung: Gibt es so etwas wie moralisches Wissen? Wie können wir wissen, ob unsere moralischen Urteile wahr oder falsch sind? Wie können wir unsere moralischen Wissensbehauptungen jemals rechtfertigen?

(d) Phänomenologie: Wie sind moralische Qualitäten im Erleben eines Akteurs dargestellt, der ein moralisches Urteil fällt? Scheinen sie 'da draußen' in der Welt zu sein?

(e) Moralpsychologie: Was können wir über den Motivationszustand von jemandem sagen, der ein moralisches Urteil fällt? Welche Art von Verbindung besteht zwischen dem Fällen eines moralischen Urteils und der Veranlassung, so zu handeln, wie es das Urteil vorschreibt?

(f) Objektivität: Können moralische Urteile wirklich richtig oder unrichtig sein? Gibt es für uns einen Weg, die moralische Wahrheit herauszufinden?"

[© meine Übers.]

(Miller, Alexander. An Introduction to Contemporary Metaethics. Cambridge, UK: Polity Press, 2003. p. 2)
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Lumen » Sa 19. Jan 2013, 05:32

Woraus folgt, dass wir uns gesund ernähren sollen? Woraus folgt, dass wir nicht Spülmittel trinken sollen? Warum kümmert sich die Medizin, Zahnmedizin und so fort dann darum? Auf welcher Grundlage gibt es überhaupt Medizin, wenn es quasi egal ist, wie der Zustand der Organe oder Gesundheit ist? Ist Medizin unwissenschaftlich, weil Mediziner von einem "gesunden" Zustand ausgehen, den sie (wieder)herstellen wollen? Wenn es da einen anderen Trick gibt, dann bin ich gespannt, wie der geht. Die Frage danach ist, warum das dann nicht auch auf anderen Arten des Wohlbefindens anwendbar sein sollte.
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Re: Was ist 'bright' am 'Brights'-Forum?

Beitragvon Myron » Sa 19. Jan 2013, 05:51

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber das steht doch da gar nicht. Was da steht, ist: nur das sei Moral, was bewusste Wesen und deren 'well-being' (mE hier im Sinne von: 'gutes Leben' gemeint) beträfe.


"If we define 'good' as that which supports well-being, as I will argue we must, the regress initiated by Moore’s 'open question argument' really does stop. While I agree with Moore that it is reasonable to wonder whether maximizing pleasure in any given instance is 'good,' it makes no sense at all to ask whether maximizing well-being is 'good.' It seems clear that what we are really asking when we wonder whether a certain state of pleasure is 'good,' is whether it is conducive to, or obstructive of, some deeper form of well-being. This question is perfectly coherent; it surely has an answer (whether or not we are in a position to answer it); and yet, it keeps notions of goodness anchored to the experience of sentient beings."

(Harris, Sam. The Moral Landscape: How Science Can Determine Human Values. New York: Free Press, 2010. p. 12)

Für Harris bedeutet "x ist gut" also "x fördert das Wohlsein", und der Zustand des leiblich-seelischen Wohlseins eines einzelnen bewussten Lebewesen oder einer Gruppe davon sowie dessen natürliche Bedingungen können, so meint er, natur- oder erfahrungswissenschaftlich untersucht und mit rein deskriptiven biologischen, psychologischen oder soziologischen Prädikaten erfasst werden.
Es ist allerdings fraglich, ob der Begriff des Wohlseins oder Wohlergehens wirklich frei von allen irreduzibel normativ-präskriptiven Aspekten ist, d.h. ob er in keiner Hinsicht ein Wertbegriff ist.

Die drei unterschiedlichen Auslegungen des Begriffs "Wohlbefinden"/"Wohlsein":

Wohlbefinden/Wohlsein als
1. angenehmes, wohliges Erleben (Empfinden/Fühlen)
2. Bedürfnisbefriedigung, Wunscherfüllung
3. Werteverwirklichung/verwirklichte Werte

Well-Being: http://plato.stanford.edu/entries/well-being/
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » Sa 19. Jan 2013, 07:53

Zum letzten Punkt.
Sehe ich auch so: Wenn der Arzt dem Patienten rät, weniger Süßigkeiten zu essen und Bier zu trinken, während der Patient das für sein Leben gerne tut, steigert oder minimiert er dann dessen Wohlbefinden?

Die Antwort auf diese und weitere, ähnlich gelagerte Fragen, muss im Subjekt liegen, will man nicht einen Wert (etwa physische Gesundheit vs. empfundenes Wohlergehen oder andersrum) verabsolutieren.

Generell:
Um dem nicht Vorschub zu leisten, könnte man fordern, die Verantwortungsfähigkeit des Individuums zu stärken, wobei man berücksichtigen muss, dass es sich dabei – zumindest m.E. - nicht allein um Informationsmaximierung handeln kann.
Man muss ggf. auch erkennen, begründen und verantworten, dass und warum ein Mensch momentan nicht in der Lage ist, eigenverantwortlich für sich zu sorgen (z.B. bei sehr hohem, akutem Stress, einer Depression, eine Psychose...), aber Ziel sollte sein, diese Fähigkeit des Individuums anzustreben, wiederherzustellen und allgemein, zu maximieren.

Das wäre eine ethische Forderung, die ich für Menschen brauchbar halte, ein anderer, wichtiger Bereich ist der Umgang mit Tieren, der gesondert geklärt werden müsste (weder würde ich den Menschen einfach als ein weiteres Säugetier neben anderen sehen wollen – gerade weil er zur Eigenverantwortung fähig ist – noch würde ich in zynischer Weise zum Leiden fähige Tiere vermenschlichen wollen, nach dem Motto, sie können ja sagen, wenn ihnen die Massenzucht nicht gefällt oder sich wehren, ansonsten könne es ja so schlimm nicht sein) und ggf. mit der Natur oder Menschheit als ganzer, wie etwa Jonas das fordert:
http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Prinzip_Verantwortung

Das hieße für mich, dass Verantwortung für schutzbedürftige Lebewesen von den moralisch, kognitiv und die Lebensmöglichkeiten betreffenden höher entwickelten/befähigten Wesen für die anderen, die (noch) keine eigene Stimme haben, zu übernehmen ist und, sofern prinzipiell möglich, der Blick darauf gerichtet werden sollte, dass man (noch) weniger entwickelte/befähigte Lebewesen in den Status versetzen sollte, nach Möglichkeit für sich selbst zu sorgen und Verantwortung für ihr eigenes Tun zu übernehmen.

Wären das ethische Eckdaten, die für Naturalisten annehmbar sind?
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » Sa 19. Jan 2013, 08:28

fopa hat geschrieben:Wo ist denn dann dein Problem mit Dawkins Äußerungen? Dadurch, dass wir zwar vollständig determiniert, aber eben nicht nur Gen-determiniert sind, haben wir die Fähigkeit, uns mit unserem Verhalten in einem gewissen Rahmen zu bewegen.


Ob wir tatsächlich vollständig determiniert sind und was das nun genau heißt, ist nicht ohne weiteres klar. Aber die These des Kompatibilismus lautet, dass selbst dann, wenn wir vollständing determiniert wären, wir immer noch einen freien Willen hätten.
Frei, in dem Sinne, dass man im Rahmen der Gegebenheiten rational abwägen kann. Frei, nicht im Sinne der Willkür.

fopa hat geschrieben:Der Begriff der inneren und äußeren Handlungsfreiheit beschreibt wohl das, was Dawkins meint: Wir können mit unserem Bewusstsein unser Verhalten beeinflussen und so auch gegen die Tendenzen unser angeborenen Verhaltensweisen anarbeiten. Das widerspricht einer streng (physikalisch-)deterministischen (inkompatiblistischen) Sichtweise keineswegs.


Ob Dawkins dieser Meinung ist, kann ich nicht sagen, da ich noch nichts in der Art von ihm gelesen habe und ihn die Frage, nach dem was ich im Thread las, nicht sonderlich interessiert. Aber Deiner Schlussfolgerung stimme ich zu.

fopa hat geschrieben:Michael Schmidt-Salomon beschreibt in seinem Buch "Jenseits von Gut und Böse", wie Ethik und Moral sich unter der Annahme der Nicht-Existenz eines freien Willens auffassen und gestalten lassen.


Ich finde all diese Positionen banal oder selbstwidersprüchlich.
Banal deshalb, weil sie oft sehr bilderstürmerisch daherkommen, das Strafrecht muss geändert, die Philosophie korrirgiert und überhaupt muss unser ganzes Bild des Menschen revidiert werden, am Ende sind dann allerdings Strafen (wundersamerweise und sehr widersprüchlich) doch nötig und kurz und knapp hat es Zappa auf den Punkt gebracht: Der Angeklagte sagt, er hätte nicht anders gekonnt, als die Handtasche zu klauen, worauf der Richter entgegnet, er könne darum nicht anders, als ihn dafür zu verurteilen. Wo war noch mal der ganz neue Ansatz?
Wenn eine Langversion zum zuhören interessiert:
http://www.wdr5.de/nachhoeren/das-philo ... radio.html
(Die Sendung mit Kodalle vom 10.8.2012)


fopa hat geschrieben:Meine Ansicht ist ähnlich: Die Herkunft bzw. der Ursprung von Wert- oder Moralvorstellungen muss nicht ergründet oder begründet werden. Es reicht, wenn ein Individuum diese Vorstellungen hat.


So weit, schön. Aber was machst Du, wenn ein anderes Individuum andere Vorstellungen hat?
Wenn Du Deine Werte einfach nur toll findest, sie aber nicht begründen kannst, warum sollte Dein Nachbar so leben wie Du, wenn er andere Werte toll findet (oder Du wie er)?
Wenn nun jeder seine Privatethik haben darf, ist der Sinn der Ethik, nämlich für ein annähernd gemeinsames und verlässliches Wertefundament zu sorgen, nicht mehr gegeben.
Nur sind religiöse Floskeln als Begründung inzwischen weitgehend stumpf geworden.
Wenn immer weniger ein gottgefälliges Lebe anstreben, juckt es auch immer weniger, wenn der Lebenswandel Gott nicht gefällt.

fopa hat geschrieben:Eine Ethik für eine Gesellschaft ergibt sich dann als Schnittmenge/Übereinstimmung der Vorstellungen der beteiligten Individuen. Dabei mag der Eine seine Vorstellungen aus seiner Religion beziehen, der Andere aus einem ethisch-realistischen Naturalismus, der dritte wiederum sieht seine Werte einfach als Konstrukt seiner sozialen Umgebung. Entscheidend ist m.A.n. lediglich, dass von keiner Seite ein Absolutheitsanspruch für die eigenen Moralvorstellungen aufgestellt wird, sondern dass eine Ethik sich aus einem demokratischen Prozess mit gegenseitigem Respekt ergibt - was natürlich ein Problem für die meisten Vertreter eines ethischen Realismus darstellen dürfte.


Ja.
Wobei ich nicht so ganz verstehen kann, warum die Quelle der Moral oder Ethik angegriffen wird, wenn man im Ziel übereinstimmt, oder die Quelle schlicht keine Rolle spielt. Zumal auch mir in Diskussionen dieser Art klar geworden ist, dass man ethische Prämissen ohnehin schwer ableiten kann, ohne sich in die Gefahr zu begeben, selbst auf mythisches Terrain zu gelangen.
So müsste man Ende doch die pragmatische Einigung her.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » Sa 19. Jan 2013, 11:05

@ Libertaer:

Du hast Dir da viel Mühe gegeben, darum will ich auf die Punkte eingehen, die uns in der Diskussion weiterbringen und die von anderen noch nicht abgehandelt wurden.

Was den integralen Kram angeht, so ist das m.E. Geschmackssache.
Zum grob geschnitzten ersten Teil hat Agent schon etwas beigetragen.
Zum letzten Teil: Ja, lieber reich und gesund, als arm und krank, dem würde jeder zustimmen, ich auch. Aber wie doch nun schon mehrfach ausgeführt wurde und auch in einer verlinkten Buchkritik anklang, haben wir moralische Orientierungsschwierigkeiten eben nicht in den eineindeutigen Fällen, sondern dort, wo man nicht weiß, welchen Werten man nun folgen soll, was genau hier nun richtig und falsch ist.

Libertaer hat geschrieben:Die Spiegelneuronen wollte ich selber schon erwähnen. Aber warum 'berühmtberüchtigt'? Mich nerven diese rhetorischen Tricks: Auch, wenn die Forschung zu den Spiegelneuronen noch am Anfang steht und ihre Bedeutung (vielleicht) von Manchen überschätzt wird - mit 'berühmtberüchtigt' wird gleich insinuiert, dass sie 'eigentlich' nicht sonderlich relevant für das Thema sind. Ich denke, sie sind es.


Sicher, irgendwie sind sie das. Aber sie müssen oft genug als Füllwort für alles Mögliche herhalten, „...das machen dann die Spiegelneuronen“. Was genau machen sie denn? Soweit mir das bekannt ist, induzieren sie in einem Menschen eine annähernd ähnliche Gefühlslage, wie in seinem Gegenüber. In der Gemeinschaft trauriger Menschen wird man traurig, in der Gemeinschaft glücklicher, eher glücklich.
Aber dass ich nun eine bestimmte Gefühlslage habe, was sagt das über Moral oder Empathie aus?
Es ist vielleicht (ich glaube, ja) eine notwendige, aber sicher keine hinreichende Bedingung. Denn erst mal ist es ja mein Gefühl und der Umweg zu sehen, dass ich den anderen glücklich machen muss, um glücklich zu sein, ist ein rationaler Akt.
Zudem kann ich ja auch Freude empfinden, wenn ein anderer leidet und zittert.

Es könnte aber auch sein, dass mir das Gefühl des Leidens des anderen nicht bekommt und ich ganz einfach deshalb den anderen verlasse. Das heißt, alles was danach kommt, ist entweder eine kognitive Leistung oder beruht auf einem angeborenen Prinzip, was man (meines Wissens) noch nicht kennt.

Libertaer hat geschrieben:Und natürlich kenne ich kaum jemanden, der behauptet, 'alles Wesentliche was man zur Moral braucht, sei angeboren'. Aber nehmen wir mal an, 'alles Wesentliche was man zur Moral braucht, sei angeboren': Was wäre so schlimm daran? Ist das die ultimative narzisstische Kränkung?


Nichts wäre schlimm daran und ich kann auch dieses Dauerargument der Kränkung nicht nachvollziehen. Was genau würde sich für mich denn ändern, da ich doch nach wie vor ein Ich-Empfinden habe? Irgendwie soll dieses Ich-Empfinden ja eine Illusion sein, aber vieles was meine Sinne produzieren ist Illusion, die Lücken in der Wahrnehmung, die einfach gefüllt werden, sind auch da, seit mehr als zwei Jahrzehnten habe ich eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie weitreichend unser Unbewusstes uns beeinflusst, wenn also alles was wir zur Moral brauchen Huckepack per Natur geliefert wird, hätte ich damit kein Problem. Wieso auch?
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Sa 19. Jan 2013, 16:02

@Vollbreit
Bitte zerhacke nicht zusammenhängende Aussagen, denn ohne Kontext werden sie missverständlich, und genau das geschehen.
Flicke sie also einfach wieder zusammen - dann werden sich (fast) all deine Fragen und Einwände in Wohlgefallen auflösen.

Ich möchte also nur auf diejenigen Punkte eingehen, die sich nicht von selbst klären lassen.

Vollbreit hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Michael Schmidt-Salomon beschreibt in seinem Buch "Jenseits von Gut und Böse", wie Ethik und Moral sich unter der Annahme der Nicht-Existenz eines freien Willens auffassen und gestalten lassen.
Ich finde all diese Positionen banal oder selbstwidersprüchlich.
Banal deshalb, weil sie oft sehr bilderstürmerisch daherkommen, das Strafrecht muss geändert, die Philosophie korrirgiert und überhaupt muss unser ganzes Bild des Menschen revidiert werden, am Ende sind dann allerdings Strafen (wundersamerweise und sehr widersprüchlich) doch nötig und kurz und knapp hat es Zappa auf den Punkt gebracht: Der Angeklagte sagt, er hätte nicht anders gekonnt, als die Handtasche zu klauen, worauf der Richter entgegnet, er könne darum nicht anders, als ihn dafür zu verurteilen. Wo war noch mal der ganz neue Ansatz?
Der Punkt ist das eigene Selbstverständnis und das Verständnis gegenüber den Mitmenschen, das sich mit der Annahme der Nicht-Existenz eines freien Willens ändert. Widersprüchlich finde ich MSS in diesen Abschnitten seines Buches nicht. Natürlich sind Strafen manchmal nötig, aber eben nicht Strafe als Rache oder Sühne, sondern als erzieherische Maßnahme oder Schutz der Allgemeinheit (Freiheitsstrafe). Wenn du den Teil des Buches verstanden hast, in dem MSS erläutert, warum es seiner Ansicht nach 'Schuld' und demzufolge auch 'Sühne' gar nicht gibt, sollte sich an den von ihm vorgeschlagenen Konsequenzen auch nichts Widersprüchliches finden.
In Bezug auf die von dir beklagte Banalität muss ich dir sogar im Großen und Ganzen Recht geben: Für jemanden, der bereits von der Nicht-Existenz eines freien Willen überzeugt ist und sich Gedanken dazu gemacht hat, sind die Ausführungen MSSs tatsächlich banal. Für denjenigen, der sich aber noch nicht hineingedacht hat, dürfte vieles neu sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass es gerade solchen Menschen, die von einem freien Willen (auch im Sinne des Kompatiblismus) überzeugt sind, sehr schwer fällt, sich überhaupt nur für den Zeitraum des Lesens von dieser Vorstellung zu verabschieden. Demzufolge mögen ihnen viele Ausführungen widersprüchlich erscheinen, obwohl sie sich aufgrund der Ausgangslage, die MSS zu Beginn legt, wie gesagt fast von selbst ergeben.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Nanna » Sa 19. Jan 2013, 17:02

Ich fand "Jenseits von Gut und Böse" ehrlich gesagt auch ermüdend banal, aber MSS ist sowieso kein besonders kohärent argumentierender Autor. Ich hab mal ein Paper von ihm gelesen, wo er erst jegliche Letztbegründungen inklusive des Vernunftbegriffs auseinandergenommen hat, nur um dann wundersamerweise zu dem Ergebnis zu kommen, dass man sich vernünftigerweise für den evolutionären Humanismus als Leitethik entscheiden solle - halt nur mit sehr schwacher Begründung des Warum uns ansprechend vermutlich nur für Leute, die ohnehin schon von der Idee überzeugt sind.

Zu dem aber, was du sagst:
fopa hat geschrieben:Der Punkt ist das eigene Selbstverständnis und das Verständnis gegenüber den Mitmenschen, das sich mit der Annahme der Nicht-Existenz eines freien Willens ändert.

Was ändert sich denn? Niemand wird auf magische Weise den Prozess des Sich-Entscheidens überspringen und einfach nur noch handeln. Er wird Pro- und Contra-Argumente abwägen, sich dann entscheiden (und zwar sowohl deterministisch als auch frei im Sinne des Kompatiblismus, dass er frei ist, seinen eigenen Gründen zu folgen) und dann für die Folgen seiner Handlungen von anderen verantwortlich gemacht werden. Was ändert sich?
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon ujmp » Sa 19. Jan 2013, 17:10

Vollbreit hat geschrieben:Der Angeklagte sagt, er hätte nicht anders gekonnt, als die Handtasche zu klauen, worauf der Richter entgegnet, er könne darum nicht anders, als ihn dafür zu verurteilen. Wo war noch mal der ganz neue Ansatz?

Du bringst hier oft deine Geringschätzung für Konzepte zum Ausdruck die du obendrein entweder missverstehst oder vielleicht absichtlich verdrehst. Mich würde ja mal ein neuer Ansatz von dir interessieren!
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Lumen » Sa 19. Jan 2013, 18:00

Das greift auch zu kurz. Eine Verurteilung hat potentiell mehrere Seiten:

  • Abschreckung: wenn Leute nicht anders können, dann könnten wir uns den Anteil sparen. Dann wäre aber auch die Entscheidung selbst hinfällig (wir entscheiden nichts, sondern machen, was wir sowieso machen). Wenn nicht, dann wäre die Abschreckung ein wirksamer Teil der Kausalketten.
  • Stillung des Gerechtigkeitsempfindens: möglicherweise kulturell bedingt, will die Gesellschaft, dass Missetäter verurteilt werden.
  • Abschluss/Closure: der englische Begriff sagt es etwas besser aus. Nicht nur die Gesellschaft "verlangt" etwas, sondern insbesondere brauchen Opfer offenbar eine Art von Ritual, dass die Situation für sie befriedigend abschließt, sodass sie einen Neuanfang beginnen können.
  • Schutz: manche Täter können offenbar nicht anders, und das auf praktisch jeder beliebigen denkbaren Ebene. Wenn das Verhalten änderbar ist, würde das ausreichen, wenn nicht, könnte die Gesellschaft nicht anders als es entweder hinzunehmen oder präventiv zu verhindern.

Jetzt fällt mir dabei auf, dass sich verschiedene Arten der Vorbestimmteit vermischen. Die Vorstellung, dass jemand nicht anders könnte, als zurückzuschlagen, weil er provoziert wurde, halte ich für die unsinnige Art des Konzepts. Zwar gibt es wahrscheinlichkeiten, die aber selbst veränderbar sind. Da würde ich nur zugestehen, dass es bestimmte Ausnahmen gibt, z.b. jemand mit einer Krankheit, die das Verhalten soweit verändert, dass die betroffene Person selbst keine Kontrolle hatte (was bei genauem betrachten einigermaßen schräg ist, da der Sichtweise etwas von dämonischer Besessenheit anhaftet). Dann müsste nach einer Widerherstellung, Exortion des Teufels, die 'neue' Person allerdings als rehabilitiert gelten, was Teile o.g. Punkte ignoriert. Vielleicht kommen wir mal dahin, dass Kontuitäten (Nanna ist derselbe, der er gestern war) nicht mehr selbstverständlich angenommen werden. Dem gegenüber halte ich die Betrachtung, dass alles ein gigantisches Urwerk aus (subatomaren, atomaren, emergenten ...) Kausalketten ist, für möglich. Das würde sich dann aber durch alles komplett durchziehen, sodass jede Neigung zu bestimmten wahrscheinlichen Handlungen vollkommen festgelegt ist, wie auch jeder Eingriff in die Veränderung dieser Wahrscheinlichkeiten (was selbst nur eine Sichtweise ist, die sich ebenfalls aus dem Uhrwerk ergibt). In letztem Fall sind wir aber, nach meiner Meinung, bei einer Art Freier Wille Solipsismus.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 19. Jan 2013, 18:36

Lumen hat geschrieben:Woraus folgt, dass wir uns gesund ernähren sollen? Woraus folgt, dass wir nicht Spülmittel trinken sollen? Warum kümmert sich die Medizin, Zahnmedizin und so fort dann darum? Auf welcher Grundlage gibt es überhaupt Medizin, wenn es quasi egal ist, wie der Zustand der Organe oder Gesundheit ist? Ist Medizin unwissenschaftlich, weil Mediziner von einem "gesunden" Zustand ausgehen, den sie (wieder)herstellen wollen? Wenn es da einen anderen Trick gibt, dann bin ich gespannt, wie der geht.

Nein, Medizin ist nicht unwissenschaftlich. Es ist bloß so, dass aus Medizin kein Sollen ableitbar ist. Aus Medizin folgt nicht, dass wir uns gesund ernähren sollen oder dass wir kein Spülmittel trinken sollen. Das folgt aus persönlichen Zielen: viele/die meisten Leute wollen gesund sein und lange leben. Und dann ist es selbstverständlich nicht egal, wie der Zustand der Organe oder der Gesundheit ist.

Lumen hat geschrieben:Die Frage danach ist, warum das dann nicht auch auf anderen Arten des Wohlbefindens anwendbar sein sollte.

Das ist soweit auch auf andere Arten des Wohlbefindens anwendbar.

Bloß fragt sich eben immer, wie man auf Sollenssätze kommt, also auf Moral/Ethik.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Nick » Sa 19. Jan 2013, 18:40

Meiner Meinung nach ist der ganze Ansatz, die Willensfreiheit zu leugnen, falsch. Man kann z.B. zeigen, dass Abschreckung wirkt, mit simplen Tierversuchen. Auch Menschen regieren offensichtlich auf Strafe mit Vermeidung. Aber nicht nur auf Strafe, auch auf Missgeschicke, Verletzungen und ähnliches. Eine Entscheidungsfreiheit ist also objektiv vorhanden.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Lumen » Sa 19. Jan 2013, 19:05

AgentProvocateur hat geschrieben:[...] Bloß fragt sich eben immer, wie man auf Sollenssätze kommt, also auf Moral/Ethik.


Aus meiner Sicht ergibt sich ein Sollen aus einer normalisierten Gesamtschau dessen, was Menschen wollen. Ich sehe auch, dass bei entsprechender Vergrößerung aus dem Einem (Wollen) nicht das Andere (Sollen) folgt, allerdings sieht dieses Problem hausgemacht aus. Wenn wir davon ausgingen, dass Menschen im konventionellen Sinne tun, was sie wollen (wenn sie können), löst sich der Knoten näherungsweise auf. Wenn nicht, wird mir die Luft zu dünn im Elfenbeinturm. Ein sprachliches Paradoxon lässt sich ebenfalls nicht lösen, insofern das Sollen-Problem ein Scheinproblem sein könnte, dass nur in bestimmten Sachverhalten brauchbar ist, hier insbesondere beim naturalistische Fehlschluss. Ich stehe dem besonders skeptisch gegenüber, da besonders Religion sich in der Sollen-Nische eingenistet hat, und es dort keine Hemmungen gibt eine Art supernaturalistischen Fehlschluss zu begehen (der frei gestaltbar ist, weil die Lehren mehr oder weniger beliebig sind).
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 19. Jan 2013, 20:10

Lumen hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:[...] Bloß fragt sich eben immer, wie man auf Sollenssätze kommt, also auf Moral/Ethik.

Aus meiner Sicht ergibt sich ein Sollen aus einer normalisierten Gesamtschau dessen, was Menschen wollen.

Das hört sich sehr abstrakt an, aber dem kann ich erst mal zustimmen.

Lumen hat geschrieben:Ich sehe auch, dass bei entsprechender Vergrößerung aus dem Einem (Wollen) nicht das Andere (Sollen) folgt, allerdings sieht dieses Problem hausgemacht aus.

Was meinst Du mit "hausgemacht"? Existiert nicht, ein Scheinproblem? Falls ja: meiner Ansicht ist dem nicht so, eben das ist mE das eigentliche Problem bei der Begründung/Findung einer Moral/Ethik.

Lumen hat geschrieben:Wenn wir davon ausgingen, dass Menschen im konventionellen Sinne tun, was sie wollen (wenn sie können), löst sich der Knoten näherungsweise auf.

Aber praktisch gesehen gibt es nun widerstreitende Interessen. X will Y tun, aber Z will nicht, dass X Y tut. Gäbe es solche widerstreitenden Interessen nicht, dann stellte sich die Frage nach Moral/Ethik wohl erst gar nicht. Aber da es die gibt, haben wir den Knoten nun mal.

Lumen hat geschrieben:Ein sprachliches Paradoxon lässt sich ebenfalls nicht lösen, insofern das Sollen-Problem ein Scheinproblem sein könnte, dass nur in bestimmten Sachverhalten brauchbar ist, hier insbesondere beim naturalistische Fehlschluss.

Bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Du damit sagen willst, aber meiner Ansicht nach gibt es den Naturalischen Fehlschluss, ein Schluss vom Sein auf das Sollen ist mE ein logisch falscher Schluss. Aus einer beliebigen Menge rein deskriptuver Aussagen kann keine normative Aussage abgeleitet werden.

Typisches Beispiel für einen Naturalistischen Fehlschluss: "in der Natur (im Tierreich) kommt Homosexualität nicht vor, also ist Homosexualität falsch".
Und auch die Aussage: "im Tierreich kommt Homosexualität sehr wohl vor, also ist sie richtig" ist ein NF.

Ein Schluss vom Wollen (oder von Zielen) aufs Sollen muss jedoch kein NF sein, denn das Wollen (bzw. die Ziele) ist/sind wohl meist mit einer Wertung verbunden.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Sa 19. Jan 2013, 20:42

Nanna hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Der Punkt ist das eigene Selbstverständnis und das Verständnis gegenüber den Mitmenschen, das sich mit der Annahme der Nicht-Existenz eines freien Willens ändert.
Was ändert sich denn? Niemand wird auf magische Weise den Prozess des Sich-Entscheidens überspringen und einfach nur noch handeln. Er wird Pro- und Contra-Argumente abwägen, sich dann entscheiden (und zwar sowohl deterministisch als auch frei im Sinne des Kompatiblismus, dass er frei ist, seinen eigenen Gründen zu folgen) und dann für die Folgen seiner Handlungen von anderen verantwortlich gemacht werden. Was ändert sich?
Es geht nicht darum, dass der Prozess des Entscheidens geändert werden sollte. Es geht um die Reflexion der Entscheidungsfähigkeit: Wenn ich mich bei einer früheren Entscheidung derart entschieden habe, dass ich ihre Folgen im Nachhinein als negativ ansehe, könnte ich 1) die 'freie' Entscheidung bereuen und mich selbst rügen, ich hätte mich doch anders entscheiden können und sollen oder 2) feststellen, dass ich mich zu jenem Zeitpunkt aufgrund meiner Konstitution und aller gegebenen Umstände nur genau so hatte entscheiden können und die Folgen als Lehre für spätere, ähnliche Entscheidungen auffassen. Schließlich habe (bin) ich ein Gehirn, das Erfahrungen und Erinnerungen als Entscheidungshilfe benutzt.
So, wie man von seinen eigenen Entscheidungen denkt, denkt man auch von Entscheidungen seiner Mitmenschen. Während im Fall 1) dem Mitmenschen bei einer 'schlechten' Entscheidung eine 'Schuld' oder gar 'Boshaftigkeit' zugesprochen wird, kann man im Fall 2) nur noch von 'Ursache' sprechen. Die Verantwortung wird nicht relativiert, sondern besteht weiterhin. Gerade wenn es um Streitigkeiten mit Freunden oder Familienangehörigen geht, kann sich diese Unterscheidung stark auswirken. Man kann nicht mehr sagen: "Du bist schuld!", sondern muss fragen: "Warum hast du das getan?".

Ich kann nicht behaupten, dass ich mit allen Positionen MSSs einverstanden wäre, aber in diesem Punkt bin ich mit ihm einer Meinung: Die Verabschiedung von der Willensfreiheit macht frei. Frei von Schuld, aber nicht frei von Verantwortung.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 19. Jan 2013, 21:05

fopa hat geschrieben:Es geht nicht darum, dass der Prozess des Entscheidens geändert werden sollte. Es geht um die Reflexion der Entscheidungsfähigkeit: Wenn ich mich bei einer früheren Entscheidung derart entschieden habe, dass ich ihre Folgen im Nachhinein als negativ ansehe, könnte ich 1) die 'freie' Entscheidung bereuen und mich selbst rügen, ich hätte mich doch anders entscheiden können und sollen oder 2) feststellen, dass ich mich zu jenem Zeitpunkt aufgrund meiner Konstitution und aller gegebenen Umstände nur genau so hatte entscheiden können und die Folgen als Lehre für spätere, ähnliche Entscheidungen auffassen.

Das hat aber nun rein gar nichts mit Willensfreiheit zu tun. Denn vollkommen gleichgültig, ob Willensfreiheit in welchem Sinne auch immer existiert oder nicht: Dein Punkt 1) ist immer erst mal wenig rational, weil man die Vergangenheit nicht ändern kann. Was passiert ist, ist passiert, nicht mehr zu ändern. Wie der Engländer sagt: "Don't cry over spilled milk."

Bloß sind Menschen aber nicht in dem Sinne rational. Sie ärgern sich über falsche Entscheidungen/Handlungen, sie sind keine Rechenmaschinen, die beliebig Gefühle/Emotionen unterdrücken könnten, (bzw. erst gar nicht haben). Obgleich die meisten Menschen doch wohl wissen werden, dass sie die Entscheidung/Handlung im Nachhinein nicht ändern können.

(Ich vermute allerdings, dass dieses Sich-Ärgern nicht so irrational ist, wie es auf den ersten Blick aussieht; ich denke, das hat die Funktion, derartige Fehler zukünftig möglichst zu vermeiden, durch das Ärgern "brennt" sich der Fehler besser in die Erinnerung ein.)

fopa hat geschrieben:Ich kann nicht behaupten, dass ich mit allen Positionen MSSs einverstanden wäre, aber in diesem Punkt bin ich mit ihm einer Meinung: Die Verabschiedung von der Willensfreiheit macht frei. Frei von Schuld, aber nicht frei von Verantwortung.

Aber strafrechtliche Schuld ist nun dies: Verantwortlichkeit für einen strafrechtlich sanktionierten Normverstoß. Entweder gibt es also keine Verantwortung oder es gibt auch strafrechtliche Schuld. Wie der Engländer sagen würde: "You can't have your cake and eat it".
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Nick » So 20. Jan 2013, 09:39

Ich lese gerade Harris' "Free Will". Mich würde mal interessieren, inwiefern man eigentlich Willensfreiheit an Bewussthandeln koppeln muss. Ich interpretiere Harris' neurologischen Befund erstmal so: Mir wird eben unter Umständen ein paar Sekunden später bewusst, was ich will. Eine Einschränkung der Willensfreiheit lässt sich daraus doch gar nicht ableiten, oder? Der zweite Punkt der mir merkwürdig vorkommt ist die Redeweise von "Ich und/aber mein Gehirn". Ich würde lieber sagen, "Ich , also mein Gehirn". Aus materialistischer Sicht ist diese Trennung ja auch schwer zu rechtfertigen, oder? Was soll denn das "Ich" sonst sein?
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » So 20. Jan 2013, 11:11

@ Nick und fopa:

Erstmal, herzlich willkommen, Nick!

Die Fragen und Anmerkungen aus Deinem letzten Beitrag sind vollkommen berechtigt.


Zur Strafe und der Willensfreiheit möchte ich noch beitragen.
Die sinnvollen Strafen der Hirnforscher und ihrer Anhänger sind einen zum reine Konditionierungen.
Konditionierung ist ein unbewusster Vorgang, rationales Verstehen ist ein bewusster Vorgang. Beide folgen im Grunde derselben „Wenn..., dann ...“ Logik, nur einmal werden emotionale Aspekte stärker betont, ein anderes mal bewusste Aspekte.

Das Abschreckungskonzept, was manchmal auch noch angeführt wird, darf es streng genommen schon gar nicht mehr geben, da die Einsicht: „Wenn der das macht und bestraft wird, dann blüht mir das auch, wenn ich das ebenfalls mache und da ich keine Strafe will, mache ich das dann lieber nicht“, nicht funktionieren könnte, denn das setzt eben jenen Willen voraus, dessen Existenz ja geleugnet wird.

Oder es geht eben nicht über rationale Einsicht, sondern über Einschüchterungen und Rache, starke emotional verstärkende Faktoren.

Das Konzept der Strafe im Strafrecht folgt aber gar nicht dem Prinzip der Rache, wie gerne immer wieder behauptet wird, sondern dem der Einsicht und Besserung. Die ganzen Ideen, man solle doch endlich von der Rache wegkommen, sind ein Angriff auf ein Konzept was, wieder einmal, niemand vertritt. Was vertreten wird, wird im link (von gestern, 8:28 Uhr) erläutert.

Alle Menschen können zwar konditioniert werden, aber daraus sollte man nicht den falschen Umkehrschluss ziehen, dass alle Menschen vollkommen konditioniert sind und nur daraus ihre Handlungsmotive abzuleiten seien.
Im Menschen ist immer beides vorhanden, eine im Biologischen fundierte Emotionalität, die relativ simplen Mechanismen folgt und die man durch verschiedene Arten der Konditionierung setzen, verstärken oder abschwächen kann.
Der Mensch ist aber auch ein Wesen, was stark im Rationalen verwurzelt ist, im Raum des Gebens und Verlangens von Gründen.
Beide Bereiche sind nicht kategorisch voneinander getrennt sondern durchdringen einander.

Das Konzept der Willensfreiheit der Kompatibilisten (dem ich übrigens zustimme, fopa), spielt mit dieser Fähigkeit des Menschen, rationale Begründungen zu geben, zu verstehen und sein Verhalten danach auszurichten.
Die Konzepte der Neurobiologie sind stärker auf biologische Funktionsmechanismen fokussiert, gereizte Zellen, wie die Funktion der Reizleitung ist und so weiter.
Streng genommen liegt das Konzept der Konditionierung in der Mitte, da es die Vorgänge im Bewusstsein und im Organ zur Black Box erklärt und sich allein auf das erwünschte oder unerwünschte Verhalten fokussiert. Mit den neurobiologischen Konzepten hat es gemeinsam, dass beide aus einer objektivierenden 3.Person Perspektive beschreibbar sind, während die Verarbeitung von Gründen, längst nicht so leicht, wenn überhaupt, aus dieser 3.Person Perspektive erklärbar sind, hier muss man schauen, was, warum, zu welcher Zeit als gutes Argument beim erlebenden Subjekt (der 1.Person) ankommt und gilt und was nicht.
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