Naturalisierung der Ethik

Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Lumen » Do 17. Jan 2013, 23:31

Vollbreit hat geschrieben:[...] mir ist überhaupt nicht klar, was die naturalistisch-emprische Note an der Geschichte ist, die die moralische Landkarte nun auf ganz andere, besser begründete, objektivere oder was auch immer für Füße stellt. Mitleid ist besser als Mord, wussten wir das nicht bereits? Was ist neu, was ist anders?


Der feine Unterschied ist der, dass heute verschiedene gesellschaftliche Situationen oft noch unter "andere Länder, andere Sitten" fallen. Der Westen hadert noch mit seiner kolonialen Vergangenheit, oder am "Deutschen Wesen mag die Welt genesen", weshalb zum Beispiel die Frage, ob es gut ist, dass Frauen vollverschleiert leben, kontrovers behandelt wird. Du selbst gehst an die Sache aber bereits mit mangelndem guten Willen heran, bist also sehr voreingenommen. Das sehe ich daran, dass du bereits im Vorfeld beliebige Hürden aufstellst, die aber sonderbarerweise nur für Leute und Positionen gelten, denen du nicht zustimmst und zustimmen wirst. Daher sind diese Überlegungen bereits im Vorfeld deiner Meinung nach unnützlich. Wenn das aber so ist, sollte die erste Frage sein: was erhoffst du dir von einer Diskussion?
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Libertaer » Fr 18. Jan 2013, 00:02

Vollbreit hat geschrieben:Auch der Konsenssuche wird unterstellt willkürlich zu agieren, da ja jede Kultur und Zeit ihre Werte hat, aber es angeblich (m.E. ist schon das diese Unterstellung von Harris nicht richtig) keine universellen Werte gäbe, die verlässlichen Charakter haben.

Harris behauptet exakt das Gegenteil und hält diesen Werterelativismus für einen der größten Fehler der Liberalen.

Vollbreit hat geschrieben:
Libertaer hat geschrieben:Aber als Spielverderber hätte ich da doch ganz gerne wenigstens einen Beleg für die Postulierung von 'angeborenen Wünschen' und dafür, wie angeblich aus Zahlen auf ein Sollen geschlossen wird.


Die Frage wollte ich stellen: Was sind die Kriterien anhand derer auf ein Sollen geschlossen wird?
Was macht eine moralische Wahrheit zu einer solchen?

Was ist an der Frage: Wer spricht wo von 'angeborenen Wünschen'? unklar? Ich wüßte gerne, woher du diesen Unfug hast.

Was die Frage von Dawkins' Position zum 'freien Willen' angeht: Ich kann nur sagen, er eiert rum. Irgendwo sagte er, die Frage des 'freien Willens' sei für ihn keine Frage, die ihn besonders interessiert.
Das hat aber wenig mit der Frage des Verhältnisses von Naturalismus und Determiniertheit zu tun, weil der Naturalismus zwar von einer Determiniertheit ausgeht, diese aber nicht nur genetisch begründet.
Vollbreit hat geschrieben:
Libertaer hat geschrieben:Weißt du, solche Beispiele machen eine Diskussion mit dir schwierig, wenn nicht unmöglich. Da wird mal kurzerhand ein Unterschied zwischen Affe und Löwe unterstellt (auch Affen bringen die Kinder von Konkurrenten um) und damit von der eigentlichen Frage abgelenkt: Adoptierte Kinder (genetisch also Kinder von 'Konkurennten') haben ein deutlich höheres Risiko durch die Hand ihrer Adoptiveltern zu Schaden zu kommen als die leiblichen Kinder. Dieses Verhalten hat also eventuell biologische Wurzeln. Sind wir dieser Biologie jetzt ausgeliefert, weil Löwen und Affen es genauso machen?

Natürlich nicht, weil niemand, von dem ich in der Diskussion je gelesen hätte, diese Form der genetischen Determiniertheit vertritt.


Dafür vielleicht eine andere Form von Determiniertheit, die keinen freien Willen zulässt?
Kommt unterm Strich aufs selbe raus. Die Frage ist doch die, ob wir qua Einsicht und Vernunft wider unsere Natur handeln können, in dem Sinne, dass unsere rationale Einsicht und damit Willensfreiheit eine ernstzunehmende kausale Größe darstellt, oder nicht.

Ja. Determiniertheit und kein 'freier Wille'. Ich wüßte nicht, wie 'Einsicht und Vernunft' dem Weg allen Fleisches - nämlich kausal verursacht zu sein - entgehen könnten. Feenstaub?
Vollbreit hat geschrieben:Was ist denn Harris Position dazu? Die hier:
http://hpd.de/node/13135

Ja. Die wiederum hat nicht nur was mit Genen zu tun.

Vollbreit hat geschrieben:Nun geht es aber auch um Harris und der ist ein eisenharter Determinist, der nicht weiter kommt, als bis zu der Vorstellung, dass Determinismus und Freiheit sich kategorisch ausschließen, der die einzige Position der Willensfreiheit bei den Libertariern sieht und die Thesen und Begründungen des Kompatibilismus entweder nicht kennt oder ignoriert.

Würde er als guter Freund von Dennett nicht 'die Thesen und Begründungen des Kompatibilismus' kennen, müsste man in der Tat an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Könntest du dir vorstellen, dass es zu diesem Punkt eine intellektuelle Debatte innerhalb des Naturalismus gibt?

Vollbreit hat geschrieben:Gleichzeitig soll, Harris zufolge, eine moralische Entscheidung aber eine bewusste Entscheidung sein:
Sam Harris hat geschrieben:So I don't think consciousness is an arbitrary starting point. When we're talking about right and wrong, and good and evil, and about outcomes that matter, we are necessarily talking about actual or potential changes in conscious experience.


Das alles zusammen genommen verstehe ich nicht, bin aber offen dafür, dass ich einfach die Pointe verfehlt habe (ich habe den springenden Punkt der naturalistischen Etgik tatsächlich nicht verstanden) und wäre dankbar, wenn ihn mir jemand erklären könnte.

Nun, die Lektüre von Harris' Buch über den freien Willen (statt einer Inhaltsangabe) würde zweifellos helfen. Ansonsten empfehle ich http://www.naturalism.org/freewill.htm.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Myron » Fr 18. Jan 2013, 00:18

ujmp hat geschrieben:Es ist außerdem die falsche Frage, ob man aus dem Naturalismus ein Ethik ableiten kann. Selbstvertsändlich hat ein Naturalist eine Ethik, die insofern durch den Naturalismus geprägt ist, dass darin keine übernatürlichen Begründungen vorkommen.


Der metaphysische Naturalismus (MN) bringt freilich weder Amoralismus noch moralischen Nihilismus mit sich. Damit ist nicht gemeint, dass es unter den metaphysischen Naturalisten keine Amoralisten oder Nihilisten gibt, oder dass der MN mit dem Amoralismus oder Nihilismus unvereinbar ist, sondern nur, dass der Amoralismus oder Nihilismus keine logische Folge des MN ist.

Alle metaphysischen Naturalisten sind im weiteren Sinn ethische Naturalisten, nämlich in dem Sinn, dass ihre moralischen Auffassungen und Begründungen mit dem MN vereinbar sind (keine Berufung auf irgendetwas Übernatürliches); aber nicht alle metaphysischen Naturalisten sind ethische Naturalisten im engeren Sinn. Denn der ethische Naturalismus im engeren Sinn – in demjenigen Sinn, in dem die Bezeichnung "ethischer Naturalismus" in der Metaethik üblicherweise verwendet wird – ist eine Art von ethischem Realismus und damit auch von ethischem Kognitivismus, und sowohl der ethische Nonrealismus als auch der ethische Nonkognitivismus sind mit dem MN vereinbar.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 18. Jan 2013, 01:42

Libertaer hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Auch der Konsenssuche wird unterstellt willkürlich zu agieren, da ja jede Kultur und Zeit ihre Werte hat, aber es angeblich (m.E. ist schon das diese Unterstellung von Harris nicht richtig) keine universellen Werte gäbe, die verlässlichen Charakter haben.

Harris behauptet exakt das Gegenteil und hält diesen Werterelativismus für einen der größten Fehler der Liberalen.

So, wie ich Vollbreit hier verstehe, meint Harris genau das und mitnichten das Gegenteil.

Harris definiert "Werterelativismus" anscheinend so: "ein Werterelativist hält jede Handlung X (z.B. eine Frau zu vergewaltigen) für absolut gleichwertig zu jeder beliebigen anderen Handlung Y (z.B. einer Frau in den Mantel zu helfen)".

Das Problem hier scheint mir aber zu sein, dass es noch niemals einen Werterelativisten in diesem Sinne gegeben hat. Sieht ziemlich aus wie ein Kampf gegen Windmühlen, die noch nicht mal existieren. Merkwürdiges Bild von "Werterelativisten" (oder "Liberalen") das Harris da angreift. Ich finde es nun ziemlich sinnlos, eine Ansicht anzugreifen, die niemand vertritt, sehe den Nutzen dessen nicht so recht. Keine Ahnung, warum Harris das für nötig hält, (wie gesagt: kenne die Situation in den USA nicht. Vielleicht gibt es dort solche extremen Werterealisten. Ich zumindest aber kenne keinen solchen. Und ich möchte nochmal auf diese Rezension von Harris' Buch verweisen, die von einem Werterelativisten geschrieben wurde. Und ich meine, der hat völlig recht mit seinen Einwänden.).

Libertaer hat geschrieben:Ja. Determiniertheit und kein 'freier Wille'. Ich wüßte nicht, wie 'Einsicht und Vernunft' dem Weg allen Fleisches - nämlich kausal verursacht zu sein - entgehen könnten. Feenstaub?

Wieso sollten Determiniertheit und Willensfreiheit sich ausschließende Gegensätze sein? Sieht erst mal aus wie ein unbegründetes Postulat.

Libertaer hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Was ist denn Harris Position dazu? Die hier:
http://hpd.de/node/13135

Ja. Die wiederum hat nicht nur was mit Genen zu tun.

Artikel auf dem HPD sind meiner Erfahrung nach mit größter Vorsicht zu genießen. Nur weil da was steht, kann man noch lange nicht davon ausgehen, dass der Artikel Harris' Ansicht richtig wiedergibt.

Aber nehmen wir für den Moment mal an, er täte es. Zitat:

Wenn wir allerdings von Willensfreiheit im metaphysischen Sinn sprechen, dann meinen wir eine Freiheit von Ursachen. Dann meinen wir, dass nicht der Zustand, in dem sich unser Gehirn zum Zeitpunkt der Entscheidung befindet, unser Wollen bestimmt, sondern etwas völlig anderes. [...] Der freie Wille gilt als Grundlage unserer Moral.

All das sind unbegründetet Behauptungen, Postulate, Dogmen. Dabei nutzt es gar nichts, rhetorische Tricks zu verwenden, wie das "wir". Unbegründete, lediglich behauptete Sachverhalte als nicht hinterfragbare Tatsachen hinzustellen langweilt auf die Dauer einfach nur extremst. Empirische Belege oder aber mal auch nur das klitzekleinste Argument dafür (jedoch ein anderes als das ewige ungältige: "isso, weil ich das nun mal ganz, ganz ernsthaft so meine") wären hingegen mal sehr, sehr schön. Fehlen diese aber, dann kann jeder genausogut das Gegenteil behaupten.

Libertaer hat geschrieben:Würde er als guter Freund von Dennett nicht 'die Thesen und Begründungen des Kompatibilismus' kennen, müsste man in der Tat an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln.

Nein, das folgt nicht. Es folgt nur, dass Harris zu meinen scheint, dass die libertarische Willensfreiheitsauffassung die Vorherrschende sei. Allerdings würde mich brennend interessieren, wie er darauf kommt. Normalerweise setzen Inkompatibilisten das einfach mal eben so schnell voraus, als unhinterfragbare Tatsache, sie machen sich keinerlei Mühe, das in irgendeiner Weise nachzuweisen. "Isso, weil ich das ganz, ganz fest glaube und so sage." Das ist normalerweise alles, was kommt. Oder höchstens noch so ein banaler rhetorischer Trick wie das o.g. "wir glauben das doch alle". Und, nee, mitnichten, das tun wir nicht.

Libertaer hat geschrieben:Nun, die Lektüre von Harris' Buch über den freien Willen (statt einer Inhaltsangabe) würde zweifellos helfen. Ansonsten empfehle ich http://www.naturalism.org/freewill.htm.

Auch der gute Tom Clark hat ein Problem mit dem Kompatibilismus. Den will er nicht so recht zur Kenntnis nehmen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf; weil das seine Ziele einer besseren Strafgesetzgebung in den USA konterkarieren würde. Und er will nicht recht einsehen, dass man dafür auch ganz ohne Verweis auf den freien Willen argumentieren könnte. Sogar viel besser. Dabei nimmt er es in Kauf, alle empirischen Daten einfach zu ignorieren. Wegen des hehren Zieles, da kann man wohl auch mal mit (mE) unlauteren Mitteln arbeiten. Da muss man seine Behauptungen, ("die Leute hängen zum Großteil einer libertarischen Freiheitsauffassung an", "das Strafrecht basiert auf einer libertarischen Freiheitsauffassung"), auch ncht mehr begründen, weil: das Ziel heiligt ja die Mittel. Außerdem sind empirische Untersuchungen (oder Argumente) darüber, die nicht die Meinung von Harris' oder Tom Clark bestätigen, eh völlig falsch, weil die das persönlich ja ganz anders sehen und das daher nicht glauben können. Und eine persönliche Sichtweise übertrumpft jede empirische Untersuchung, weiß man ja, ist logisch. So ein Dogma gilt, weil es geäußert wird, deswegen eben, weil es ja so fest geglaubt wird. Das kann durch keine gegenteiligen Untersuchungen unterminiert werden.

Auch so 'n Dogma wie "alle Handlungen sind egoistisch, d.h. haben das Ziel, den größtmöglichen Nutzen für den Handelnden zu erzielen" darf nicht hinterfragt werden, da müssen alle empirischen Studien, die dieser Auffassung widersprechen, weggedrückt werden. Man ist ja anderer Meinung, weil man das einfach eben schnell mal so glaubt, was kümmern einen also andere Erkenntnisse, die dem widersprechen. Die müssen einfach falsch sein, ganz klar, da muss es einen Fehler geben, auch wenn man den nicht benennen kann.

So eine Einstellung ist ja nun nichts besonders Ungewöhnliches, die haben sicher viele Leute. Höchst merkwürdig wird das aber mE mindestens dann, wenn jemand, der etwas auf Wissenschaft gibt, so eine Unhinterfragbare-Dogmen-Auffassung vertritt. Das finde ich sehr selbstwidersprüchlich.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » Fr 18. Jan 2013, 08:46

@ AgentProvocateur:

Vielen Dank für Deine Erläuterungen!

Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass Ethik und Moral beides sind, relativistisch und strukturell hierarchisch (etwa so, wie bei Kohlberg usw. vorgestellt).

Relativistisch deshalb, weil die Ausprägungen verschiedener Stufen sehr verschieden sein können und ich kann nicht erkennen, wo da eine besser sein sollte, als die andere, da es schon schwer ist, eine Begründung an den extremen Enden zu finden.

Mitleid ist besser als Mord, alle stimmen dem zu, aber warum eigentlich?
Die empirische Forschung die Harris vorschwebt hat ja Kohlberg (und Gilligan, Nunner-Winkler usw.) schon geleistet.

Ich glaube, dass es aber tatsächlich Begründungen gibt, die mit der Reichweite von Empathie und Sorge zu tun haben. Empathie alleine reicht m.E. nicht aus, denn empathisch muss auch der Sadist sein, der sein Opfer besonders effektiv quälen will. Sorge soll hier bedeuten, dass man den aktiven Wunsch verspürt, es möge einem anderen besser gehen.

Kohlberg unterscheidet ja 6 (bis 8) Stufen und in einer groberen Unterteilung 3 Ebenen, präkonventioneller, konventioneller und postkonventioneller Moral.

Man kann ungefähr sagen, dass beim präkonventionellen Level, das Individuum, was Empathie und Sorge angeht, weitgehend auf sich fixiert ist. Alles was es tut, tut es um seinen Profit zu maximieren, ziemlich genau in der von Dakwins vorgestellten Weise, offene Vorteilsnahme oder Kooperation mit dem Blick auf größeren Gewinn.

Mit dem Anbruch des koventionellen Levels wird der Blick erweitert und Empathie und Sorge schließen die Gruppe mit ein, mit der man sich identifiziert, das ist erst mal die Familie, dann die Peergroup, dann eine Fanclub, Verein oder eine sonstige Gemeinschaft, deren Werte man teilt.
Nicht mehr nur, damit man bspw. von Schutz und Versorgung durch die Gruppe profitiert, sondern weil man ehrlich mit dieser Gemeinschaft identifiziert ist und sogar Opfer in Kauf nimmt, wenn damit das Wohlergehen der Gemeinschaft erhöht wird.
Kurz gesagt: Vom Egozentrischen zum Sozio- oder Ethnozentrischen.

Dieser Soziozentrismus wird noch einmal erweitert, wenn man im Laufe des Lebens begreift, dass andere Arten und Herangehensweisen an das Leben nicht grundsätzlich falsch sind und die gefühlte Dominanz des eigenen Ansatzes der Reflexion unterzogen wird. Hier relativiert sich vieles, aber eben nicht alles, Steinigungen nach Ehebruch muss man dennoch nicht gutheißen.
Empathie und Sorge dehnen sich auf alle Menschen aus, es entsteht der Wunsch nach gleichen Rechten und Startmöglichkeiten für alle, weil sie Menschen sind, evtl. dehnt sich die Sorge weiter auf alle fühlenden Wesen aus.
Vom Soziozentrischen zum „Weltzentrischen“.


Warum sollte man sich aber moralisch höher entwickeln? Die Faustregel ist, dass es einem selbst und den anderen besser bekommt, hier fällt mir außer dem Wunsch, dass die meisten Menschen so ticken oder so ticken sollten, auch nichts Besseres ein.
Man kann hier durchaus vom eigenen Wohlergehen ausgehen und sowohl der Buddhismus, als auch der Hedonismus eines Epikur deuten diese Entwicklung an und zeigen, dass man konsequenterweise bei anderen landet, Ausnahmen gibt es dennoch.

Wie kann man das erreichen?
Da m.E. Moral und Ethik nur zu einem geringen Teil angeboren sind, durch Erziehung. Meine These ist, dass der ideologische Hintergrund bei der Wertevermittlung vergleichsweise egal ist, solange es den Erziehern gelingt nicht willkürlich, sadistisch und mit zu viel Gewalt zu erziehen, da das die Entwicklung stoppt oder massiv behindert. Werden grundlegende Werte vermittelt, die man dem Kind m.E. überhaupt nicht erklären muss - mir wäre wichtig, dass mein Kind auf gar keinen Fall blindlings auf die Straße rennt, ob es mit 3 Jahren schon genau versteht, warum es das nicht soll, halte ich für sekundär, im Vertrauen darauf, dass es das später von selbst erkennen wird.
Je älter das Kind, umso mehr kann man erklären und umso mehr wird es vermutlich auch von selbst fragen. - geht die Entwicklung weiter und ich habe nie verstanden, woher die Idee kommt, das Gewissen sei etwas Starres. M.E. Eine hochdynamische Einheit, die, wenn nicht grundlegend behindert, ständig neue Eindrücke, Anregungen, Perpektiven, aus eigenen Erfahrungen, Gesprächen, Büchern und so weiter „verstoffwechselt“.

Die unterstellte Bedeutung, ob eine Ethik oder Moral nun aus religiösen, atheistischen, emprischen, vom Menschen intuitiv gesetzten oder sonstigen Quellen schöpft, halte ich für die Frühphase der Erziehung für weitgehend bedeutungslos (obigen Einschränkungen im Sinn behaltend), später vertraue ich darauf, dass der Einzelne seinen Weg schon suchen und finden wird.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » Fr 18. Jan 2013, 09:06

Lumen hat geschrieben:Der feine Unterschied ist der, dass heute verschiedene gesellschaftliche Situationen oft noch unter "andere Länder, andere Sitten" fallen. Der Westen hadert noch mit seiner kolonialen Vergangenheit, oder am "Deutschen Wesen mag die Welt genesen", weshalb zum Beispiel die Frage, ob es gut ist, dass Frauen vollverschleiert leben, kontrovers behandelt wird.


An der Frage, ob Frauen vollverschleiert leben sollten oder nicht, fällt es mir persönlich schwer ethische Standards festzuzurren, aber generell bin ich kein radikaler Relativist.
Das Klima in den Staaten ist da wohl ein anderes gewesen, Wilber berichtet in einem 1995 veröffentlichten Buch, von einem Prozess in den Staaten, in dem ein Chinese der seine untreue Frau mit dem Hammer erschlagen hat, freigesprochen wurde, da es dort, wo er herkomme eben so Sitte sei. Hier geht Multikulturalismus in Wahnsinn über, kommentierte er und in der Folge sind in den Staaten diverse Bücher erschienen, die dies und Ähnliches (z.B. die „Victimazation“) zum Thema machten.

Ich fand den Polemiker Broder da bei uns angenehm, der als erster Intellektueller in dieser Frage klar und unmissverständlich Stellung bezogen hat und würde mich ungefähr allem was er dazu geschrieben hat, anschließen.

Lumen hat geschrieben:Du selbst gehst an die Sache aber bereits mit mangelndem guten Willen heran, bist also sehr voreingenommen.


Es ist schon nicht ganz ohne Ironie, von Dir einen Appell an den guten Willen zu lesen.
Nicht, dass der Appell unberechtigt wäre, aber ich erinnere mich an endlose Tiraden von Deiner Seite, mit dem Inhalt, warum gerade jener eingeforderte gute Wille, ein ganz übler Trick sei, der verschleiern soll und so weiter.
Aber ich gehe mal davon aus, dass Du Dich zukünftig an Deine eigenen Zeilen hier erinnern wirst. ;-)

Lumen hat geschrieben:Das sehe ich daran, dass du bereits im Vorfeld beliebige Hürden aufstellst, die aber sonderbarerweise nur für Leute und Positionen gelten, denen du nicht zustimmst und zustimmen wirst. Daher sind diese Überlegungen bereits im Vorfeld deiner Meinung nach unnützlich. Wenn das aber so ist, sollte die erste Frage sein: was erhoffst du dir von einer Diskussion?


Ich teile Deine Einschätzung ja nicht, aber ich erhoffe mir von jeder Diskussion Erkenntniszuwachs. Meine generelle Einschätzung habe ich in der Antwort an Agent in groben Zügen dargestellt, wenn Du darüber mit mir diskutieren möchtest, dann immer gerne.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Libertaer » Fr 18. Jan 2013, 09:45

Hier noch ein Beitrag von Harris darüber, worin sein Standpunkt zum 'freien Willen' sich von dem Dennetts unterscheidet:
Free Will and “Free Will”
How my view differs from Daniel Dennett's
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » Fr 18. Jan 2013, 10:00

Libertaer hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Auch der Konsenssuche wird unterstellt willkürlich zu agieren, da ja jede Kultur und Zeit ihre Werte hat, aber es angeblich (m.E. ist schon das diese Unterstellung von Harris nicht richtig) keine universellen Werte gäbe, die verlässlichen Charakter haben.

Harris behauptet exakt das Gegenteil und hält diesen Werterelativismus für einen der größten Fehler der Liberalen.


Ich deute Harris hier so, wie Agent.
Er ist gegen einen Werterelativismus (so wie der Papst ;-) ) und schnitzt diesen Werterelativismus so grob, dass ich auch nicht erkennen kann, wer ihn in dieser Weise vertritt.
(Die Kritik gegen einen Werterelativismus müsste m.E. lauten, dass Werterelativisten einem Selbstwiderspruch unterliegen: Sie negieren, dass es bessere und schlechtere Werte gibt, verkennen aber gleichzeitig, dass ihr relativistischer Standpunkt, wenn er moderat, klug und fair ist, gleichzeitig ein sehr hochentwickelter Standpunkt ist, den es gemäß ihrer Ideologie aber nicht geben darf. Zugleich verkennen Werterelativisten oft, dass es eine entwicklungspsychologische Hierarchie von allem Möglichen gibt: Intelligenz, Empathie, Kommunikation usw. in deren Folge dann die höheren Werte erscheinen können, aber nicht müssen.)


Libertaer hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:
Libertaer hat geschrieben:Aber als Spielverderber hätte ich da doch ganz gerne wenigstens einen Beleg für die Postulierung von 'angeborenen Wünschen' und dafür, wie angeblich aus Zahlen auf ein Sollen geschlossen wird.


Die Frage wollte ich stellen: Was sind die Kriterien anhand derer auf ein Sollen geschlossen wird?
Was macht eine moralische Wahrheit zu einer solchen?

Was ist an der Frage: Wer spricht wo von 'angeborenen Wünschen'? unklar? Ich wüßte gerne, woher du diesen Unfug hast.


Es gibt in letzter Zeit eine breite Front an Forschungen auf dem Gebiet der Biologie, die sich mit Auswirkungen auf unser Bewusstsein beschäftigt, Säuglingsforschung, Primatenforschung, Affektforschung, Hirnforschung und so weiter.
Als Beispiel seien genannt, die berühmtberüchtigten Spiegelneuronen oder die Forschungen von de Waal an Primaten, in denen er zeigen konnte, dass einige Primaten von sich aus teilen, wenn sie das Empfinden haben (könnten) ein anderer Primat würde ungerecht behandelt.
Aus diesen (und anderen) Ergebnissen wird manchmal der m.E. nicht ganz falsche, aber auch nicht ganz richtige Schluss gezogen, alles Wesentliche was man zur Moral braucht, sei angeboren. Empathie über die Spiegelneuronen, ein Verlangen nach Fairnesss ist bei Primaten spontan zu beobachten. Ich finde das interessant, aber oft kommt es zu Schnellschüssen.

Das Spektrum der biologischen Möglichkeiten reicht vom Spaß am Töten über die Kooperation bishin zur echten Fairness und da dieses Spektrum so breit ist, ist nach wie vor vollkommen unklar, welche der Verhaltensoptionen gewählt wird.
M.E. ist das eine Frage, die nicht auf der Ebene der Biologie entschieden wird und so wie ich das zuweilen höre, scheint diesbezüglich unter Biologen kein Konsens zu herrschen.

Speziell bei Harris – dessen Buch ich nun aber auch nicht gelesen habe – ist mir unklar, wie die Begründung für die moralische These, die er unterstellt, man sollte die Absicht verfolgen, das Wohlergehen der bewussten Wesen zu vergrößern, denn nun lautet.
Weil Gott das so will, ist nicht seine.
Weil man das nun mal so wollen soll, ist keine Begründung.
Weil das jedem denkenden Menschen unmittelbar klar sein muss, rekurriert auf Evidenzen, aber ich weiß nicht, ob das nicht ein wenig zu hoch gepokert ist.
Weil es gut ist, wäre zirkulär.

Was da als objektiv verkauft werden soll, ist m.E. eine schon längst bestehende, intersubjektive Vereinbarung, die sich als grobe, aber schwer zu begründende Formel fürs Leben bewährt hat und die darum tradiert wird. Gesagt wurde aber, hier ginge es um eine Naturalisierung, eine Objektivierung und so weiter, das ist ja nun nicht meine Behauptung und ich kann nicht so recht erkennen, wo dieser Ankündigung entsprochen wird, über Banalitäten hinaus.

Darüber hinaus habe ich mir von einer Naturalisierung versprochen, dass sie erklärt, warum wir überhaupt sollen sollten. Daraus, dass soundsoviel Prozent der erwachsenen Männer Hosen tragen, folgt m.E. noch nichts Unmittelbares, was erklärt, warum sie es tun.

Libertaer hat geschrieben:Was die Frage von Dawkins' Position zum 'freien Willen' angeht: Ich kann nur sagen, er eiert rum. Irgendwo sagte er, die Frage des 'freien Willens' sei für ihn keine Frage, die ihn besonders interessiert.
Das hat aber wenig mit der Frage des Verhältnisses von Naturalismus und Determiniertheit zu tun, weil der Naturalismus zwar von einer Determiniertheit ausgeht, diese aber nicht nur genetisch begründet.


Ich hatte ja weitere Begründungen ausdrücklich eingeschlossen.
Man muss Dawkins zugestehen, dass ihn bestimmte Fragen nicht interessieren müssen, dass er aber unklar in der Frage ist, war ja auch mein Befund.

Libertaer hat geschrieben:Ja. Determiniertheit und kein 'freier Wille'. Ich wüßte nicht, wie 'Einsicht und Vernunft' dem Weg allen Fleisches - nämlich kausal verursacht zu sein - entgehen könnten. Feenstaub?


Kompatibilismus. Du gestattest, dass ich diese Diskussion nicht wieder aufwärme, da ich sie mehrfach geführt habe und momentan nur bei wirklich gravierenden Einwänden gegen den Kompatibilismus aus dem Winterschlaf erwachen würde.
Ich kann Dir aber den gut gemeinten (und hoffentlich nicht übergriffigen) Tipp geben, dies mit Agent zu diskutieren, der, soweit ich das beurteilen kann, immer gerne bereit ist, das Thema zu diskutieren und bei weitem der Kompetenteste ist, den ich je zu dem Thema gelesen habe, so gut wie alle Philosophen eingeschlossen.

Libertaer hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Was ist denn Harris Position dazu? Die hier:
http://hpd.de/node/13135

Ja. Die wiederum hat nicht nur was mit Genen zu tun.


Ich weiß, das wollte ich auch nicht behaupten.

Libertaer hat geschrieben:Würde er als guter Freund von Dennett nicht 'die Thesen und Begründungen des Kompatibilismus' kennen, müsste man in der Tat an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Könntest du dir vorstellen, dass es zu diesem Punkt eine intellektuelle Debatte innerhalb des Naturalismus gibt?


Ja klar, hilfreich ist aber immer, wenn man erkennt, dass jemand an dieser Debatte auch teilnimmt.
Dennetts Kompatibilismus ist übrigens ein etwas sonderbarer.
http://www.philosophieverstaendlich.de/ ... nnett.html

Libertaer hat geschrieben:Nun, die Lektüre von Harris' Buch über den freien Willen (statt einer Inhaltsangabe) würde zweifellos helfen. Ansonsten empfehle ich http://www.naturalism.org/freewill.htm.


Danke, ich habe mich relativ ausführlich mit dem Thema beschäftigt und zahlreiche Bücher dazu gelesen. Aber das ist ja eigentlich auch ein anderes Thema.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Fr 18. Jan 2013, 11:47

Vollbreit hat geschrieben:
Libertaer hat geschrieben:Was die Frage von Dawkins' Position zum 'freien Willen' angeht: Ich kann nur sagen, er eiert rum. Irgendwo sagte er, die Frage des 'freien Willens' sei für ihn keine Frage, die ihn besonders interessiert.
Das hat aber wenig mit der Frage des Verhältnisses von Naturalismus und Determiniertheit zu tun, weil der Naturalismus zwar von einer Determiniertheit ausgeht, diese aber nicht nur genetisch begründet.


Ich hatte ja weitere Begründungen ausdrücklich eingeschlossen.
Man muss Dawkins zugestehen, dass ihn bestimmte Fragen nicht interessieren müssen, dass er aber unklar in der Frage ist, war ja auch mein Befund.
Wo ist denn dann dein Problem mit Dawkins Äußerungen? Dadurch, dass wir zwar vollständig determiniert, aber eben nicht nur Gen-determiniert sind, haben wir die Fähigkeit, uns mit unserem Verhalten in einem gewissen Rahmen zu bewegen. Der Begriff der inneren und äußeren Handlungsfreiheit beschreibt wohl das, was Dawkins meint: Wir können mit unserem Bewusstsein unser Verhalten beeinflussen und so auch gegen die Tendenzen unser angeborenen Verhaltensweisen anarbeiten. Das widerspricht einer streng (physikalisch-)deterministischen (inkompatiblistischen) Sichtweise keineswegs.

Michael Schmidt-Salomon beschreibt in seinem Buch "Jenseits von Gut und Böse", wie Ethik und Moral sich unter der Annahme der Nicht-Existenz eines freien Willens auffassen und gestalten lassen. Seine Position ist unter Kritischer Konventionalismus einzuordnen, würde ich sagen. Er ist ja auch Hauptvertreter des evolutionären Humanismus
Meine Ansicht ist ähnlich: Die Herkunft bzw. der Ursprung von Wert- oder Moralvorstellungen muss nicht ergründet oder begründet werden. Es reicht, wenn ein Individuum diese Vorstellungen hat. Eine Ethik für eine Gesellschaft ergibt sich dann als Schnittmenge/Übereinstimmung der Vorstellungen der beteiligten Individuen. Dabei mag der Eine seine Vorstellungen aus seiner Religion beziehen, der Andere aus einem ethisch-realistischen Naturalismus, der dritte wiederum sieht seine Werte einfach als Konstrukt seiner sozialen Umgebung. Entscheidend ist m.A.n. lediglich, dass von keiner Seite ein Absolutheitsanspruch für die eigenen Moralvorstellungen aufgestellt wird, sondern dass eine Ethik sich aus einem demokratischen Prozess mit gegenseitigem Respekt ergibt - was natürlich ein Problem für die meisten Vertreter eines ethischen Realismus darstellen dürfte.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Libertaer » Fr 18. Jan 2013, 12:50

Vollbreit hat geschrieben:Ich deute Harris hier so, wie Agent.
Er ist gegen einen Werterelativismus (so wie der Papst ;-) ) und schnitzt diesen Werterelativismus so grob, dass ich auch nicht erkennen kann, wer ihn in dieser Weise vertritt.
(Die Kritik gegen einen Werterelativismus müsste m.E. lauten, dass Werterelativisten einem Selbstwiderspruch unterliegen: Sie negieren, dass es bessere und schlechtere Werte gibt, verkennen aber gleichzeitig, dass ihr relativistischer Standpunkt, wenn er moderat, klug und fair ist, gleichzeitig ein sehr hochentwickelter Standpunkt ist, den es gemäß ihrer Ideologie aber nicht geben darf. Zugleich verkennen Werterelativisten oft, dass es eine entwicklungspsychologische Hierarchie von allem Möglichen gibt: Intelligenz, Empathie, Kommunikation usw. in deren Folge dann die höheren Werte erscheinen können, aber nicht müssen.)

Harris schreibt (sorry, ich bin zu faul, das auch noch zu übersetzen):
Secular liberals, on the other hand, tend to imagine that no objective answers to moral questions exist. While John Stuart Mill might conform to our cultural ideal of goodness better than Osama bin Laden does, most secularists suspect that Mill's ideas about right and wrong reach no closer to thr Truth. Multiculturalism, moral relativism, political correctness tolerance even of intolerance - these are the familiar consquences of seperating facts and values on the left.

It should concern us that these two orientations are not equally empowering. Increasingly, secular democracies are left supine before the unreasoning zeal of old-time religion. The juxtaposition of conservative dogmatism and liberal doubt accounts for the decade that has been lost in the United States to a ban on federal funding for embryonic stem-cell research; it explains the years of political distraction we have suffered, and will continue to suffer, over issues like abortion and gay marriage; it lies at the bottom of current efforts to pass antiblasphemy laws at the United Nations (which would make it illegal for the citizens of member states to criticize religion); it has hobbled the West in its generational war against radical Islam; it may yet refashion the societies of Europe into a new Caliphate. Knowing what the Creator of the Universe believes about right and wrong inspires religious conservatives to enforce this vision in the public sphere at almost any cost; not knowing what is right - or that anything can ever be truly right - often leads secular liberals to surrender their intellectual standards and political freedom with both hands.

Ich fürchte, das ist für dich zu 'grob geschnitzt'...

Vollbreit hat geschrieben:Es gibt in letzter Zeit eine breite Front an Forschungen auf dem Gebiet der Biologie, die sich mit Auswirkungen auf unser Bewusstsein beschäftigt, Säuglingsforschung, Primatenforschung, Affektforschung, Hirnforschung und so weiter.
Als Beispiel seien genannt, die berühmtberüchtigten Spiegelneuronen oder die Forschungen von de Waal an Primaten, in denen er zeigen konnte, dass einige Primaten von sich aus teilen, wenn sie das Empfinden haben (könnten) ein anderer Primat würde ungerecht behandelt.
Aus diesen (und anderen) Ergebnissen wird manchmal der m.E. nicht ganz falsche, aber auch nicht ganz richtige Schluss gezogen, alles Wesentliche was man zur Moral braucht, sei angeboren. Empathie über die Spiegelneuronen, ein Verlangen nach Fairnesss ist bei Primaten spontan zu beobachten. Ich finde das interessant, aber oft kommt es zu Schnellschüssen.

Das Spektrum der biologischen Möglichkeiten reicht vom Spaß am Töten über die Kooperation bishin zur echten Fairness und da dieses Spektrum so breit ist, ist nach wie vor vollkommen unklar, welche der Verhaltensoptionen gewählt wird.
M.E. ist das eine Frage, die nicht auf der Ebene der Biologie entschieden wird und so wie ich das zuweilen höre, scheint diesbezüglich unter Biologen kein Konsens zu herrschen.

Die Spiegelneuronen wollte ich selber schon erwähnen. Aber warum 'berühmtberüchtigt'? Mich nerven diese rhetorischen Tricks: Auch, wenn die Forschung zu den Spiegelneuronen noch am Anfang steht und ihre Bedeutung (vielleicht) von Manchen überschätzt wird - mit 'berühmtberüchtigt' wird gleich insinuiert, dass sie 'eigentlich' nicht sonderlich relevant für das Thema sind. Ich denke, sie sind es.

Und natürlich kenne ich kaum jemanden, der behauptet, 'alles Wesentliche was man zur Moral braucht, sei angeboren'. Aber nehmen wir mal an, 'alles Wesentliche was man zur Moral braucht, sei angeboren': Was wäre so schlimm daran? Ist das die ultimative narzisstische Kränkung?
Die Frage nach dem 'freien Willen' ist nicht nur eine akademische, und imho muss man auch Techniken entwickeln, wie man mit der Erkenntnis des Fehlens umgeht. Susan Blackmore schreibt in der Antwort auf die 'Edge'-Frage 2005 ('What Do You Believe Is True Even Though You Cannot Prove It'):
It is possible to live happily and morally without believing in free will. As Samuel Johnson said "All theory is against the freedom of the will; all experience is for it." With recent developments in neuroscience and theories of consciousness, theory is even more against it than it was in his time, more than 200 years ago. So I long ago set about systematically changing the experience. I now have no feeling of acting with free will, although the feeling took many years to ebb away.

But what happens? People say I'm lying! They say it's impossible and so I must be deluding myself to preserve my theory. And what can I do or say to challenge them? I have no idea—other than to suggest that other people try the exercise, demanding as it is.

When the feeling is gone, decisions just happen with no sense of anyone making them, but then a new question arises—will the decisions be morally acceptable? Here I have made a great leap of faith (or the memes and genes and world have done so). It seems that when people throw out the illusion of an inner self who acts, as many mystics and Buddhist practitioners have done, they generally do behave in ways that we think of as moral or good. So perhaps giving up free will is not as dangerous as it sounds—but this too I cannot prove.

As for giving up the sense of an inner conscious self altogether—this is very much harder. I just keep on seeming to exist. But though I cannot prove it—I think it is true that I don't.

Eine ihrer Strategien besteht darin, Zen-Meditation zu praktizieren, und ihr Buch 'Ten Zen Questions' empfehle ich allen, denen daran gelegen ist, wissenschaftliche Erkenntnisse mit persönlicher Verhaltensänderung zu verbinden. Du wirst lachen: Ich hatte auch mal eine sehr 'wilberistische' Phase. Blackmore hat mich da 'geheilt', weil von ihr nie 'formalisierte Meditationen' kamen ('Setze deinen Namen in das Feld ein, und wir senden dir eine auf dich zugeschnittene Meditation' - Dieser Schwachsinn hat mich von 'Integral' sehr viel sinnvoller 'geheilt', als die Erkenntnis, dass die 'Theorie von Allem' eher albern ist. Aber ich muss zugeben, dass ich die 'integrale Gymnastik', die mir vorgeschlagen wurde, um irgendwas zu öffnen, auch sehr lustig fand.).

Vollbreit hat geschrieben:Speziell bei Harris – dessen Buch ich nun aber auch nicht gelesen habe – ist mir unklar, wie die Begründung für die moralische These, die er unterstellt, man sollte die Absicht verfolgen, das Wohlergehen der bewussten Wesen zu vergrößern, denn nun lautet.
Weil Gott das so will, ist nicht seine.
Weil man das nun mal so wollen soll, ist keine Begründung.
Weil das jedem denkenden Menschen unmittelbar klar sein muss, rekurriert auf Evidenzen, aber ich weiß nicht, ob das nicht ein wenig zu hoch gepokert ist.
Weil es gut ist, wäre zirkulär.

'3' ist wahrscheinlich (nach Harris) richtig. Heiliger St. Charles, ich verschwende meinen letzten freien Tag, ich bin zu eitel:
For my arguments about the moral landscape to hold, I think one need only grant two points: (1) some people have better lives than others, and (2) these differences relate, in some lawful and not entirely arbitrary way, to states of the human brain and to states of the world. To make these premises less abstract, consider two generic lives that lie somewhere near the extremes on this continuum:

The Bad Life
You are a young widow who has lived her entire life in the midst of civil war. Today, your seven-year-old daughter was raped and dismembered before your eyes. Worse still, the perpetrator was your fourteen-year-old son, who was goaded to this evil at the point of a machete by a press gang of drug-addled soldiers. You are now running barefoot through the jungle with killers in pursuit. While this is the worst day of your life, it is not entirely out of character with the other days of your life: since the moment you were born, your world has been a theater of cruelty and violence. You have never learned to read, taken a hot shower, or traveled beyond the green hell of the jungle. Even the luckiest people you have known have experienced little more than an occasional respite from chronic hunger, fear, apathy, and confusion. Unfortunately, you've been very unlucky, even by these bleak standards. Your life has been one long emergency, and now it's nearly over.

The Good Life
You are married to the most loving, intelligent, and charismatic person you have ever met. Both of you have careers that are intellectually stimulating and financially rewarding. For decades, your wealth and social connections have allowed you to devote yourself to aktivities that bring you immense personal satisfaction. One of your greatest sources of happiness has been to find creative ways to help people who have not had yor good fortune in life. In fact, you have just won a billion-dollar grant to benefit children in the developing world. If asked, you would say that you could not imagine how your time on earth could be better spent. Due to a combination of good genes and optimal circumstances, you and your closest friends and family will live very long, healthy lives, untouched by crime, sudden bereavements, and other misfortunes.

(...)

Let me simply concede that if you don't see a distinction between these two lives that is worth valuing (premise 1 above), there may be nothing I can say that will attract you to my view of the moral landscape. Likewise, if you admit that these lives are different, and that one is surely better than the other, but you believe these differences have no lawful relationship to human behavior, societal conditions, or states of the brain (premise 2), then you will also fail to see the point of my argument.

(...)

Ask yourself, if the difference between the Bad Life and The Good Life doesn't matter to a person, what could possibly matter to him? Is it conceivable that something might matter more than this difference?
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 18. Jan 2013, 18:35

Libertaer hat geschrieben:Hier noch ein Beitrag von Harris darüber, worin sein Standpunkt zum 'freien Willen' sich von dem Dennetts unterscheidet:
Free Will and “Free Will”
How my view differs from Daniel Dennett's

Zitat daraus:
In Free Will, I argue that people are mistaken in believing that they are free in the usual sense. I claim that this realization has consequences—good ones, for the most part—and for that reason we should not gloss over it by revising our definition of “free will” too quickly.

Es ist leider immer wieder derselbe Fehler. Man kann ihn auch hier sehen: Michael Schmidt-Salomon - Können wir wollen, was wir wollen?

Die Klärung der Frage, ob es so etwas wie innere Freiheit überhaupt gibt oder nicht, ist dabei nicht nur von akademischen Interesse. Die herrschende Idee, die Menschen seien - von pathologischen Fällen einmal abgesehen - frei in ihren Willensentscheidungen [*], hat verheerende praktische Folgen in Wissenschaft und Alltag, in der Kindeserziehung, der Justiz, in der Wirtschaft, auf der Ebene des Mikro-, Meso-, und Makrokosmos. Dieser Aufsatz soll dazu beitragen, daß die Idee der Willensfreiheit [*] als prämoderner Hokuspokus erkannt und wegen der ihr anhaftenden Inhumanität aufgegeben werden kann. Ich bin mir darüber im klaren, daß die hier entwickelte Sichtweise sowohl dem Alltagsverstand als auch der herrschenden philosophischen/theologischen Meinung widerspricht [...]
* frei im Sinne, den MSS definiert = "frei von Ursachen"

Der Fehler liegt darin, dass unbegründet grundlegende Annahmen getroffen werden und darauf dann die gesamte folgende Argumentation aufgebaut wird. Diese Grundannahmen sind: a) eine Mehrzahl der Leute glaubt an einen "free will in the usual sense" (Sam Harris), bzw. an eine "innere Freiheit von Ursachen" (MSS) und b) diverse Institutionen in unserer Gesellschaft, (z.B. Kindeserziehung, Justiz, Wirtschaft), basieren stark auf einem solchen "free will in the usual sense", bzw. "inneren Freiheit von Ursachen", bzw. "contra-causal free will" (Tom Clarke, naturalism.org) und müssten sich daher grundlegend ändern, wenn es einen solchen freien Willen nicht gäbe.

Aber solche wichtigen und wesentlichen Grundannahmen müssen nun mal leider erst mal plausibel gemacht werden. Ansonsten ist eine Argumentation, die darauf aufbaut, nutzlos. Ich halte diese Grundannahmen nicht für selbstevident. Außerdem sind sind sie im Falle a) empirisch nachprüfbar. Ist mir wirklich unklar, wie jemand mit einem wissenschaftlichen Anspruch eine Argumentation auf unbegründeten Prämissen aufbauen kann.

Aber das nur nebenbei, das hier ist ja keine "Willensfreiheit"-Diskussion.
----
Mal zurück zu Harris' Buch "Moral Landscape". Ich hatte ja oben schon die Rezension dieses Buches von Russell Blackford verlinkt, hier nun noch ein Link der Antwort von Harris (u.a. und vor allem auch auf Blackfords Rezension):

Sam Harris - A Response to Critics

Dort stellt er auch seine Ansicht nochmal zusammenfassend dar.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 18. Jan 2013, 18:49

fopa hat geschrieben:Meine Ansicht ist ähnlich: Die Herkunft bzw. der Ursprung von Wert- oder Moralvorstellungen muss nicht ergründet oder begründet werden. Es reicht, wenn ein Individuum diese Vorstellungen hat. Eine Ethik für eine Gesellschaft ergibt sich dann als Schnittmenge/Übereinstimmung der Vorstellungen der beteiligten Individuen. Dabei mag der Eine seine Vorstellungen aus seiner Religion beziehen, der Andere aus einem ethisch-realistischen Naturalismus, der dritte wiederum sieht seine Werte einfach als Konstrukt seiner sozialen Umgebung. Entscheidend ist m.A.n. lediglich, dass von keiner Seite ein Absolutheitsanspruch für die eigenen Moralvorstellungen aufgestellt wird, sondern dass eine Ethik sich aus einem demokratischen Prozess mit gegenseitigem Respekt ergibt - was natürlich ein Problem für die meisten Vertreter eines ethischen Realismus darstellen dürfte.

Ich sehe zwar nun nicht, was das mit Michael Schmidt-Salomon und dessen Auffassungen über den freien Willen zu tun hat, aber ansonsten stimme ich dem ziemlich vorbehaltlos zu. Klar, viele ethische Realisten haben daran wohl ziemlich zu knabbern, aber das gilt ebenso für viele Vertreter einer religiösen Moral/Ethik, (denn auch die glauben daran, dass moralische Aussagen einen Wahrheitswert haben können, die sind also ebenfalls ethische Realisten).

Die Frage, die Harris in seinem Buch "Moral Landscape" vor allem behandelt, nämlich ob es moralische Wahrheiten gibt, ob also der ethische Realismus richtig ist oder nicht, erscheint mir eher untergeordnet zu der Frage, wie man eine akzebtable Ethik für eine Gesellschaft entwickeln kann. Und da erscheint mir die von Dir vorgeschlagene Vorgehensweise, nämlich zu versuchen, die Übereinstimmungen/Schnittmengen zu finden, sehr viel zielführender zu sein als ein (mE fundamentalistischer) Streit darüber, wer letztlich recht hat, wer die Wahrheit besitzt.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 18. Jan 2013, 19:17

Libertaer hat geschrieben:Harris schreibt (sorry, ich bin zu faul, das auch noch zu übersetzen):
Secular liberals, on the other hand, tend to imagine that no objective answers to moral questions exist. While John Stuart Mill might conform to our cultural ideal of goodness better than Osama bin Laden does, most secularists suspect that Mill's ideas about right and wrong reach no closer to thr Truth. Multiculturalism, moral relativism, political correctness tolerance even of intolerance - these are the familiar consquences of seperating facts and values on the left.

It should concern us that these two orientations are not equally empowering. Increasingly, secular democracies are left supine before the unreasoning zeal of old-time religion. The juxtaposition of conservative dogmatism and liberal doubt accounts for the decade that has been lost in the United States to a ban on federal funding for embryonic stem-cell research; it explains the years of political distraction we have suffered, and will continue to suffer, over issues like abortion and gay marriage; it lies at the bottom of current efforts to pass antiblasphemy laws at the United Nations (which would make it illegal for the citizens of member states to criticize religion); it has hobbled the West in its generational war against radical Islam; it may yet refashion the societies of Europe into a new Caliphate. Knowing what the Creator of the Universe believes about right and wrong inspires religious conservatives to enforce this vision in the public sphere at almost any cost; not knowing what is right - or that anything can ever be truly right - often leads secular liberals to surrender their intellectual standards and political freedom with both hands.

Ich fürchte, das ist für dich zu 'grob geschnitzt'...

Für mich ist das allerdings viel zu grob geschnitzt. Für Dich etwa nicht?

Die Argumentation von Harris hier:

P. ein Werterelativist glaubt, dass moralische/ethische Sätze keinen Wahrheitswert haben
----
K. also kann der Werterelativist nicht zwischen "gut" und "schlecht" unterscheiden, für ihn muss alles gleich zu bewerten sein

ist leider falsch. Die Prämisse ist richtig, aber die Konklusion folgt nicht. Auch ein Werterelativist kann - basierend auf Interessen und Präferenzen - gute von schlechten Handlungen unterscheiden.

(Naja, und "Werterelativismus führt in Europa vielleicht zu Kalifaten" ist ein bisschen merkwürdig.)

Libertaer hat geschrieben:'3' ist wahrscheinlich (nach Harris) richtig. Heiliger St. Charles, ich verschwende meinen letzten freien Tag, ich bin zu eitel:
For my arguments about the moral landscape to hold, I think one need only grant two points: (1) some people have better lives than others, and (2) these differences relate, in some lawful and not entirely arbitrary way, to states of the human brain and to states of the world. To make these premises less abstract, consider two generic lives that lie somewhere near the extremes on this continuum:

The Bad Life
You are a young widow who has lived her entire life in the midst of civil war. [...]

The Good Life
You are married to the most loving, intelligent, and charismatic person you have ever met. Both of you have careers that are intellectually stimulating and financially rewarding. [...]
(...)

Let me simply concede that if you don't see a distinction between these two lives that is worth valuing (premise 1 above), there may be nothing I can say that will attract you to my view of the moral landscape. Likewise, if you admit that these lives are different, and that one is surely better than the other, but you believe these differences have no lawful relationship to human behavior, societal conditions, or states of the brain (premise 2), then you will also fail to see the point of my argument.

(...)

Ask yourself, if the difference between the Bad Life and The Good Life doesn't matter to a person, what could possibly matter to him? Is it conceivable that something might matter more than this difference?

Natürlich werden die meisten Leute zustimmen, dass das hier beschriebene "Bad Life" besser sei als das hier beschrieben "Good Life". Weil das "Good Life" viel eher ihren Interessen, Präferenzen und Zielen entspricht als das "Bad Life". Daraus folgt jedoch nicht, dass der Satz: "das hier beschriebene 'Good Life' ist besser als das hier beschriebene 'Bad Life' " eine moralische Wahrheit darstellen würde.

Ein anderes Problem mit diesem Beispiel ist noch, dass nicht sauber unterschieden wird zwischen folgenden beiden Situationen:

1. Stelle Dir vor, Du wärst jeweils in den beschriebenen Situationen, ansonsten sei alles gleich, welche Situation würdest Du dann vorziehen?
2. Stelle Dir beide Situationen vor mit zwei unterschiedlichen Personen darin und entscheide, welches Leben besser ist?

Die Frage 1 ist sicher für die meisten Leute leicht zu beantworten, aber ist die Frage 2 ebenenso leicht zu beantworten? Ich denke nicht und ich denke auch nicht, dass man die beiden Fragen, die mE sehr unterschiedlich sind, hier so vermischen darf, wie das Harris anscheinend tut.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Libertaer » Fr 18. Jan 2013, 19:24

Nuemand von uns ist sicher. Wir sind alle nur Groupies von Philosophen.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Myron » Fr 18. Jan 2013, 21:03

Zum moralischen Relativismus:

http://plato.stanford.edu/entries/moral-relativism/

http://www.iep.utm.edu/moral-re/

1. individueller moralischer Relativismus (IMR): "x ist gut/richtig/unrichtig/falsch/schlecht/böse" bedeutet "Ich finde/Person Y findet x gut/richtig/unrichtig/falsch/schlecht/böse", und jeder soll seinen eigenen Moral folgen.
(IMR ist nicht gleich moralischer Egoismus, da ich altruistisches Handeln ja durchaus gut/richtig finden kann.)

2. kultureller moralischer Relativismus (KMR): "x ist gut/richtig/unrichtig/falsch/schlecht/böse" bedeutet "Wir finden/Personenkollektiv Y findet x gut/richtig/unrichtig/falsch/schlecht/böse", und jeder soll der Moral seiner Gesellschaft folgen.

Davon ist zu unterscheiden:

3. deskriptiver moralischer Pluralismus (DMP): Es herrscht eine Vielfalt an gegensätzlichen moralischen Meinungen und Werten.
4. normativer moralischer Pluralismus (NMP): Die herrschende Vielfalt an gegensätzlichen moralischen Meinungen und Werten ist begrüßens- und erhaltenswert.

5. moralischer Tolerantismus (MT): Im Fall moralischer Meinungsverschiedenheit soll die Meinung des/der anderen toleriert werden.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Myron » Fr 18. Jan 2013, 21:26

AgentProvocateur hat geschrieben:Die Argumentation von Harris hier:

P. ein Werterelativist glaubt, dass moralische/ethische Sätze keinen Wahrheitswert haben
----
K. also kann der Werterelativist nicht zwischen "gut" und "schlecht" unterscheiden, für ihn muss alles gleich zu bewerten sein

ist leider falsch. Die Prämisse ist richtig, aber die Konklusion folgt nicht. Auch ein Werterelativist kann - basierend auf Interessen und Präferenzen - gute von schlechten Handlungen unterscheiden.


Die Prämisse ist falsch, weil der moralische Relativismus nicht den moralischen Nonkognitivismus einschließt. Relativisten behaupten nicht, dass moralische Urteile keinen Wahrheitswert haben, sondern dass ihr Wahrheitswert relativ zu Individuen oder Kollektiven ist. Das heißt, die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils hängt von der Billigung oder Missbilligung durch Einzelpersonen oder Personengruppen ab. Relative Wahrheit ist nicht dasselbe wie Nichtwahrheit. (Ob relative Wahrheit überhaupt verdient, als Wahrheit zu gelten, ist allerdings fraglich.)

Der moralische Relativismus ist nicht Ausdruck einer "anything goes"-Haltung. Relativisten unterscheiden sehr wohl zwischen guten und schlechten Handlungen.
Dabei kommt es darauf an, ob sie die Handlungen oder Einstellungen anderer nach ihrer eigenen moralischen Auffassungen beurteilen oder nach denjenigen der anderen. In der englischen Fachliteratur wird zwischen appraiser relativism und agent relativism unterschieden. Im Deutschen könnte man dafür die Bezeichnungen "autonomer Relativismus" und "heteronomer Relativismus" verwenden.

"It is important to note several distinctions that may be made in formulating different metaethical relativist positions. First, it is sometimes said that the truth or justification of moral judgments may be relative to an individual person as well as a group of persons. …Second, that to which truth or justification is relative may be the persons making the moral judgments or the persons about whom the judgments are made. These are sometimes called appraiser and agent relativism respectively. Appraiser relativism suggests that we do or should make moral judgments on the basis of our own standards, while agent relativism implies that the relevant standards are those of the persons we are judging (of course, in some cases these may coincide). Appraiser relativism is the more common position…."

http://plato.stanford.edu/entries/moral-relativism/
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 18. Jan 2013, 21:54

Myron hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Die Argumentation von Harris hier:

P. ein Werterelativist glaubt, dass moralische/ethische Sätze keinen Wahrheitswert haben
----
K. also kann der Werterelativist nicht zwischen "gut" und "schlecht" unterscheiden, für ihn muss alles gleich zu bewerten sein

ist leider falsch. Die Prämisse ist richtig, aber die Konklusion folgt nicht. Auch ein Werterelativist kann - basierend auf Interessen und Präferenzen - gute von schlechten Handlungen unterscheiden.

Die Prämisse ist falsch, weil der moralische Relativismus nicht den moralischen Nonkognitivismus einschließt. Relativisten behaupten nicht, dass moralische Urteile keinen Wahrheitswert haben, sondern dass ihr Wahrheitswert relativ zu Individuen oder Kollektiven ist. Das heißt, die Wahrheit oder Falschheit eines moralischen Urteils hängt von der Billigung oder Missbilligung durch Einzelpersonen oder Personengruppen ab. Relative Wahrheit ist nicht dasselbe wie Nichtwahrheit. (Ob relative Wahrheit überhaupt verdient, als Wahrheit zu gelten, ist allerdings fraglich.)

Puh, das macht noch ein zusätzliches Fass auf (was bedeutet "Wahrheit"?), was hier nicht unbedingt hilfreich ist.

Nach meinem Begriff von "Wahrheit", (der sich auf die Korrespondenztheorie der Wahrheit bezieht), ist die Prämisse richtig. Moralische Aussagen beziehen sich nun meiner Ansicht nach nicht auf Tatsachen, sondern auf Ansichten/Meinungen/Einstellungen/Interessen/Präferenzen/Zielen. Der Satz: "ich meine, dass X gut ist" kann zwar nun wahr sein - falls er sich auf die Frage bezieht, ob ich das tatsächlich meine. Er kann aber mE nicht in dem Sinne wahr sein, dass X tatsächlich objektiv gut sei, (und mir folglich andere dabei zustimmen müssten).

(Was aber nicht heißt, dass man moralische Gedankengebäude nicht anderweitig - ohne auf den Begriff "Wahrheit" Bezug zu nehmen - prüfen könnte, z.B. auf Konsistenz/Kohärenz/Widerspruchsfreiheit. Daraus folgt also nicht völlige Beliebigkeit und Gleichwertigkwit aller denkbaren Ethiken.)

Den Begriff "relative Wahrheit" halte ich für einen Widerspruch in sich, so etwas kann es nach meinem Begriff von "Wahrheit" nicht geben. Und wenn ich sage, dass eine moralische Aussage keinen Wahrheitswert haben könne, bedeutet das selbstverständlich auch, dass er auch nicht den Wahrheitswert "nicht wahr"/"unwahr"/"falsch" haben kann.

"Wahrheit" ist für mich auch nicht dasselbe wie "justification" (Rechtfertigung/Begründung).

Myron hat geschrieben:Der moralische Relativismus ist nicht Ausdruck einer "anything goes"-Haltung. Relativisten unterscheiden sehr wohl zwischen guten und schlechten Handlungen.

Genau, also ist die Konklusion falsch.
----
Wir beide hatten das zwar schon mal in einem anderen Thread in einem anderen Forum, aber für die anderen möchte ich mein Verständnis von "moralischen Relativismus" nochmal darlegen:

Moralischer Relativismus: Es gibt moralische Meinungsunterschiede zwischen Menschen aus einer oder aus verschiedenen Gesellschaften, die weder durch Verweis auf (moralische oder nicht-moralische) Tatsachen noch durch rationale und vollständige Argumentation überwunden werden können.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Myron » Fr 18. Jan 2013, 22:18

AgentProvocateur hat geschrieben:Moralischer Relativismus: Es gibt moralische Meinungsunterschiede zwischen Menschen aus einer oder aus verschiedenen Gesellschaften, die weder durch Verweis auf (moralische oder nicht-moralische) Tatsachen noch durch rationale und vollständige Argumentation überwunden werden können.


Das ist keine passende Definition, zumal sie rein deskriptiv ist, d.h. einfach eine soziale Tatsache ausdrückt. Denn aus dem bloßen Vorhandensein rational oder empirisch unüberwindlicher Meinungsverschiedenheiten folgt nicht, dass es keine objektiven und absoluten Tatsachen oder Wahrheiten gibt. Das Bestehen von (objektiven) Tatsachen/Wahrheiten und deren (objektive) Erkennbarkeit oder Feststellbarkeit sind zwei verschiedene Sachen. Das gilt in der Metaphysik ebenso wie in der Ethik. Ein Vertreter des objektiven moralischen Realismus ist auch ein moralischer Absolutist, aber er kann durchaus ein Skeptiker in Bezug auf moralisches Wissen sein.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 18. Jan 2013, 23:02

Das ist nun aber mE ein bisschen Erbsenzählerei. Was mE daranliegt, dass Du gesnippt hast.

Du hast nun unbestritten recht, dass es (nach dem von mir zugrundegelegten Wahrheitsbegriff) einen fundamentalen Unterschied zwischen der Wahrheit einer Aussage und der realen/praktischen Möglichkeit der Feststellung, ob die Aussage wahr ist, gibt. Und Du hast auch recht, wenn Du meinst, dass dieser - von mir akzeptierte - fundamentale Unterschied nicht aus der von mir gegebenen Definition des Moralischen Relativismus abzulesen ist.

Nun ja. Was nun aber lediglich bleibt, ist nun doch wohl Pragmatismus. Wenn jemand nun sagte: "ich glaube, dass es moralische Wahrheiten gibt, aber wir können niemals feststellen, ob eine moralische Aussage wahr oder falsch ist; dafür haben wir keinerlei Kriterien, um wahre von unwahren moralischen Aussagen diskrimieren zu können", dann würde doch nicht nur ich, sondern mE auch viele andere nur mit den Schultern zucken. Denn das wäre doch dann nur eine völlig uninteressante, weil praktisch völlig irrelevante Ansicht.

Etwas grundsätzlich Anderes wäre es, wenn er Kriterien angeben könnte, nach denen man diskriminieren könnte. So wie man Kriterien dafür angeben kann, wann eine naturwissenschaftliche Theorie besser ist als eine andere. Das machte dann auch praktisch einen Unterschied. Z.B.: "Theorie X ist ontologisch sparsamer als Theorie Y, X ist erklärungsmächtiger als Y, X ist weniger widersprüchlich als Y, X ist einfacher als Y". All das zusammengenommen wären mE ziemlich gute Gründe, die Theorie X der Theorie Y vorzuziehen.

Solange aber analog dazu keine solchen Kriterien für gerechtfertigte Fürwahrhaltung moralischer Aussagen genannt werden können, ist die Behauptung, es gäbe aber moralische Wahrheiten, wenig interessant, hätte dann nämlich keine praktischen Auswirkungen.

Ob irgend jemand glaubt, dass die Handlung X objektiv gut sei und ich lediglich aufgrund meiner Überlegungen zustimme, dass X gut sei, macht doch praktisch keinerlei Unterschied. Was der jemand dann tief in sich drinnen zusätzlich noch glaubt, ("X ist objektiv richtig" - ohne aber weitere Kriterien/Begründungen für diese Ansicht angeben zu können), kann mir einfach nur egal sein. Denn ohne solche Begründungen/Kriterien könnte ich seine Ansicht schlicht nicht nachvollziehen.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Myron » Sa 19. Jan 2013, 02:50

AgentProvocateur hat geschrieben:Nach meinem Begriff von "Wahrheit", (der sich auf die Korrespondenztheorie der Wahrheit bezieht), ist die Prämisse richtig. Moralische Aussagen beziehen sich nun meiner Ansicht nach nicht auf Tatsachen, sondern auf Ansichten/Meinungen/Einstellungen/Interessen/Präferenzen/Zielen. Der Satz: "ich meine, dass X gut ist" kann zwar nun wahr sein - falls er sich auf die Frage bezieht, ob ich das tatsächlich meine. Er kann aber mE nicht in dem Sinne wahr sein, dass X tatsächlich objektiv gut sei, (und mir folglich andere dabei zustimmen müssten).


Wenn "x ist gut" "x wird von mir (im Rahmen meiner Moral) gutgeheißen" oder "x wird von uns (im Rahmen unserer Moral) gutgeheißen" bedeutet, dann ist "x ist gut" genau dann wahr, wenn ich x gutheiße oder wir x gutheißen. Hier geht es also durchaus um Tatsachen, wobei diese freilich nicht objektiv im Sinne von "subjektunabhängig" bestehen. Das bedeutet aber eben nicht, dass moralische Aussagen/Urteile weder wahr noch falsch sind. Denn ob moralische Aussagen/Urteile Sachverhalte ausdrücken, beschreiben und einen Wahrheitswert tragen, ist eine Frage und, wenn dies der Fall ist, welche (Art von) Tatsachen die Wahrmacher wahrer moralischer Aussagen/Urteile sind eine andere. Handelt es sich dabei um natürliche, konventions- und institutionsunabhängige Tatsachen, um kultürliche ("sozial konstruierte") Tatsachen oder um übernatürliche Tatsachen?

AgentProvocateur hat geschrieben:Den Begriff "relative Wahrheit" halte ich für einen Widerspruch in sich, so etwas kann es nach meinem Begriff von "Wahrheit" nicht geben. Und wenn ich sage, dass eine moralische Aussage keinen Wahrheitswert haben könne, bedeutet das selbstverständlich auch, dass er auch nicht den Wahrheitswert "nicht wahr"/"unwahr"/"falsch" haben kann.


Ja, nur sind moralische Relativisten in der Regel keine moralischen Nonkognitivisten. Ein Satz wie "'Das Foltern von Kindern ist eine böse Tat' ist relativ wahr" bedeutet im relavistischen Sinn "'Das Foltern von Kindern ist eine böse Tat' ist wahr im Rahmen unserer Moral". Das heißt, die Wahrheit dieses Satzes folgt aus einem gegebenen Moralsystem M, das selbst konventioneller und institutioneller Natur ist.

AgentProvocateur hat geschrieben:"Wahrheit" ist für mich auch nicht dasselbe wie "justification" (Rechtfertigung/Begründung).


Das ist auch nicht dasselbe.
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