Naturalisierung der Ethik

Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon laie » Fr 25. Jan 2013, 14:05

@agentprovokateur

dem stimme ich bei: wenn ethische Grundsätze kategorisch gelten sollen, dann können diese nicht auf Mehrheitsentscheidungen beruhen, jedenfalls nicht ausschliesslich. Um dein Beispiel vom Töten und Getötetwerden zu untermauern: es dürfte nicht schwerfallen, eine Mehrheit für das Vorhaben zu finden, den Lebensstandard der jetzt lebenden Menschen deutlich zu verbessern, auch wenn dies auf Kosten der nachfolgenden Generationen geht.
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Re:

Beitragvon fopa » Fr 25. Jan 2013, 16:47

@AgentProvocateur

Zum freien Willen:
Es macht meiner Ansicht nach keinen Sinn, dass ich versuche, dir meine Position deutlich zu machen. Du interpretierst in meine Ausführungen Positionen hinein, die ich überhaupt nicht vertrete. Ich meine das, was ich schreibe, und ich habe es in verschiedenen Formulierungen, unter anderem mit den von dir bereitgestellten Definitionen, mehrfach umschrieben. Dennoch implizierst du Annahmen oder Auffassungen, von denen ich überhaupt nichts geschrieben habe und auch nicht vertrete.

Ein Beispiel:
AgentProvocateur hat geschrieben:Ich sehe das wie er: diese Punkt sind eminent wichtig für das Selbstverständnis der meisten Menschen. Daher sind sie auch wenig angetan, wenn jemand ankommt und sagt: "Ihr unterliegt aber einer Illusion, tatsächlich seid Ihr alle nur Marionetten, (d.h. komplett von außen gesteuert)".
[...]
Perhaps the most common kind of argument for incompatibilism is an argument that appeals primarily to our intuitions. There are many variations on this way of arguing for incompatibilism, but the basic structure of the argument is usually something along these lines:

If determinism is true, then we are like: billiard balls, windup toys, playthings of external forces, puppets, robots, victims of a nefarious neurosurgeon who controls us by directly manipulating the brain states that are the immediate causes of our actions. Billiard balls, … have no free will. Therefore if determinism is true, we don't have free will.

Intuition-based arguments are inconclusive. Even if determinism entails that there is something we have in common with things which lack free will, it doesn't follow that there are no relevant differences. Billiard balls, toys, puppets, and simple robots lack minds, and having a mind is a necessary condition of having free will.

Hervorhebungen von mir - gerade keine Lust, das zu übersetzen
Du verwechselst die (intuitiven) Argumente positiver Inkompatibilisten gegen den Determinismus mit meinen (m.A.n. logischen und von dir bisher nicht widerlegten, sondern eher bestätigten) Argumenten für den Determinismus und damit gegen einen wirksamen, von der Physik unabhängigen, freien Willen. In dieser Argumentation soll mit dem Bild der Marionette nicht ausgesagt werden, dass wir gefühllos, willenlos und komplett von außen manipuliert wären.
Nein, auch aus deterministischer Sichtweise haben wir Gefühle, einen entscheidungsfähigen Willen und sind zu einem gewissen Teil von äußeren Einflüssen unabhängig. So weit stimme ich der kompatibilistischen Sichtweise zu. Mein Punkt ist aber, dass ein freier Wille nur so frei sein kann, wie ein Laubblatt im Herbstwind. Es mag so aussehen, als könne es sich dazu entschließen, von allein loszufliegen und die Richtung selbständig zu ändern. Dabei sind es letztendlich physikalische Gesetzmäßigkeiten, denen es ohne jegliche Freiheit unterliegt. Unser Wille ist also in dem Sinne frei, als wir ihn als frei empfinden, wenn wir eine Entscheidung treffen. Doch er kann nicht frei sein im Sinne einer Freiheit von physikalischen Gesetzmäßigkeiten.

Ein weiteres Beispiel:
AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn das erst mal geleistet werden könnte, müsstest Du zusätzlich noch zeigen können, dass aus einem "realen freien Willen" in Deinem Sinne eine 'übergeordnete Moral' abgeleitet werden könne und bei einem Fehlen eines "realen freien Willens" keine übergeordnete Moral abgeleitet werden könne.

Wo habe ich das behauptet?

Wenn ich Dich recht verstanden habe, dann hast Du behauptet, dass daraus, dass es keinen freien Willen in Deinem Sinne gäbe, folge, dass es deswegen keine übergeordnete Moral geben könne. Aber diese Behauptung ergibt mE nur dann einen Sinn, wenn Du auch dieser (gegenteiligen) Aussage: "wenn es einen freien Willen in meinem [fopas] Sinne geben könne, dann könnte es auch eine übergeordnete Moral geben" zustimmst. Wenn Du der aber nicht zustimmst, wenn Du meinstest, es könne so oder so keine übergeordnete Moral geben, dann wäre Dein Hinweis auf den "realen freien Willen" ein red herring, denn der wäre dann ja dafür völlig irrelevant.
Bitte zitiere die Stellen, in denen ich eine solche Position vertreten habe.

AgentProvocateur hat geschrieben:Du hast bisher weder ein Argument dafür geliefert, dass Determinismus einen freien Willen (abseits von: "nach meiner [fopas] Definition, also per definitionem") ausschließen würde, noch hast Du ein Argument dafür gebracht, wieso Dein Verständnis des Begriffes "freier Wille" relevant sein solle.
Ich habe (mehrfach) dargestellt, was man unter 'freier Wille' verstehen kann und dazu Stellung bezogen. Du hingegen hast diesbezüglich bisher nichts geäußert. Dabei liegt es an dir, deine Auffassung eines freien Willens darzulegen, weil du schließlich behauptest, es gäbe einen solchen.
Nicht ich muss die Nicht-Existenz beweisen, sondern du die Existenz.

Hier hatte ich beispielsweise eine mögliche Definition für einen 'freien Willen' präsentiert...
fopa hat geschrieben:Ein realer freier Wille bzw. ein unbewegter Beweger wäre ein Phänomen, das ohne physikalische Ursache eine physikalische Wirkung hervorruft, also beispielsweise neuronale Aktivität im Gehirn.
AgentProvocateur hat geschrieben:Ein realer Mond wäre einer, der würfelförmig ist und aus grünem Ziegenkäse besteht.
...auf die du in seltsamer Weise reagiert hast. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht ganz, was du mir damit sagen willst. Wenn du mit meiner Definition nicht einverstanden bist, dann korrigiere mich doch einfach. Ich habe es schließlich nicht leicht, etwas zu definieren, von dem ich glaube, dass es gar nicht existiert. Es ist so, als wolle ein Atheist Gott so definieren, dass ein Christ dieser Definition zustimmt.

Genauso verhält es sich hiermit:
AgentProvocateur hat geschrieben:Man muss aber kein solcher Substanz-Dualist sein, wie es diese Gehirnforscher anscheinend sind.
Die 'Gegner' eines freien Willens müssen sich leider der Sprache der 'Befürworter' eines freien Willens bedienen. Dass sie (die Gegner) selbst den Begriff 'freier Wille' gebrauchen, bedeutet doch nicht, dass sie daran glauben. Indem sie die hypothetische Existenz eines freien Willens durchspielen, kommen sie überhaupt erst zum Substanzdualismus, womit sie den freien Willen ad absurdum führen. Das nennt man Beweis durch Widerspruch.


AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Wie kommst du auf die Idee, es ginge mir darum, den Glauben an die Nicht-Existenz eines freien Willens zu verbreiten?
Weil Du das hier in diesem Thread in mehreren Beiträgen so vertreten hast, deswegen.
Auch hier bitte ich um entsprechende Zitate. Ich habe beschrieben, wovon ich überzeugt bin. Um Missionierung geht es mir nicht, und ich würde mich wundern, wenn ich entsprechendes irgendwo geschrieben hätte.

Hier noch mal ein Beispiel für unzulässige Implikationen:
AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Meiner Ansicht nach wäre es besser, von einem gefühlt freien Willen zu sprechen oder noch besser von gefühlter Entscheidungsfreiheit.
Meiner Ansicht nach nicht. Es besteht mE ein gewaltiger Unterschied zwischen den beiden Fällen, dass jemand gehirngewaschen ist und fälschlich glaubt, er habe aus eigenen Gründen entschieden und gehandelt, tatsächlich aber war er manipuliert, ohne das zu merken und einem anderen, der nicht derart manipuliert ist, der bessere Erkenntnisfähigkeiten hat und besser unterscheiden kann zwischen seinen eigenen Interessen und Bedürfnissen und denen anderer, die ihm - für ihn unerkannbar, nicht hinterfragbare und daher nicht revidierbar - implementiert wurden. Das mag zwar ein gradueller Unterschied sein, aber das macht ihn nicht gegenstandslos, d.h. ein persönliches Gefühl reicht hier nicht.
Woher nimmst du die Idee mit der Gehirnwäsche und der absichtlichen Manipulation durch andere Menschen?

AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Wille ist nicht gleich freier Wille. Und äußere Beeinflussung unseres Willens (bzw. Wollens) müssen wir nicht unbedingt wahrnehmen. Wir können also auch als 'Marionette' im 'großen, determinierten Theater des Schicksals' Wünsche und Gefühle haben und danach Entscheidungen treffen.
Nö, eine Marionette kann nun mal keine Entscheidung treffen. Wir sind keine Marionetten, auch keine Marionetten in Anführungszeichen. Wir sind Menschen, wir haben Fähigkeiten, die Marionetten nicht haben, nämlich Erkenntnisfähigkeit, die Fähigkeit, Umstände zu erkennen und diese zu bewerten, die Fähigkeit, gute Gründe von schlechten Gründen unterscheiden zu können, die Fähigkeit, zumindest manchmal halbwegs zuverlässige Einschätzungen der Situation und der Zukunft abliefern zu können.
Ich muss den Eindruck gewinnen, dass du entweder Haarspalterei betreiben willst oder aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage bist, zu erkennen, was meine Position ist. All das, was du geschrieben hast, habe ich doch bereits auch geschrieben. Wenn du irgendein Problem mit dem Bild der Marionette hast, nehme ich eben ein anderes: ein Algorithmus ist auch in der Lage, Umstände zu erkennen, Gründe zu bewerten, zu gewichten und abzuwägen und Prozesse in die Zukunft zu extrapolieren. Ein Algorithmus hat aber auch keinen freien Willen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Daraus filgt mE, dass wir nicht lediglich Zuschauer in einem Theater sind, die keinen Einfluss auf das vorgetragene Theaterstück hätten. Beide Bilder, sowohl "Marionette" als auch "Theater" sind mE grundfalsch. Insbesondere übrigens dann, wenn man die Welt als determiniert ansieht, wenn man meint, dass alles eine Ursache wäre, die den weiteren Ablauf der Welt beeinflussen würde. Wie könnte es dann sein, dass ausgerechnet unsere Überlegungen, darauf basierenden Entscheidungen und Handlungen keinen Einfluss auf die Welt hätten, nur auswirkungslose Epiphänomene wären? Und zwar solche auswirkungslosen Epiphänomene, die absolut beispiellos in der Welt wären?
Determination meint doch nicht, dass alles eine Ursache ist, sondern dass alles Ursachen hat, also zwingende und eindeutige Folge von Ursachen ist.
Woher nimmst du die Implikation, dass unsere Entscheidungen auswirkungslos wären? Natürlich hat es Auswirkungen, wenn ich mich dazu entscheide, einen Stein von einer Autobahnbrücke zu werfen. Die Frage ist doch, ob ich mich auch (tatsächlich) anders hätte entscheiden können.
Woher nimmst du die Implikation, ich würde uns im Bild des 'Theaters' als Zuschauer sehen? Wir sind Beteiligte, Schauspieler, die ihre Rolle perfekt spielen, weil sie sich selbst spielen. Die Handlung ist aber vorgegeben, ohne dass wir etwas davon merken. Wir schreiben die Dramaturgie nicht selbst.

AgentProvocateur hat geschrieben:Das ist mE erstens eine falsche Dichotomie, ("entweder können wir alles komplett kontrollieren oder aber wir können gar nichts kontrollieren") und zweitens ist das logisch selbstwidersprüchlich, d.h., wenn diese Aussage wahr ist, dann kann sie keine Geltung beanspruchen.
Woher nimmst du die Auffassung, ich hätte das behauptet?

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber erst einen absurden Begriff von Willensfreiheit zu postulieren, dem (zumindest kaum jemand) anhängt und daraus schließen zu wollen, dass Menschen Marionetten seien, also überhaupt keine Kontrolle hätten: no way, weil non sequitur.
Woher, bitte sag mir, WOHER nimmst du die Annahme, ich hätte DAS behauptet??? :kopfwand:

Tut mir leid, ich habe keine Lust mehr. Noch einmal werde ich mir nicht die Mühe machen, überflüssige Missverständnisse auszuräumen zu versuchen.
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Re: Re:

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 25. Jan 2013, 20:56

fopa hat geschrieben:Mein Punkt ist aber, dass ein freier Wille nur so frei sein kann, wie ein Laubblatt im Herbstwind. Es mag so aussehen, als könne es sich dazu entschließen, von allein loszufliegen und die Richtung selbständig zu ändern. Dabei sind es letztendlich physikalische Gesetzmäßigkeiten, denen es ohne jegliche Freiheit unterliegt. Unser Wille ist also in dem Sinne frei, als wir ihn als frei empfinden, wenn wir eine Entscheidung treffen. Doch er kann nicht frei sein im Sinne einer Freiheit von physikalischen Gesetzmäßigkeiten.

Das ist nun eben das Bild der Marionette, Billardkugel, Spielzeuge des Schicksals etc., das in dem in der SEP beschriebenen intuitiven Argument verwendet wird.

Du definierst Dir einen 'realen freien Willen' hin, der Deiner Ansicht nach nicht mit Determinismus vereinbar ist. Und ich zweifle nun die Definition an, akzeptiere sie nicht. Meiner Ansicht nach bedeutet "freier Wille" gemeinhin nämlich nicht, "ein von der Physik unabhängiger, akausaler, indeterminierter Wille".

Meiner Ansicht ist mit "freier Wille" gemeinhin das gemeint, was Richard Carrier mit seinen Punkten genannt hat. Oder, wenn Du eine genauere Definition wünschst: "freier Wille - die Fähigkeit zur Erkenntnis, Reflexion und nach Gründen entscheiden und handeln zu können".

Und: ich glaube, folgendes ist eine empirische Frage: "was verstehen Leute landläufig unter einem freien Willen?"

Empirische Belege für meine Ansicht über die Begriffsverwendung habe ich gebracht, Du aber bisher nicht, so wie ich das sehe und da frage ich mich eben, worauf Deine Definition beruht, inwiefern sie das landläufige Verständnis dessen, was man so unter "freiem Willen" versteht, abbilden kann.

Daher sehe ich mich berechtigt, meine Ansicht der Deinen vorzuziehen, solange Du weder belegen kannst, dass der Begriff so verwendet wird, wie Du meinst oder solange Du alternativ keine Begründung dafür bringen kannst, dass er so verwendet werden soll, selbst wenn er bisher anders verwendet wird.

Dazu war mein Beispiel mit dem würfelförmigen, aus grünem Ziegenkäse bestehende Mond gedacht. Es ist witzlos, zu behaupten, es gäbe keinen Mond nach dieser Definition, solange das niemand positiv vertritt. Ebenso ist es witzlos, zu sagen, es gäbe keinen 'realen freien Willen' und ein solcher sei einer, der "ein von der Physik unabhängiger, akausaler, indeterminierter Wille" sei - solange dass niemand positiv vertritt. Dabei ist es unerheblich, wieviele Leute das negativ vertreten, also wieviele Leute der Ansicht sind, viele oder gar die meisten anderen würden ernsthaft an einen solchen Mond glauben. Entscheidend muss doch wohl sein, wieviele Leute das tatsächlich glauben.

Wenn Du Einwände gegen den von Richard Carrier oder mir dargestellten Begriff des "freien Willens" hast, dann bin ganz Ohr. Falls nicht, gibt es mE hier gar kein Problem, ich zumindest sehe keines.

Zum Substanzdualismus: die von mir fett markierte Aussage: "Einerseits vertreten z. B. Gerhard Roth, Henrik Walter, Wolf Singer, Wolfgang Prinz und Hans Markowitsch die Ansicht, der freie Wille sei eine Illusion. Nach ihrer Auffassung geht der Willensakt neuronalen Prozessen nicht voraus." ist eine substanz-dualistische. Dabei ist es egal, was die Herren unter einem "freien Willen" verstehen. Nur wenn man Willensakt und neuronale Vorgänge als unterschiedliche Substanzen ansieht, ergibt die Frage, was wem voraus geht, einen Sinn. Ebenso ergibt die Frage: "was war zuerst da, der Morgenstern oder der Abendstern?" nur dann einen Sinn, wenn man (explizit oder implizit) meinte, das seien zwei unterschiedliche Objekte.

Zu "kompatibilistische Willensfreiheit == gefühlte Willensfreiheit": auch nach der Ansicht der Kompatibilisten kann sich jemand ob seiner tatsächlichen Willensfreiheit, d.h. seinen Fähigkeiten zur Erkenntnis, Reflexion und zur begründeten Entscheidung irren, wenn er z.B. wichtige externe Faktoren, die unerkannt für ihn seine Entscheidung entscheidend beeinflussen, nicht erkennt. Dennoch aber kann er das Gefühl haben, eine unbeeinflusste Entscheidung getroffen zu haben.

Algorithmus und freier Wille: nach kompatibilistischer Auffassung hätte ein Roboter mit eingebauten Algorithmen, die den Roboter dazu befähigen, den kompatibilistischen Anforderungen an einen freien Willen zu genügen, einen freien Willen. Wieso auch nicht?

Und die Frage nach dem freien Willen ist mE nicht: "hätte ich mich tatsächlich anders entscheiden können?", sondern die Frage sollte sein: "hätte ich, wenn ich anders überlegt, reflektiert, Gründe abgewogen hätte, zu einer anderen Entscheidung kommen können?" Die Anwort auf diese Frage ist nun trivialerweise: "ja". Die Antwort auf Deine Frage ist zwar trivialerweise: "nein, (unter der Voraussetzung, dass der Determinismus wahr ist. d.h. alles, auch die Gründe und deren Bewertungen identisch seien)", aber das spielt mE für einen freien Willen keine Rolle. Denn wenn man sich das mal genauer überlegt, läuft das entweder auf Irrationalität hinaus ("ich hatte die und die als gut bewerteten Gründe, die auf Entscheidung X hinausliefen, ich habe mich aber dennoch - grundlos - für Y entschieden") oder es läuft auf Zufall hinaus ("ich hatte die und die als gut bewerteten Gründe, die auf X hinausliefen, aber gleichzeitig die und die anderen, aber ebenfalls als gleichgut bewerteten Gründe, die auf Y hinausliefen und da habe ich mal für X und mal für Y entschieden"). Aber Irrationalität ist schädlich für das, was ich unter einem freien Willen verstehe und Zufall ist zwar nicht schädlich, aber ich vermag es auch nicht zu sehen, wieso er notwendig/erforderlich sein sollte.
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Die obige Punkte mal zusammengefasst:

- "Blatt im Wind" ist das in der SEP genannte "intuitive Agument für Inkompatibilismus" - einem Blatt fehlen aber (mE gemeinhin) als unabdingbar gesehenen Voraussetzungen für einen freien Willen, nämlich die Fähigkeit, zu erkennen, denken, abzuwägen etc. und daraufhin überhaupt Entscheidungen treffen zu können
- meiner Ansicht nach ist Dein Verständnis eines 'realen freien Willens' ein Strohmann, einfach nur ausgedacht, ohne aber den landläufigen Begriff abzubilden
- falls nicht so, dann musst Du entweder empirische Belege dafür bringen, dass Dein Begriff so positiv(!) vertreten wird
- bzw. alternativ begründen, wieso er so verstanden werden sollte, (in dem Falle: wieso man die bisherige Bedeutung zu der Deinen ändern sollte, d.h. plausibel zu machen, dass ein 'realer freier Wille' etwas Besseres/Wünschenswerteres sei als der freie Wille nach kompatibilistischer Auffassung)
- wenn Du Einwände gegen den von Richard Carrier und mir vertretenen Willensfreiheit-Begriff hast, dann die bitte nennen und begründen
- die Frage, ob Willensakte neuronalen Prozessen vorausgehen können, beruht auf einer substanzdualistischen Annahme (zumindest aber auf der Annahme, dass ein Willensakt nicht durch neuronale Prozesse realisiert sei - aber wenn nicht so, wie sonst?)
- es ist nicht richtig, dass "gefühlte Willensfreiheit" dasselbe sei wie "kompatibilistische Willensfreiheit"
- ich sehe keinen Grund, warum ein (wiewohl weit zukünftiger, heute noch nicht recht vorstellbarer) Roboter keine Willensfreiheit haben könne
- die Frage "hätte ich mich tatsächlich anders entscheiden können, [wenn alles, also auch meine Gründe und deren Gewichtungen für die Entscheidung, identisch wären]?" führt nicht recht weiter bei der Frage nach der Willensfreiheit, weil das entweder auf Irrationalität oder auf Zufall hinausläuft
- bzw.: entweder übersehe ich da eine dritte Möglichkeit oder aber es wäre plasibel zu machen, wieso Irrationalität bzw. Zufall notwendige Bedingungen für Willensfreiheit sein sollen
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 25. Jan 2013, 22:02

laie hat geschrieben:dem stimme ich bei: wenn ethische Grundsätze kategorisch gelten sollen, dann können diese nicht auf Mehrheitsentscheidungen beruhen, jedenfalls nicht ausschliesslich. Um dein Beispiel vom Töten und Getötetwerden zu untermauern: es dürfte nicht schwerfallen, eine Mehrheit für das Vorhaben zu finden, den Lebensstandard der jetzt lebenden Menschen deutlich zu verbessern, auch wenn dies auf Kosten der nachfolgenden Generationen geht.

Die Frage wäre hier vielleicht: was ist "gut", was bedeutet "gut" eigentlich?

Ein moralischer Relativist ist mE nicht darauf festgelegt, folgende Aussage: "Def. "gut": was die Mehrheit für gut hält, ist auch gut" für richtig halten zu müssen.

Sagen wir mal abstrakt, die Mehrheit hielte die Regel X für gut. Dann muss der moralische Relativist mitnichten sagen: "weil die Mehrheit X für gut hält, ist X auch gut". Er kann zwar sagen: "ich erkenne zwar X an, weil ich es für gut halte, von der Mehrheit beschlossenen Regeln zu befolgen, aber dennoch halte ich X nicht für gut, ich befolge zwar X, aber ich setze mich auch dafür ein, dass X geändert wird". Das ist mE kein Widerspruch in sich, der moralische Relativist begeht hier keinen logischen Fehler.

Ich meine allerdings, dass es ein (wenn nicht sogar logischer, so doch zumindest ein praktischer) Fehler wäre, der obigen Definition von "gut" zuzustimmen. Denn dann gäbe es keine anderen Kriterien mehr außer der Mehrheitsmeinung dafür, was "gut" ist. Aber die Mehrheitsmeinung muss sich ja erst mal bilden und das kann sie gar nicht, wenn das einzige Kriterium die Mehrheitsmeinung wäre. Da würde sich die Katze in den Schwanz beißen, es wäre ohne - nach von der Mehrheitsmeinung unabhängigen - Kriterien gar nicht möglich, eine eigene Meinung zu bilden, solange die Mehrheitsmeinung noch nicht vorliegt.

Diese anderen Kriterien werden wohl nun zuerst einmal persönliche Ziele, Wünsche, Absichten, Ansichten, Bedürfnisse, Interessen etc. sein, die man selber als "gut" bewertet. Soweit also erst mal nur subjektive Ansichten.

Aber ich meine nun auch nicht, dass ein moralischer Relativist ein reiner Subjektivist sein müsse, d.h. annehmen müsse, dass man nur alle Interessen nebeneinander stellen könne und dann nichts weiter dazu sagen könne. Hier können (und sollten) mE andere Kriterien ins Spiel kommen, wie Widerspruchsfreiheit/Kohärenz einer Ethik (einer Gesamtheit von Normen), Verallgemeinerbarkeit/Universalisierbarkeit, Plausibilität/Nachvollziehbarkeit.

Anhand dieser Kriterien kann man nun mE verschiedene Ethiken miteinander vergleichen und solche, die diese Kriterien nicht genügend berücksichtigen, als "schlechter" klassifizieren und so aussortieren.

D.h.: ein moralischer Relativist ist keineswegs darauf festgelegt, alle Ethiken als ununterscheidbar gleichwertig ansehen zu müssen.

Der Punkt ist bloß: ein moralischer Relativist kann seiner Ansicht nach widerspruchsfrei zu dieser Aussage gelangen: "Ethik X und Ethik Y sind nach den o.g. Kriterien gleichwertig, es ist nicht entscheidbar, welche Ethik besser ist". (Und ein moralischer Realist kann mE nicht zu dieser Ansicht gelangen, es kann nicht sein, dass X und Y gleichwertig sind. Denn nehmen wir mal an, nach Ethik X sei Handlung Z falsch, nach Ethik Y sei aber Z richtig. Ein moralischer Realist - das ist mE jemand, der annimmt, dass moralische Aussagen einen Wahrheitswert besitzen - müsste hier also annehmen, dass Z sowohl wahr als auch unwahr sei. Und das halte ich für einen logischen Widerspruch.)

Na gut, das alles ist nun sehr abstrakt.

Vielleicht mal ein Beispiel, (wiewohl auch das ziemlich hypothetisch ist): nehmen wir mal, da gäbe es das Individuum X. X ist es egal, ob es lebt oder nicht, es ist ihm egal, ob es Schmerzen hat oder nicht, ob es leidet oder nicht. X hat zwar Ziele, aber die beziehen sich nur auf das Hier und Jetzt. X kann Befriedigung erlangen und X strebt auch nach seiner Befriedigung, d.h. X hat sehr wohl Ziele, man darf sich X nicht als Wesen ohne Bedürfnisse und Ziele vorstellen. Nun sei es so, dass X seine Befriedigung vor allem darin findet, andere zu quälen, indem es ihnen Schmerzen zufügt und sie tötet. Gleichzeitig sei X jemand, der klar denken kann und einer rationalen Begründung zugänglich sei.

Nun gut, wie gesagt, dieses Beispiel ist sicher etwas abgehoben. Aber wenn man es dennoch akzeptierte, wäre mein Punkt hier: X kann nicht durch rationale Argumente von einer Ethik/Moral überzeugt werden, die Tötungen und Sadismus verbietet. Denn aus Sicht von X sind Tötungen und Sadismus etwas Gutes, etwas Erstrebenswertes. X kann auch nicht einer Inkohärenz, einer fehlenden Verallgemeinerbarkeit/Universalisierbarkeit oder einer fehlenden Plausibilität/Nachvollziehbarkeit überführt werden. Denn X stimmt zu, dass es nicht anders behandelt werden will, als es andere behandeln will.

Mit anderen Worten: die Ethik/Moral von X muss mE aus Sicht des moralischen Relativisten gleichwertig sein zu einer anderen, die von anderen Zielen/Werten ausgeht (in der das eigene Leben und die eigene Unversehrtheit als hohe Werte angesehen werden).

Und das ist mE ein Dilemma, das mE aus Sicht des moralischen Relativisten nicht innermoralisch gelöst werden kann.
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Re: Re:

Beitragvon fopa » Sa 26. Jan 2013, 15:50

Ich werde die Punkte abarbeiten, die du zusammengefasst hast.
AgentProvocateur hat geschrieben:- "Blatt im Wind" ist das in der SEP genannte "intuitive Agument für Inkompatibilismus" - einem Blatt fehlen aber (mE gemeinhin) als unabdingbar gesehenen Voraussetzungen für einen freien Willen, nämlich die Fähigkeit, zu erkennen, denken, abzuwägen etc. und daraufhin überhaupt Entscheidungen treffen zu können
- wenn Du Einwände gegen den von Richard Carrier und mir vertretenen Willensfreiheit-Begriff hast, dann die bitte nennen und begründen
Abgesehen von der Behauptung, wir könnten mit unseren Entscheidungen (also unserem Willen) unser Schicksal bestimmen, stimme ich diesem Verständnis von Willensfreiheit voll zu. Ich störe mich allerdings an dem Begriff "freier Wille", weil ich der Überzeugung bin, dass eine überwiegende Mehrheit der Menschheit unter einem freien Willen einen solchen versteht, der ihnen in einer gegebenen Situation die Fähigkeit verschafft, sich so oder anders zu entscheiden. Dass dies widerphysikalisch ist, habe ich bereits erläutert, und du stimmst mir anscheinend zu. Wir mögen unterschiedlicher Auffassung darüber sein, von welchem 'Freiheitsgrad' des Willens die Mehrheit überzeugt ist. Ich jedenfalls stelle immer wieder fest, dass ich kaum jemanden kenne, der überhaupt an eine Form von Determinismus glaubt - selbst unter Physikern sind solche Überzeugungen rar. Die meisten sind tatsächlich der Meinung, der menschliche Geist hätte irgendetwas an sich, das in der Lage ist, von sich aus physikalische Prozesse zu beeinflussen.
Statistische Erhebungen über den Glauben an einen 'unphysikalischen' freien Willen kenne ich nicht. Zumindest dürften aber nahezu alle religiösen Menschen von einem solchen überzeugt sein.

AgentProvocateur hat geschrieben:- meiner Ansicht nach ist Dein Verständnis eines 'realen freien Willens' ein Strohmann, einfach nur ausgedacht, ohne aber den landläufigen Begriff abzubilden
- falls nicht so, dann musst Du entweder empirische Belege dafür bringen, dass Dein Begriff so positiv(!) vertreten wird
Das Verständnis eines "realen und wirksamen freien Willen", wie ich ihn eingeführt habe, lässt sich nicht mit logischen Argumenten begründen. Deswegen sollte der Begriff 'freier Wille' (da sind wir einer Meinung) auch nicht in diesem Sinne verstanden werden, weil diese Bedeutung unsinnig ist. Menschen, die an diese Art freien Willen glauben, sind aber meist ohnehin nicht logischen Argumenten zugänglich und bedienen sich auch nicht solcher. Sie sprechen eine andere Sprache, nämlich die der 'Liebe' und die 'Gottes' oder etwas in dieser Art. Sie denken nicht (natur-)wissenschaftlich, sondern spirituell oder religiös. Was du unter einem 'freien Willen' verstehst, ist genau das, was ich unter einem determinierten Willen verstehe, nämlich ein gefühlt freier Wille.
AgentProvocateur hat geschrieben:- bzw. alternativ begründen, wieso er so verstanden werden sollte, (in dem Falle: wieso man die bisherige Bedeutung zu der Deinen ändern sollte, d.h. plausibel zu machen, dass ein 'realer freier Wille' etwas Besseres/Wünschenswerteres sei als der freie Wille nach kompatibilistischer Auffassung)
Wieder: wie kommst du darauf, ich wäre der Meinung, man sollte einen 'realen freien Willen' für etwas Wünschenswertes halten? Das Gegenteil ist der Fall. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung von seinem eigenen Willen, und die meisten Menschen halten ihn, also ihren eigenen für 'real' frei, also in einem gewissen Rahmen von der Physik unabhängig (so zumindest meine Erfahrung). An einen unbedingten freien Willen glaubt sicher kaum jemand, aber an einen freien Willen im kompatibilistischen Sinne glauben wohl höchstens genauso viele. Die allermeisten Menschen, so schätze ich zumindest, sind von einem bedingten freien Willen überzeugt, der eben nicht determiniert ist. Wie gesagt, so ist meine Einschätzung - Studien dazu kenne ich nicht.

AgentProvocateur hat geschrieben:- die Frage, ob Willensakte neuronalen Prozessen vorausgehen können, beruht auf einer substanzdualistischen Annahme (zumindest aber auf der Annahme, dass ein Willensakt nicht durch neuronale Prozesse realisiert sei - aber wenn nicht so, wie sonst?)
Wenn der Willensakt neuronalen Prozessen nicht vorausgeht, ist das doch keine substanzdualistische Sichtweise. Umgekehrt wäre es das, nämlich wenn man annähme, der Willensakt ginge neuronalen Prozessen voraus oder würde sie supervenient beeinflussen. Selbst eine verneinende Antwort auf eine substanzdualistisch gestellte Frage muss sich natürlich mit deren (absurder) Voraussetzung beschäftigen. Deswegen kann man dem Kritiker des Substanzdualismus aber nicht substanzdualistisches Denken vorwerfen.

AgentProvocateur hat geschrieben:- es ist nicht richtig, dass "gefühlte Willensfreiheit" dasselbe sei wie "kompatibilistische Willensfreiheit"
Wo ist denn der Unterschied?
AgentProvocateur hat geschrieben:- ich sehe keinen Grund, warum ein (wiewohl weit zukünftiger, heute noch nicht recht vorstellbarer) Roboter keine Willensfreiheit haben könne
Zustimmung! Unter der Definition von Willensfreiheit in deinem kompatibilistischen Sinne, was ich lieber als gefühlte Willensfreiheit bezeichnen möchte, da ich den Willen für vollkommen determiniert halte.
AgentProvocateur hat geschrieben:- die Frage "hätte ich mich tatsächlich anders entscheiden können, [wenn alles, also auch meine Gründe und deren Gewichtungen für die Entscheidung, identisch wären]?" führt nicht recht weiter bei der Frage nach der Willensfreiheit, weil das entweder auf Irrationalität oder auf Zufall hinausläuft
- bzw.: entweder übersehe ich da eine dritte Möglichkeit oder aber es wäre plasibel zu machen, wieso Irrationalität bzw. Zufall notwendige Bedingungen für Willensfreiheit sein sollen
Auch Zustimmung. Wie gesagt, auf diese Schlussfolgerung kommt man, wenn man von einem gesetzmäßigen Universum, also einer naturalistischen Sichtweise, und logischen Überlegungen an die Sache herangeht.
Den meisten religiösen oder spirituellen Menschen kannst du aber damit nicht kommen. Selbst viele, die sich nicht als religiös bezeichnen, sind von der 'wirklichen' Freiheit, also Nicht-Determiniertheit ihres Willens überzeugt. Ihnen scheint eher die Überlegung suspekt, sie hätten unter gegebenen Umständen keine andere Möglichkeit gehabt, sich auch anders zu entscheiden.

Um den Stand meinerseits noch einmal zusammenzufassen:
Ich glaube, wir sind uns in unseren Ansichten gar nicht so fern, sondern sind im Grunde sogar quasi von derselben Sache überzeugt. Das Problem sind nur die Vokabeln. Wenn ich von einem unfreien Willen spreche und damit einen determinierten, nicht über der Physik stehenden Willen meine, verstehst du eine von außen gesteuerte Marionette darunter. Wenn du von einem 'freien Willen' in deinem kompatibilistischen Sinne sprichst, der im Grunde determiniert ist, verstehe ich darunter einen 'wirklich' freien Willen, also einen nicht-determinierten.
Schwierig, schwierig. Aber nach all dem Hickhack haben wir uns glaube ich gefunden... oder habe ich wieder etwas missverstanden? =)
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Sa 26. Jan 2013, 16:11

AgentProvocateur hat geschrieben:Und das ist mE ein Dilemma, das mE aus Sicht des moralischen Relativisten nicht innermoralisch gelöst werden kann.
Das Dilemma besteht aber nur für subjektiven moralischen Relativismus, oder?
Ein kollektiver Relativismus hätte dieses Problem nicht, denn er könnte das Individuum X entweder dazu zwingen, sich der Wertegemeinschaft anzupassen oder es verstoßen. Dennoch könnte jedes Individuum der Wertegemeinschaft die Vorstellungen von X als im Grunde gleichberechtigt ansehen, bloß dass sie den Interessen und dem Wohl der Gemeinschaft zuwider laufen und deswegen abzulehnen sind.
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Re: Re:

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 26. Jan 2013, 20:10

fopa hat geschrieben:Um den Stand meinerseits noch einmal zusammenzufassen:
Ich glaube, wir sind uns in unseren Ansichten gar nicht so fern, sondern sind im Grunde sogar quasi von derselben Sache überzeugt. Das Problem sind nur die Vokabeln. Wenn ich von einem unfreien Willen spreche und damit einen determinierten, nicht über der Physik stehenden Willen meine, verstehst du eine von außen gesteuerte Marionette darunter. Wenn du von einem 'freien Willen' in deinem kompatibilistischen Sinne sprichst, der im Grunde determiniert ist, verstehe ich darunter einen 'wirklich' freien Willen, also einen nicht-determinierten.
Schwierig, schwierig. Aber nach all dem Hickhack haben wir uns glaube ich gefunden... oder habe ich wieder etwas missverstanden? =)

Nein, Du hast nichts missverstanden, meine ich.

Dennoch paar kleine Anmerkungen über die Punkte, die wir mE anders sehen:

- nach den empirischen Studien dazu, die ich so kenne, (siehe z.B. dort), stimmt es nicht, dass landläufig unter einem "freien Willen" ein 'realer und wirksamer freier Willen', ("ursachenloser", "indeterminierter" wie auch immer), in Deinem Sinne verstanden wird. Deine Aussage: "Die allermeisten Menschen, so schätze ich zumindest, sind von einem bedingten freien Willen überzeugt, der eben nicht determiniert ist." halte ich daher für eine falsche Einschätzung

- eine wesentliche Frage scheint mir hierbei zu sein, was man unter "Determinismus" versteht, bzw., wenn man andere Leute dazu befragt, wie man "Determinismus" erklärt. Aus Determinismus folgt nun nicht Fatalismus, d.h. es folgt nicht, dass in einer determinierten Welt unsere Gedanken, Überlegungen, Abwägungen keine Rolle spielen würden. Allerdings scheinen viele Leute das dennoch gleich zu setzen, (mir scheint, auch Du tust das, wenn Du von "Marionetten" oder einem "Blatt im Wind" redest). In dem Zusammenhang finde ich diese Untersuchungen und Argumente: EXPERIMENTAL PHILOSOPHY ON FREE WILL: AN ERROR THEORY FOR INCOMPATIBILIST INTUITIONS recht interessant und einleuchtend, (Abstract: [...] Most laypersons who take determinism to preclude free will and moral responsibility apparently do so because they mistakenly interpret determinism to involve fatalism or “bypassing” of agents’ relevant mental states. People who do not misunderstand determinism in this way tend to see it as compatible with free will and responsibility. [...])

- ich bin nicht damit einverstanden, von einem (lediglich) "gefühlten freien Willen" zu reden, denn das impliziert, als ob es keinen "echten" freien Willen gäbe, nur ein (fälschliches) Gefühl, also eine Illusion. Meiner Ansicht nach aber gibt es einen echten freien Willen und das ist eben der kompatibilistische nach der obigen Definition, bzw. nach den Punkten von Richard Carrier; der von Fähigkeiten abhängt, die Marionetten und Blätter im Wind nicht haben. Das liegt vor allem auch daran, dass Inkompatibilisten wie Du nicht klar machen können, wieso und inwiefern ein inkompatibilistischer freier Wille "wirklicher", "echter", "realer", "wünschenswerter", "besser" oder was auch immer sein könnte

- mit anderen Worten: ich halte Vokabeln, die verwendeten Begriffe hier nicht für unwichtig, dasher beharre ich auch auf meinen Begriffen. Es sollte doch leicht einzusehen sein, dass, wenn man sagt, so wie Du (und andere): "Dein Begriff von Willensfreiheit bezieht sich nicht auf etwas Reales, Wirkliches, nur auf etwas Gefühltes, auf eine Illusion", dass damit eine Abwertung verbunden ist. Bloß ist das aber solange nur ein rhetorischer Trick, solange nicht begründet werden kann, wieso und inwiefern Euer Begriff etwas "Realeres, Wirklicheres, nicht nur Gefühltes, keine Illusion" bezeichnet. Wie gesagt: dazu reicht nicht einfach eine dazu passende Definition, (so dass das einfach per definitionem richtig wäre), sondern es wäre erforderlich, entweder zu zeigen, dass Euer Begriff von "Willensfreiheit" der Überwiegende sei oder aber plausible Argumente dafür zu bringen, dass er vernünftigerweise der zu akzeptierende sein sollte

- und last, but not least: mir ist immer noch unklar, was Willensfreiheit mit dem eigentlichen Thema des Threads (nämlich Ethik) zu tun haben soll. Gut, Du bist natürlich nicht der Einzige, der einen wichtigen Zusammenhang behauptet. Aber ich sehe ihn dennoch nicht. Aus dem englischen Raum gibt es nun viele Texte, die nachzuweisen versuchen, dass, weil es keinen indeterminierten freien Willen gibt, es auch keine "ultimate responsibility" geben könne. Aber auch das kommt mir wie ein Strohmann vor: wer, bitteschön vertritt denn eine "ultimative Verantwortlichkeit"? Ich kenne keinen, daher halte ich das Unterfangen dieses Nachweises für ziemlich fruchtlos, für ein Einrennen von offenen Türen. Menschen reden von "Verantwortung", aber nicht von "ultimativer Verantwortung". (Das mag zwar evtl. bei einigen extremen religiösen Fundamentalisten anders sein, aber falls so, dann haben die - zumindest in Europa - keinen Einfluss auf irgendwas.)
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 26. Jan 2013, 20:23

fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Und das ist mE ein Dilemma, das mE aus Sicht des moralischen Relativisten nicht innermoralisch gelöst werden kann.

Das Dilemma besteht aber nur für subjektiven moralischen Relativismus, oder?
Ein kollektiver Relativismus hätte dieses Problem nicht, denn er könnte das Individuum X entweder dazu zwingen, sich der Wertegemeinschaft anzupassen oder es verstoßen. Dennoch könnte jedes Individuum der Wertegemeinschaft die Vorstellungen von X als im Grunde gleichberechtigt ansehen, bloß dass sie den Interessen und dem Wohl der Gemeinschaft zuwider laufen und deswegen abzulehnen sind.

Zwingen oder verstoßen wäre mE in dem Falle eine außermoralische (eine nur auf Macht, aber nicht auf Moral/Ethik basierende) Lösung, d.h. gegenüber dem betreffenden Individuum nicht moralisch/ethisch begründbar.

(Mit dem Begriff "den Interessen und dem Wohl der Gemeinschaft" habe ich übrigens Probleme, so etwas gibt es mE genau genommen nicht. Man müsste mE hier anstatt dessen sagen: "läuft den Interessen und dem Wohl der meisten/der Mehrheit in der Gemeinschaft zuwider".)
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Re: Re:

Beitragvon fopa » So 27. Jan 2013, 11:23

AgentProvocateur hat geschrieben:- eine wesentliche Frage scheint mir hierbei zu sein, was man unter "Determinismus" versteht, bzw., wenn man andere Leute dazu befragt, wie man "Determinismus" erklärt. Aus Determinismus folgt nun nicht Fatalismus, d.h. es folgt nicht, dass in einer determinierten Welt unsere Gedanken, Überlegungen, Abwägungen keine Rolle spielen würden. Allerdings scheinen viele Leute das dennoch gleich zu setzen, (mir scheint, auch Du tust das, wenn Du von "Marionetten" oder einem "Blatt im Wind" redest).
:desperate: :desperate: :desperate:
fopa hat geschrieben:Keinen freien Willen zu haben, bedeutet aber nicht, nichts mehr zu wollen. Auch wenn ich nicht handlungsfähig im Sinne eines 'unbewegten Bewegers' bin, habe ich dennoch einen Willen; ich will bestimmte Dinge tun oder nicht tun. Wenn mir dabei keine inneren oder äußeren Zwänge entgegenstehen, kann man das als "innere und äußere Handlungsfreiheit" bezeichnen.
Darüber hinaus kann man auch Wollen wollen, und das ist wohl der entscheidende Punkt, um sich als 'Akteur' zu fühlen. Ich kann den Wunsch haben, Freude an bestimmter Poesie oder Ehrgeiz zum Lernen zu entwickeln. Ich kann meinen Willen selbst beeinflussen, wenn ich das will - natürlich nicht im Sinne eines 'freien Willens', sondern eines determinierten Willens, gewissermaßen auf einer zweiten Ebene. Meiner Ansicht nach ist diese Einsicht eine gute Voraussetzung dafür, an sich selbst arbeiten und sich weiterentwickeln zu können. Nimmt man dagegen an, man hätte einen freien Willen, bräuchte man seinen Willen auch nicht beeinflussen zu wollen, denn man könnte sich ja ohnehin beliebig entscheiden.
fopa hat geschrieben:Mein ontologisches Weltbild betreffend bin ich davon überzeugt, dass niemand als 'handlungsfähiger Akteur' bezeichnet werden kann oder, wie MSS es ausdrückt, als 'unbewegter Beweger'. Auf zwischenmenschlicher Basis muss man aber einbeziehen, dass Menschen sich als handlungsfähige Wesen verstehen. Ich sehe mich persönlich ja auch so, ansonsten müsste ich in Fatalismus verfallen und könnte gleich mein Leben beenden. Die Frage ist aber, worauf wir unser Gefühl der Handlungsfreiheit begründen: a) auf einem von Kausalzusammenhängen weitgehend unabhängigen freien Willen oder b) auf dem Gefühl der Handlungsfreiheit in dem Sinne, dass uns möglichst wenig daran hindert, zu dieser oder jener Entscheidung zu kommen und sie umzusetzen.
Du hast anscheinend nichts von dem, was ich geschrieben habe, verstehen wollen. :nosmile:
Ich schreibe doch in fast jedem Post, dass die Annahme eines vollständig determinierten Willens die Gefühle von Freiheit, Verantwortung oder Wünschen nicht beseitigt.

AgentProvocateur hat geschrieben:- ich bin nicht damit einverstanden, von einem (lediglich) "gefühlten freien Willen" zu reden, denn das impliziert, als ob es keinen "echten" freien Willen gäbe, nur ein (fälschliches) Gefühl, also eine Illusion. Meiner Ansicht nach aber gibt es einen echten freien Willen und das ist eben der kompatibilistische nach der obigen Definition, bzw. nach den Punkten von Richard Carrier; der von Fähigkeiten abhängt, die Marionetten und Blätter im Wind nicht haben. Das liegt vor allem auch daran, dass Inkompatibilisten wie Du nicht klar machen können, wieso und inwiefern ein inkompatibilistischer freier Wille "wirklicher", "echter", "realer", "wünschenswerter", "besser" oder was auch immer sein könnte
Es ist nicht zu fassen. Wieso meinst du immer noch, ich würde einen "inkompatibilistischen freien Willen" vertreten? :explodieren:
Bitte, bitte, bitte lies doch, was ich schreibe!

Und bitte erkläre mir doch einmal, inwiefern der kompatibilistische 'freie Wille' real ist und sich von einem (realen) Gefühl/Empfinden qualitativ unterscheidet.

AgentProvocateur hat geschrieben:- mit anderen Worten: ich halte Vokabeln, die verwendeten Begriffe hier nicht für unwichtig, dasher beharre ich auch auf meinen Begriffen. Es sollte doch leicht einzusehen sein, dass, wenn man sagt, so wie Du (und andere): "Dein Begriff von Willensfreiheit bezieht sich nicht auf etwas Reales, Wirkliches, nur auf etwas Gefühltes, auf eine Illusion", dass damit eine Abwertung verbunden ist. Bloß ist das aber solange nur ein rhetorischer Trick, solange nicht begründet werden kann, wieso und inwiefern Euer Begriff etwas "Realeres, Wirklicheres, nicht nur Gefühltes, keine Illusion" bezeichnet.
Wenn du es als persönliche Beleidigung auffasst, dass ich behaupte, dein (reales und in keiner Weise verwerfliches) Empfinden bezöge sich auf etwas, das nicht in der von dir angenommenen Weise existiert (nämlich auf einen von der Physik unabhängigen freien Willen), dann tut mir das ehrlich leid. Viele Menschen können und wollen ja auch nicht akzeptieren, dass 'Liebe' bloß ein auf substanziellen Prozessen basierendes Empfinden ist und eben kein 'Geschenk Gottes' oder 'ewiges Lied des Universums'. Dennoch ist Liebe real, und das Wissen um ihre weltliche Herkunft macht sie nicht weniger real oder weniger intensiv oder weniger wirkungsvoll.

Ich habe nicht behauptet, das Gefühl eines freien Willens wäre nicht real. Im Gegenteil: das Empfinden eines freien Willens im Sinne einer Entscheidungsfähigkeit ist keine Illusion. Ich fühle ja auch so. Ich kann auch Gründe abwägen und mich entscheiden. Ich weiß aber, dass dieses Gefühl, mich frei entschieden zu haben, nicht auf einen freien Willen (frei von Determination) zurückzuführen ist. Die Illusion ist ein solcher 'realer' freier Wille. Das Gefühl der freien Entscheidungsfähigkeit aber ist real.
Ist das jetzt angekommen, nachdem ich es zum xten Mal erklärt habe?

AgentProvocateur hat geschrieben:- und last, but not least: mir ist immer noch unklar, was Willensfreiheit mit dem eigentlichen Thema des Threads (nämlich Ethik) zu tun haben soll. Gut, Du bist natürlich nicht der Einzige, der einen wichtigen Zusammenhang behauptet. Aber ich sehe ihn dennoch nicht.
fopa hat geschrieben:Es geht um die Reflexion der Entscheidungsfähigkeit: Wenn ich mich bei einer früheren Entscheidung derart entschieden habe, dass ich ihre Folgen im Nachhinein als negativ ansehe, könnte ich 1) die 'freie' Entscheidung bereuen und mich selbst rügen, ich hätte mich doch anders entscheiden können und sollen oder 2) feststellen, dass ich mich zu jenem Zeitpunkt aufgrund meiner Konstitution und aller gegebenen Umstände nur genau so hatte entscheiden können und die Folgen als Lehre für spätere, ähnliche Entscheidungen auffassen. Schließlich habe (bin) ich ein Gehirn, das Erfahrungen und Erinnerungen als Entscheidungshilfe benutzt.
So, wie man von seinen eigenen Entscheidungen denkt, denkt man auch von Entscheidungen seiner Mitmenschen. Während im Fall 1) dem Mitmenschen bei einer 'schlechten' Entscheidung eine 'Schuld' oder gar 'Boshaftigkeit' zugesprochen wird, kann man im Fall 2) nur noch von 'Ursache' sprechen. Die Verantwortung wird nicht relativiert, sondern besteht weiterhin. Gerade wenn es um Streitigkeiten mit Freunden oder Familienangehörigen geht, kann sich diese Unterscheidung stark auswirken. Man kann nicht mehr sagen: "Du bist schuld!", sondern muss fragen: "Warum hast du das getan?".
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Re: Re:

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 28. Jan 2013, 01:57

fopa hat geschrieben:Du hast anscheinend nichts von dem, was ich geschrieben habe, verstehen wollen. :nosmile:
Ich schreibe doch in fast jedem Post, dass die Annahme eines vollständig determinierten Willens die Gefühle von Freiheit, Verantwortung oder Wünschen nicht beseitigt.

Das kann ich wohl an Dich unverändert zurückgeben.

Ich habe doch in fast jedem meinem Beitrag hier geschrieben und versucht, zu begründen, dass die Annahme eines [NICHT]-[vollständigen determinierten Willens] nichts Wesentliches zu den Begriffen "Freiheit, Verantwortung oder Wünschen" hinzufügen kann.

Indeterminismus kann zu den von mir als wesentlich angesehenen Fähigkeiten für einen freien Willen, nämlich: die Fähigkeiten, Umstände und eigene Ziele erkennen, reflektieren und überdenken und ggf. revidieren zu können und daraufhin eine darauf ausgerichtete, davon abhängige Entscheidung, (d.h.: eine Entscheidung nach als gut bewerteten Gründen), treffen zu können, nichts Wesentliches hinzufügen. Weder Irrationalität, (= [mE unverständlicherweise und daher unplausibel] eine solche aus mehreren als möglich angesehehenen Entscheidung zu treffen, die als weniger gut angesehen wird), noch (rationaler) Zufall, (in ein- und derselben Situation mal die und mal die als gleichgut angesehene Entscheidung zu treffen), fügen mE zu dem landläufigen Begriff "freier Wille" etwas Unabdingbares hinzu. Falls doch: das mal bitte darstellen.

Deswegen halte ich es für unsinnig, weil völlig grundlos, einen kompatibilistischen freien Willen als einen "nicht realen", sondern lediglich "gefühlten/eingebildeten/illusionären" "freien Willen" zu bezeichnen. Er wäre nur dann "nicht real", "nur eingebildet" oder eine "Illusion", wenn entweder in einem Determinismus die von mir als unabdingbar angesehenen Fähigkeiten, (s.o.), nicht möglich wären oder aber, wenn in einem Indeterminismus (Def.: "inderminiert" ist eine Welt genau dann, wenn sie nicht vollständig determiert ist) für einen "realen" freien Willen weitere, in einem Determinismus nicht mögliche Fähigkeiten, möglich wären. Was aber jeweils zu zeigen wäre und nicht einfach so unbegründet als gegeben vorausgesetzt werden könnte.

fopa hat geschrieben:Es ist nicht zu fassen. Wieso meinst du immer noch, ich würde einen "inkompatibilistischen freien Willen" vertreten?

Das meine ich mitnichten. Wie kommst Du darauf, dass ich das meinen würde?

fopa hat geschrieben:Und bitte erkläre mir doch einmal, inwiefern der kompatibilistische 'freie Wille' real ist und sich von einem (realen) Gefühl/Empfinden qualitativ unterscheidet.

Man kann fälschlich meinen, eine hinreichende Kontrolle über seine Entscheidungen zu haben, (= gefühlte Kontrolle), tatsächlich aber kann es objektiv sein, dass man gehirngewaschen/manipuliert wurde.

Mal ein konkretes Beispiel: jemand wird hypnotisiert, in der Hypnose wird ihm gesagt, er solle, nachdem er aus der Hypnose aufwacht, seine Schuhe ausziehen und auf den Tisch stellen. Und eben das tut er daraufhin auch. Gefragt, warum er das getan hat, bringt er eine umständliche Erklärung, die auf sein Wollen zurückzuführen wäre, wenn sie denn stimmte. Man wird hier aber dann wohl annehmen, dass er sich irrt, sich lediglich eine unwahre Rationalisierung seiner Handlung erfindet, sprich: sich etwas vormacht. Der eigentliche Grund wäre, dass der Hypnotiseur ihm das in der Hypnose befohlen hätte.

Auch das überzeugteste persönliche Gefühl, nach eigenen Gründen gehandelt zu haben, schützt nicht vor persönlichem Irrtum.

fopa hat geschrieben:Wenn du es als persönliche Beleidigung auffasst, dass ich behaupte, dein (reales und in keiner Weise verwerfliches) Empfinden bezöge sich auf etwas, das nicht in der von dir angenommenen Weise existiert (nämlich auf einen von der Physik unabhängigen freien Willen), dann tut mir das ehrlich leid.

Das braucht Dir deswegen nicht leid zu tun, weil sich mein Begriff von "freier Wille" gar nicht auf einen freien Willen nach Deinem Verständnis bezieht, (auf einen "von der Physik unabhängigen freien Willen"). Habe ich doch oben mehrfach versucht, darzustellen, worauf er sich bezieht.

fopa hat geschrieben:Ich habe nicht behauptet, das Gefühl eines freien Willens wäre nicht real. Im Gegenteil: das Empfinden eines freien Willens im Sinne einer Entscheidungsfähigkeit ist keine Illusion. Ich fühle ja auch so. Ich kann auch Gründe abwägen und mich entscheiden. Ich weiß aber, dass dieses Gefühl, mich frei entschieden zu haben, nicht auf einen freien Willen (frei von Determination) zurückzuführen ist. Die Illusion ist ein solcher 'realer' freier Wille. Das Gefühl der freien Entscheidungsfähigkeit aber ist real.
Ist das jetzt angekommen, nachdem ich es zum xten Mal erklärt habe?

Nein, ist es nicht, ich meine immer noch, dass es hier ein ganz grundlegendes Missverständnis gibt.

"Freier Wille" bedeutet nach meinem Verständnis nach landläufig! nicht! "frei von Determination". Es ist mir zwar klar, dass es das nach Deinem Verständnis bedeutet, aber warum das für Dich so ist, ist mir immer noch höchst unklar, denn dafür hast Du bisher keinen Beleg gebracht.

Nach meinem Verständnis habe ich nun nicht lediglich das Gefühl, frei entscheiden zu können, (tatsächlich aber sei es ganz anders), sondern nach meinem Verständnis ist sowohl "das Gefühl haben, frei entscheiden zu können" etwas anderes als "tatsächlich frei entscheiden zu können", als auch meine ich, dass Deine angeblich "reale" (indeterminierte) Entscheidung nichts Entscheidendes zu zu meinem Begriff eines (wie auch immer determinierten) freien Willens hinzufügen könnte.

Wie oben schon mehrfach dargelegt, musst Du nachvollziehbare Gründe für Deinen Begriff "realer" (der wohl ein indeterminierter sein soll) "freier Wille" liefern. Es reicht nun nicht, einfach von "Illusion" (= "Dein wahrgenommener freier Wille ist gar kein indeterminierter freier Wille") zu reden, wenn der landläufige Begriff von "freier Wille" (und das jeweilige Gefühl dabei) gar keinen Indeterminismus als notwendige und unverzichbare Bedingung beinhaltet.

Nochmal: Deine Behauptung, ein "freier Wille" sei notwendigerweise ein "indetermierter freier Wille" ist eine von Dir bisher unbegründete Setzung, die Du gefälligst mal selber zu hinterfragen und zu belegen/begründen/plausibel zu machen hast und nicht einfach so ohne Begründung immer wieder unhinterfragbar als reines Dogma setzen darfst.

Ich habe oben mehrere Links auf empirische Studien geliefert dafür, dass Deine Auffassung des "freien Willens" (nämlich: "indeterminiert", "der Physik widersprechend"), nicht dem landläufigen Begriff von "Willensfreiheit" entspricht. Wieso sollte nun jemand deiner Auffassung folgen, wenn die dem landläufigen Begriff der Willensfreiheit gar nicht entspricht? Dafür könnte es zwar zugegebnermaßen plausible Gründe geben, aber die müssten dann auch erst mal genannt werden.

fopa hat geschrieben:Die Verantwortung wird nicht relativiert, sondern besteht weiterhin. Gerade wenn es um Streitigkeiten mit Freunden oder Familienangehörigen geht, kann sich diese Unterscheidung stark auswirken. Man kann nicht mehr sagen: "Du bist schuld!", sondern muss fragen: "Warum hast du das getan?".

Das Letztere ist eine falsche Dichotomie, mE. Das eine schließt das andere doch nicht aus, ganz im Gegenteil sogar. Um feststellen zu können, um jemand schuld an einem Geschehen ist, muss man seine Gründe und Intentionen und seine Handlungsmöglichkeiten eruieren. Das ist mE dafür sogar unabdingbar. Macht daher auch jedes Gericht, um Schuld feststellen zu können.

Und zum Ersteren: man kann unterscheiden zwischen "kausaler" und "moralischer" Verantwortung. Beispiel: X hasst Z und X schubst daher im U-Bahnhof den unbeteiligten Y auf Z, so dass Z unter die hereinfahrende U-Bahn gerät und stirbt. In dem Falle wäre Y (zumindest: direkter) kausal verantwortlich für den Tod von Z, X jedoch moralisch verantwortlich, (Y jedoch in keinster Weise moralisch verantwortlich).

Oder siehst Du das anderes und wenn ja: inwiefern?

Und: wieso wird die Verantwortung von X hier Deiner Ansicht nach nicht relativiert? Bist Du nicht der Ansicht, dass X absolut gar nichts für den Tod von Z kann, und zwar exakt ganz genausowenig wie Y, weil beide gleichermaßen Marionetten der determinierten Umstände seien? Wie kann es dann aber - falls so - sein, dass X moralisch verantwortlich für den Tod von Z ist, Y aber nicht, aber dennoch X keinerlei Schuld hat? Was verstehst Du eigentlich unter "Schuld", wenn nicht, so wie ich: "Verantwortung für einen als negativ angesehenen Normverstoß"?
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Re: Re:

Beitragvon fopa » Fr 1. Feb 2013, 14:37

AgentProvocateur hat geschrieben:Indeterminismus kann zu den von mir als wesentlich angesehenen Fähigkeiten für einen freien Willen, nämlich: die Fähigkeiten, Umstände und eigene Ziele erkennen, reflektieren und überdenken und ggf. revidieren zu können und daraufhin eine darauf ausgerichtete, davon abhängige Entscheidung, (d.h.: eine Entscheidung nach als gut bewerteten Gründen), treffen zu können, nichts Wesentliches hinzufügen.
Einigkeit. Bloß ist aus deterministischer Sichtweise jede unserer 'freien' Entscheidungen determiniert, ebenso alle Prozesse, die ihnen vorausgehen. Ich bin - aufgrund meiner Erfahrung in Diskussionen über dieses Thema - aber immer noch der Ansicht, dass die meisten Menschen einen solchen Willen nicht mehr als frei bezeichnen, weil er eben determiniert ist.

AgentProvocateur hat geschrieben:Weder Irrationalität, (= [mE unverständlicherweise und daher unplausibel] eine solche aus mehreren als möglich angesehehenen Entscheidung zu treffen, die als weniger gut angesehen wird), noch (rationaler) Zufall, (in ein- und derselben Situation mal die und mal die als gleichgut angesehene Entscheidung zu treffen), fügen mE zu dem landläufigen Begriff "freier Wille" etwas Unabdingbares hinzu. Falls doch: das mal bitte darstellen.
Das könnte sicher jemand, der von einem freien, indeterministischen Willen überzeugt ist, besser darstellen. Ich versuche es einmal: es ist die Intuition, die uns Glauben macht, wir könnten uns tatsächlich unter denselben Umständen so oder anders entscheiden. Wir haben das Gefühl, uns zu einem gewissen Grad über die Umstände hinwegzusetzen und uns unabhängig von ihnen entscheiden.
Ich stimme dir natürlich zu, dass solche intuitiven Argumente nicht gelten können. Dennoch ist das Gefühl bei jedem vorhanden, der sich nicht selbst wie eine Marionette fühlt, was wohl auf die allerwenigsten Menschen zutreffen dürfte.

AgentProvocateur hat geschrieben:Deswegen halte ich es für unsinnig, weil völlig grundlos, einen kompatibilistischen freien Willen als einen "nicht realen", sondern lediglich "gefühlten/eingebildeten/illusionären" "freien Willen" zu bezeichnen. Er wäre nur dann "nicht real", "nur eingebildet" oder eine "Illusion", wenn entweder in einem Determinismus die von mir als unabdingbar angesehenen Fähigkeiten, (s.o.), nicht möglich wären oder aber, wenn in einem Indeterminismus (Def.: "inderminiert" ist eine Welt genau dann, wenn sie nicht vollständig determiert ist) für einen "realen" freien Willen weitere, in einem Determinismus nicht mögliche Fähigkeiten, möglich wären. Was aber jeweils zu zeigen wäre und nicht einfach so unbegründet als gegeben vorausgesetzt werden könnte.
Du stimmst mir doch aber vielleicht zu, dass die Intuition eher für einen Willen spricht, der in dem Sinne "frei" ist, wie ich es oben dargestellt habe, oder? Nur ein deterministisches Weltbild und logische Überlegungen führen doch überhaupt erst zu einem kompatibilistisch-freien Willen bzw. zu einem determinierten (inkiompatibilistischen) Willen. Wie viel Prozent der Menschen im aufgeklärten Europa haben sich denn überhaupt dazu Gedanken gemacht? Wie viele Menschen gehen von einem deterministischen Weltbild aus? Der Anteil dürfte verschwindend gering sein. Entsprechend nehmen wohl die meisten Menschen ihre Entscheidungen und ihren Willen als "frei" im Sinne von "frei" gegenüber den inneren und äußeren (physikalischen) Umständen wahr, also als "wirklich frei" im indeterministischen Sinne.
Wie gesagt, das ist meine Einschätzung. Ich habe mir die von dir verlinkten Studien nicht durchgelesen.

AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Und bitte erkläre mir doch einmal, inwiefern der kompatibilistische 'freie Wille' real ist und sich von einem (realen) Gefühl/Empfinden qualitativ unterscheidet.
Man kann fälschlich meinen, eine hinreichende Kontrolle über seine Entscheidungen zu haben, (= gefühlte Kontrolle), tatsächlich aber kann es objektiv sein, dass man gehirngewaschen/manipuliert wurde.
Demzufolge unterscheidest du zwischen natürlichen äußeren Einflüssen und anthropogenen äußeren Einflüssen? Wo ist der qualitative Unterschied? Beides beeinflusst unsere Entscheidungen. Sind sie freier, wenn sie von natürlichen Einflüssen gelenkt werden?
Ich sehe da lediglich einen subjektiven Unterschied: wenn wir bemerken, dass unsere oder jemand anderes' Entscheidungen manipuliert, also von anderen Menschen beeinflusst, wurden, empfinden wir sie nicht mehr als frei. Wenn sie aber durch "natürliche" Umstände beeinflusst wurden, derer wir uns nicht bewusst sind, empfinden wir sie als frei. Objektiv gesehen spielt es aber keine Rolle: unsere Entscheidungen sind so oder so determiniert - durch welche Art Einflüsse auch immer, ob wir uns derer bewusst werden oder nicht.

AgentProvocateur hat geschrieben:"Freier Wille" bedeutet nach meinem Verständnis nach landläufig! nicht! "frei von Determination". Es ist mir zwar klar, dass es das nach Deinem Verständnis bedeutet, aber warum das für Dich so ist, ist mir immer noch höchst unklar, denn dafür hast Du bisher keinen Beleg gebracht.
Das habe ich ja nun erläutert. Einen Beleg kann ich nicht bringen, weil ich keine repräsentative Studie dazu kenne.
Bevor hier wieder ein Missverständnis entsteht: Mit "frei von Determination" meine ich "indeterminiert", also nicht vollständig determiniert, folglich "bedingt freier Wille". An einen unbedingt freien Willen glauben wohl tatsächlich die wenigsten.

AgentProvocateur hat geschrieben:Nochmal: Deine Behauptung, ein "freier Wille" sei notwendigerweise ein "indetermierter freier Wille" ist eine von Dir bisher unbegründete Setzung, die Du gefälligst mal selber zu hinterfragen und zu belegen/begründen/plausibel zu machen hast und nicht einfach so ohne Begründung immer wieder unhinterfragbar als reines Dogma setzen darfst.
Wir haben im Grunde dasselbe Verständnis von der Freiheit unseres Willens und streiten uns bloß um die Worte und darum, welches Verständnis wohl die meisten anderen Menschen haben könnten.
Damit wir uns wenigstens nicht mehr um die Worte streiten müssen, könntest du doch einfach einen anderen Begriff für einen "freien, indeterminierten" ("realen freien") Willen vorschlagen, den meiner Ansicht nach die meisten Menschen für sich annehmen.

AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Die Verantwortung wird nicht relativiert, sondern besteht weiterhin. Gerade wenn es um Streitigkeiten mit Freunden oder Familienangehörigen geht, kann sich diese Unterscheidung stark auswirken. Man kann nicht mehr sagen: "Du bist schuld!", sondern muss fragen: "Warum hast du das getan?".
Das eine schließt das andere doch nicht aus, ganz im Gegenteil sogar.
Wenn man Schuld als Verstoß gegen ein allgemein anerkanntes, weltliches Regelwerk versteht, ja. Ich bezog Schuld jedoch auf eine supernaturalistische bzw. überweltliche Moralvorstellung, wie sie in fast allen Religionen vorherrscht. Natürlich kann man dann immer noch fragen: "Warum hast du das getan?"
Geht man aber von einem deterministischen Weltbild und einer relativistischen Moral/Ethik aus, kann man den Satz "Du bist schuld!" nicht mehr als Schuld gegenüber einer Moral auffassen, sondern nur noch als Schuld gegenüber den Mitmenschen. Das ist für mich der entscheidende Unterschied. Dafür ist die Auffassung eines "indeterminierten freien Willen" nicht erforderlich, aber förderlich. Das Gegenüber wird also nicht mehr als Schuldiger im Sinne von Sünder gesehen, sondern als Mitmensch, der die gemeinsamen Regeln verletzt hat.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und zum Ersteren: man kann unterscheiden zwischen "kausaler" und "moralischer" Verantwortung. Beispiel: X hasst Z und X schubst daher im U-Bahnhof den unbeteiligten Y auf Z, so dass Z unter die hereinfahrende U-Bahn gerät und stirbt. In dem Falle wäre Y (zumindest: direkter) kausal verantwortlich für den Tod von Z, X jedoch moralisch verantwortlich, (Y jedoch in keinster Weise moralisch verantwortlich).

Oder siehst Du das anderes und wenn ja: inwiefern?
Diese Unterscheidung beruht meiner Ansicht nach auf dem Irrglaube, unsere Entscheidungen könnten ohne Ursache selbst ursächlich wirken - sie wären bis zu einem gewissen Grade frei von Determination. Wollte man diese Unterscheidung dennoch mit einem kausal-deterministischen Weltbild verbinden, müsste man irgendwo eine willkürliche Grenze ziehen, ab der eine Entscheidung als verantwortlich im Sinne einer Ursache angesehen wird. Du hast es schon mit dem Wort "direkt" angedeutet: Diese Grenze kann man nicht sinnvoll ziehen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und: wieso wird die Verantwortung von X hier Deiner Ansicht nach nicht relativiert? Bist Du nicht der Ansicht, dass X absolut gar nichts für den Tod von Z kann, und zwar exakt ganz genausowenig wie Y, weil beide gleichermaßen Marionetten der determinierten Umstände seien? Wie kann es dann aber - falls so - sein, dass X moralisch verantwortlich für den Tod von Z ist, Y aber nicht, aber dennoch X keinerlei Schuld hat? Was verstehst Du eigentlich unter "Schuld", wenn nicht, so wie ich: "Verantwortung für einen als negativ angesehenen Normverstoß"?
Letztere Frage habe ich ja oben beantwortet.
Tatsächlich hatte X sich (aus deterministischer Sicht) gar nicht anders verhalten können, als Y gegen Z zu schubsen. Dennoch ist X für den Tod von Z erst einmal verantwortlich, denn es war seine Entscheidung. Auch wenn diese determiniert war, war es das Gehirn von X, das aus allen inneren und äußeren Einflüssen diese Entscheidung produziert hat.
Die Verantwortung kann aber insofern relativiert werden, als die äußeren Einflüsse, die X zu seiner Entscheidung gebracht haben, wiederum erkennbar auf Entscheidungen anderer Individuen zurückzuführen sind - wenn X also unter äußerem Zwang gestanden hat. Ebenso könnten innere Zwänge X zu seiner Entscheidung getrieben haben. Beides hat aber lediglich Auswirkungen auf das (inter-)subjektive Empfinden aller anderen Individuen gegenüber X: sehen sie seine Entscheidung als Ergebnis von Zwängen an oder gehen sie von einer Entscheidung ohne Zwänge aus? Entsprechend wird die Konsequenz bzw. das Urteil ausfallen: Soll X in psychologische Behandlung? Soll X ins Gefängnis? Soll X ungestraft bleiben?
Verantwortung ist meiner Ansicht nach also immer Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, also auch in dem Sinne, wie diese das "Verschulden" bewerten. Selbst vollständig determinierte Entscheidungen (kompatibilistisch oder inkompatibilistisch) müssen also in dem Maße verantwortet werden, wie es die Mitmenschen verlangen.
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Beitragvon AgentProvocateur » Sa 2. Feb 2013, 01:22

fopa hat geschrieben:Ich bin - aufgrund meiner Erfahrung in Diskussionen über dieses Thema - aber immer noch der Ansicht, dass die meisten Menschen einen solchen Willen nicht mehr als frei bezeichnen, weil er eben determiniert ist. [...] Ich versuche es einmal: es ist die Intuition, die uns Glauben macht, wir könnten uns tatsächlich unter denselben Umständen so oder anders entscheiden. Wir haben das Gefühl, uns zu einem gewissen Grad über die Umstände hinwegzusetzen und uns unabhängig von ihnen entscheiden. [...] Dennoch ist das Gefühl bei jedem vorhanden, der sich nicht selbst wie eine Marionette fühlt, was wohl auf die allerwenigsten Menschen zutreffen dürfte. [...] Entsprechend nehmen wohl die meisten Menschen ihre Entscheidungen und ihren Willen als "frei" im Sinne von "frei" gegenüber den inneren und äußeren (physikalischen) Umständen wahr, also als "wirklich frei" im indeterministischen Sinne.
Wie gesagt, das ist meine Einschätzung. Ich habe mir die von dir verlinkten Studien nicht durchgelesen.

Sorry, aber Deine persönlichen Einschätzungen, die nur von Deinen Erfahrungen ausgehen, und Deine darauf aufbauenden Behauptungen, ist und sind hier völlig irrelevant. Was Du glaubst, was die meisten Leute glauben, muss nicht das sein, was die meisten Leute tatsächlich glauben. Und entscheidend kann hier nicht sein, was Du glaubst, was die meisten Leute glauben, sondern das, was sie tatsächlich glauben. Jedenfalls dann, wenn Du Deine Argumentation genau darauf aufbaust. Und das eben tust Du hier, ("wir haben das Gefühl" etc.). Ist mir wirklich absolut unverständlich, wie Du dann die empirischen Studien dazu ignorieren kannst. Deine ganze Argumentation steht und fällt doch damit, ob Deine Annahmen darüber, was die anderen Leute mehrheitlich glauben, richtig sind oder nicht. Und da die empirischen Studien Deine Annahmen nicht stützen, fällt sie nun mal in sich zusammen.

fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Man kann fälschlich meinen, eine hinreichende Kontrolle über seine Entscheidungen zu haben, (= gefühlte Kontrolle), tatsächlich aber kann es objektiv sein, dass man gehirngewaschen/manipuliert wurde.

Demzufolge unterscheidest du zwischen natürlichen äußeren Einflüssen und anthropogenen äußeren Einflüssen? Wo ist der qualitative Unterschied? Beides beeinflusst unsere Entscheidungen. Sind sie freier, wenn sie von natürlichen Einflüssen gelenkt werden?

Nein, das mit der bewussten/ absichtlichen Beeinflussung durch andere war nur als Beispiel gedacht. Ebenso kann es mE mangelnde Kontrolle (und somit weniger Willensfreiheit) bedeuten, wenn das Einflüsse sind, die nicht bewusst erkannt werden können, die aber dennoch einen entscheidenden Einfluss auf die jeweilige Entscheidung haben.

fopa hat geschrieben:Ich sehe da lediglich einen subjektiven Unterschied: wenn wir bemerken, dass unsere oder jemand anderes' Entscheidungen manipuliert, also von anderen Menschen beeinflusst, wurden, empfinden wir sie nicht mehr als frei. Wenn sie aber durch "natürliche" Umstände beeinflusst wurden, derer wir uns nicht bewusst sind, empfinden wir sie als frei. Objektiv gesehen spielt es aber keine Rolle: unsere Entscheidungen sind so oder so determiniert - durch welche Art Einflüsse auch immer, ob wir uns derer bewusst werden oder nicht.

Das sehe ich grundsätzlich anders. Ich mache keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen "natürlichen" Umständen und solchen, die auf Absichten anderer Menschen zurückzuführen sind, aber ich sehe einen grundsätzlichen Unterschied zwischen solchen Faktoren, die bewusst werden und somit in die Entscheidung einbezogen werden können und solchen, die unbewusst bleiben. Ob unsere Entscheidungen determiniert sind oder nicht, spielt hier aber keine Rolle für mich, (inwiefern und in welchem Maße auch immer Indeterminismus hier etwas Wesentliches zum Entscheidungsprozess hinzufügen könnte, ist mir immer noch völlig unklar). Entscheidend ist nur: durch wen oder was werden meine Entscheidungen determiniert? Sind das Faktoren außerhalb von mir? Dann: Heteronomie, Fremdbestimmung, Unfreiheit. Sind das Faktoren, die Teil von mir sind, also meine Absichten, Einstellungen, Überlegungen, Wertungen, Abwägungen, Zieleübereinstimmend? Dann: Autonomie, Selbstbestimmung, Freiheit.

(Wobei das jeweils immer graduell zu sehen ist, also: mehr oder weniger Freiheit, nicht binär.)

fopa hat geschrieben:Wir haben im Grunde dasselbe Verständnis von der Freiheit unseres Willens und streiten uns bloß um die Worte und darum, welches Verständnis wohl die meisten anderen Menschen haben könnten.

Ja, und das ist doch wohl eine empirische Frage. Um die zu eruieren, sind die von mir verlinkten Studien nützlich.

fopa hat geschrieben:Damit wir uns wenigstens nicht mehr um die Worte streiten müssen, könntest du doch einfach einen anderen Begriff für einen "freien, indeterminierten" ("realen freien") Willen vorschlagen, den meiner Ansicht nach die meisten Menschen für sich annehmen.

Verstehe ich nun echt nicht. Ich habe doch eine Menge empirischer Studien verlinkt, aus denen abzulesen ist, was die meisten Menschen unter einem "freien Willen" verstehen. Das ist nun nicht das, was Du meinst, was sie darunter verstehen. Wieso, bitteschön, sollte ich nun einen Begriff dafür vorschlagen, was Du darunter verstehst?

fopa hat geschrieben:Wenn man Schuld als Verstoß gegen ein allgemein anerkanntes, weltliches Regelwerk versteht, ja. Ich bezog Schuld jedoch auf eine supernaturalistische bzw. überweltliche Moralvorstellung, wie sie in fast allen Religionen vorherrscht.

Warum? Wie kommst Du zu dieser Auffassung? Meinst Du, dass so eine Auffassung in Deutschland unter Religiösen vorherrscht? Falls ja: worauf stützt sich diese Annahme?

fopa hat geschrieben:Geht man aber von einem deterministischen Weltbild und einer relativistischen Moral/Ethik aus, kann man den Satz "Du bist schuld!" nicht mehr als Schuld gegenüber einer Moral auffassen, sondern nur noch als Schuld gegenüber den Mitmenschen.

Schätze, das wird gemeinhin wenig strittig sein. "Schuld gegenüber einer Moral" hört sich auch ziemlich strange an.

fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Und zum Ersteren: man kann unterscheiden zwischen "kausaler" und "moralischer" Verantwortung. Beispiel: X hasst Z und X schubst daher im U-Bahnhof den unbeteiligten Y auf Z, so dass Z unter die hereinfahrende U-Bahn gerät und stirbt. In dem Falle wäre Y (zumindest: direkter) kausal verantwortlich für den Tod von Z, X jedoch moralisch verantwortlich, (Y jedoch in keinster Weise moralisch verantwortlich).

Oder siehst Du das anderes und wenn ja: inwiefern?

Diese Unterscheidung beruht meiner Ansicht nach auf dem Irrglaube, unsere Entscheidungen könnten ohne Ursache selbst ursächlich wirken - sie wären bis zu einem gewissen Grade frei von Determination.

Nein. Wieso sollte man auch (implizit oder explizit) sowas annehmen?

Diese Unterscheidung beruht mE (implizit) auf Folgendem: wenn jemand eine (als schlecht/unmoralisch bewertete) Handlung absichtlich durchgeführt hat, dann ist davon auszugehen, dass diese Handlung an ihm lag, d.h. an seinen Überlegungen, Einstellungen etc. Und wenn so, dann ist davon auszugehen, dass er künftiges Vergleichbares evtl. wieder tun wird. Und damit er das nicht wieder tut, ist ihm zu vermitteln, dass seine Handlung schlecht/unmoralisch war. Dann unterlässt er das evtl. zukünftig. Wenn man aber davon ausgeht, dass jemand keine Kontrolle über sein Verhalten hatte, (so wie Y oben), dann nutzte es nichts, ihm sein Verhalten vorzuhalten. Denn er hatte ja keinen Einfluss darauf, es war nicht seine Absicht, es geschah ohne sein Zutun. Ein Zureden, so etwas zukünftig zu unterlassen, wäre daher völlig sinnlos, kann keine Auswirkung haben.

fopa hat geschrieben:Wollte man diese Unterscheidung dennoch mit einem kausal-deterministischen Weltbild verbinden, müsste man irgendwo eine willkürliche Grenze ziehen, ab der eine Entscheidung als verantwortlich im Sinne einer Ursache angesehen wird. Du hast es schon mit dem Wort "direkt" angedeutet: Diese Grenze kann man nicht sinnvoll ziehen.

Verstehe das Argument nicht. Lautet es etwa so: "weil man eine Grenze willkürlich zieht, sie nicht letztbegründen kann, ist sie nicht gerechtfertigt"?

Dieses Argument wäre aber - falls so gemeint - falsch. Wir ziehen fortwährend in vielen Zusammenhängen solche Grenzen. Und sehen die als gerechtfertigt an.

Wenn aber anders gemeint: wie sonst?

fopa hat geschrieben:Tatsächlich hatte X sich (aus deterministischer Sicht) gar nicht anders verhalten können, als Y gegen Z zu schubsen. Dennoch ist X für den Tod von Z erst einmal verantwortlich, denn es war seine Entscheidung. Auch wenn diese determiniert war, war es das Gehirn von X, das aus allen inneren und äußeren Einflüssen diese Entscheidung produziert hat.

Genau. Bzw. genauer: wäre das Gehirn von X nicht determiniert, hätte X nicht nach seinen Einstellungen, seiner Persönlichkeit, seinen Gründen und deren Wertungen entschieden, sondern auch für ihn selber unverständlich, weil grundlos, dann wäre X hier wohl kaum für verantwortlich und somit auch nicht für schuldig zu halten. Denn dann wäre es gar nicht seine Handlung gewesen, sondern ein ihm nicht zuzurechnendes zufälliges Verhalten.

fopa hat geschrieben:Die Verantwortung kann aber insofern relativiert werden, als die äußeren Einflüsse, die X zu seiner Entscheidung gebracht haben, wiederum erkennbar auf Entscheidungen anderer Individuen zurückzuführen sind - wenn X also unter äußerem Zwang gestanden hat. Ebenso könnten innere Zwänge X zu seiner Entscheidung getrieben haben.

Richtig. Wenn X unter äußerem Zwang gehandelt hätte, (z.B. jemand hätte ihm eine Pistole an die Schläfe gehalten), oder unter inneren Zwang, (Psychose oder dergleichen), dann wäre X hier nicht verantwortlich (bzw.: weniger verantwortlich) für seine Handlung zu machen.

fopa hat geschrieben:Beides hat aber lediglich Auswirkungen auf das (inter-)subjektive Empfinden aller anderen Individuen gegenüber X: sehen sie seine Entscheidung als Ergebnis von Zwängen an oder gehen sie von einer Entscheidung ohne Zwänge aus? Entsprechend wird die Konsequenz bzw. das Urteil ausfallen: Soll X in psychologische Behandlung? Soll X ins Gefängnis? Soll X ungestraft bleiben?

Letzteres: ja, aber das hat nicht nur etwas mit den Empfindungen der anderen zu tun, sondern mit (mehr oder wenger) feststellbaren objektiven Umständen. Hat X unter äußeren Zwang gehandelt? Hat er unter innerem Zwang gehandelt? Das ist jeweils (wenn auch nicht endgültig) feststellbar und das macht jeweils auch einen entscheidenden Unterschied. Keinen entscheidenden Unterschied aber sollte es machen, ob jemand (oder auch die meisten) X nicht leiden können, was sie also für Empfindungen gegenüber X haben.

fopa hat geschrieben:Verantwortung ist meiner Ansicht nach also immer Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, also auch in dem Sinne, wie diese das "Verschulden" bewerten. Selbst vollständig determinierte Entscheidungen (kompatibilistisch oder inkompatibilistisch) müssen also in dem Maße verantwortet werden, wie es die Mitmenschen verlangen.

Ja, aber man muss dabei eben auch die oben genannten Sachverhalte prüfen, ein reines auf Empfindungen beruhendes Verlangen reicht hier nicht.

Hat X aus äußerem Zwang gehandelt? Hat X aus innerem Zwang gehandelt? Hat er ohne äußeren und inneren Zwang aus eigener Überzeugung gehandelt? Je nachdem, wie man diese (wenn auch nur ungefähr) feststellbaren Sachverhalte beurteilt, kann X mehr oder weniger verantwortlich gemacht werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob X determiniert oder indeterminiert gehandelt hat. (Bzw., insofern schon: wenn er indeterminiert gehandelt hätte, wie oben dargestellt, dann dürfte er mE nicht verantwortlich gemacht werden.)
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Re: Re:

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 2. Feb 2013, 15:32

Nochmal dazu:

fopa hat geschrieben:Wir haben im Grunde dasselbe Verständnis von der Freiheit unseres Willens und streiten uns bloß um die Worte und darum, welches Verständnis wohl die meisten anderen Menschen haben könnten.
Damit wir uns wenigstens nicht mehr um die Worte streiten müssen, könntest du doch einfach einen anderen Begriff für einen "freien, indeterminierten" ("realen freien") Willen vorschlagen, den meiner Ansicht nach die meisten Menschen für sich annehmen.

Das habe ich im Beitrag vorher völlig in den falschen Hals bekommen, tut mir leid für meine unwirsche Reaktion.

Ich schlage die beiden Begriffe "inkompatibilistischer freier Wille" und "kompatibilistischer freier Wille" vor.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Mo 4. Feb 2013, 17:28

AgentProvocateur hat geschrieben:Sorry, aber Deine persönlichen Einschätzungen, die nur von Deinen Erfahrungen ausgehen, und Deine darauf aufbauenden Behauptungen, ist und sind hier völlig irrelevant. Was Du glaubst, was die meisten Leute glauben, muss nicht das sein, was die meisten Leute tatsächlich glauben. Und entscheidend kann hier nicht sein, was Du glaubst, was die meisten Leute glauben, sondern das, was sie tatsächlich glauben. Jedenfalls dann, wenn Du Deine Argumentation genau darauf aufbaust. Und das eben tust Du hier, ("wir haben das Gefühl" etc.). Ist mir wirklich absolut unverständlich, wie Du dann die empirischen Studien dazu ignorieren kannst. Deine ganze Argumentation steht und fällt doch damit, ob Deine Annahmen darüber, was die anderen Leute mehrheitlich glauben, richtig sind oder nicht. Und da die empirischen Studien Deine Annahmen nicht stützen, fällt sie nun mal in sich zusammen.
So, ich bin jetzt mal dazu gekommen, deine verlinkten Studien anzusehen (Is Incompatibilism Intuitive?, Surveying Freedon).
Dazu möchte ich ein paar Bemerkungen loswerden: Erst einmal stellt die Studie eine andere Frage als ich, nämlich: "Glauben die Menschen unter der Annahme einer vollständig determinierten Welt an einen freien Willen?". Ich hatte dagegen gemeint, dass die meisten Menschen an einen inkompatibilistischen freien Willen (um deinen Vorschlag aufzugreifen) glauben und infolgedessen zwangsläufig von einem deterministischen Weltbild Abstand nehmen.
Darüber hinaus halte ich gut 20 Befragte aus universitären Philosophie-Einführungskursen nicht gerade für repräsentativ. Es ist aber schon bemerkenswert, dass die Befragten mehrheitlich meinten, hypothetische Personen hätten in einem deterministischen Szenario einen freien Willen. (Zugegeben, das hätte ich nicht gedacht.) Man muss aber auch genau hinsehen, wie es zu diesem Ergebnis kommt:
Nahmias et al. hat geschrieben:Participants read the following scenario [...] and answered two questions about it [...].

Scenario: Imagine that in the next century we discover all the laws of nature, and we build a supercomputer which can deduce from these laws of nature and from the current state of everything in the world exactly what will be happening in the world at any future time. It can look at everything about the way the world is and predict everything about how it will be with 100% accuracy. Suppose that such a supercomputer existed, and it looks at the state of the universe at a certain time on March 25, 2150 AD, 20 years before Jeremy Hall is born. The computer then deduces from this information and the laws of nature that Jeremy will definitely rob Fidelity Bank at 6:00 pm on January 26, 2195. As always, the supercomputer's prediction is correct; Jeremy robs Fidelity Bank at 6:00 pm on January 26, 2195.

For this study [...], participants were undergraduates who had not studied the free will problem. In pilot studies we found that some participants seemed to fail to reason conditionally (e.g., given their explanations on the back of the survey, some seemed to assume that the scenario is impossible because Jeremy has free will, rather than making judgments about Jeremy's freedom on the assumption that the scenario is actual). To correct for this problem, Question 1 asked participants whether they think the scenario is possible (the majority responded ''no'', offering various reasons on the back of the survey). Then they were then asked to ''suspend disbelief '' for the experimental question:

Regardless of how you answered question 1, imagine such a supercomputer actually did exist and actually could predict the future, including Jeremy's robbing the bank (and assume Jeremy does not know about the prediction): Do you think that, when Jeremy robs the bank, he acts of his own free will?

The results indicate that a significant majority of participants (76%) judged that Jeremy robs the bank of his own free will.
Hervorhebungen sind von mir.
Ich sehe da einige systematische Probleme:
  1. Die Befragten hielten das Szenario für mehrheitlich(!) unwirklich, gehen also in ihrem eigenen Weltbild nicht von vollständiger Determination aus.
  2. Dadurch fällt es ihnen möglicherweise schwer, sich mit voller Konsequenz in dieses deterministische Szenario hineinzudenken und ihr bisheriges Verständnis eines (anscheinend) inkompatibilistischen freien Willens auszublenden.
  3. Die Frage ist suggestiv gestellt: 'he acts' impliziert bereits einen Akteur. Hätte man die Frage gestellt: "What do you think is the cause why Jeremy robs the bank? - 1) his free will - 2) determination", hätte es vielleicht ein ganz anderes Ergebnis gegeben.
Es kann durchaus sein, dass eine Mehrheit der Menschen dann an einen kompatibilistischen freien Willen glaubt, wenn ihr Weltbild deterministisch ist. Interessant in Bezug auf meine Beobachtung bezüglich des Glaubens an einen freien Willen bei den meisten Menschen wäre aber nun, wie hoch der Anteil der Menschen mit deterministichem Weltbild in der hiesigen Bevölkerung ist und wie viele von diesen an einen freien Willen glauben. Eine solche Erhebung würde mich entweder bestätigen oder widerlegen, denn ich hatte ja behauptet, unter einem "freien Willen" würden die meisten Menschen einen indeterministischen, also inkompatibilistischen, freien Willen verstehen.
Ich kenne aber keine Studie dieser Art und habe mich auch nicht auf die Suche gemacht. Da du dich aber wohl viel damit beschäftigt hast - kennst du eine?

=========

AgentProvocateur hat geschrieben:...ich sehe einen grundsätzlichen Unterschied zwischen solchen Faktoren, die bewusst werden und somit in die Entscheidung einbezogen werden können und solchen, die unbewusst bleiben. Ob unsere Entscheidungen determiniert sind oder nicht, spielt hier aber keine Rolle für mich, (inwiefern und in welchem Maße auch immer Indeterminismus hier etwas Wesentliches zum Entscheidungsprozess hinzufügen könnte, ist mir immer noch völlig unklar). Entscheidend ist nur: durch wen oder was werden meine Entscheidungen determiniert? Sind das Faktoren außerhalb von mir? Dann: Heteronomie, Fremdbestimmung, Unfreiheit. Sind das Faktoren, die Teil von mir sind, also meine Absichten, Einstellungen, Überlegungen, Wertungen, Abwägungen, Zieleübereinstimmend? Dann: Autonomie, Selbstbestimmung, Freiheit.
Einverstanden. Aber eine Frage: Wie kommen deine 'inneren' Faktoren zustande?

AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Wenn man Schuld als Verstoß gegen ein allgemein anerkanntes, weltliches Regelwerk versteht, ja. Ich bezog Schuld jedoch auf eine supernaturalistische bzw. überweltliche Moralvorstellung, wie sie in fast allen Religionen vorherrscht.
Warum? Wie kommst Du zu dieser Auffassung? Meinst Du, dass so eine Auffassung in Deutschland unter Religiösen vorherrscht? Falls ja: worauf stützt sich diese Annahme?
Ich komme zu dieser Auffassung, weil im Christentum von "Sünde" gesprochen wird, also einem Verstoß gegen Gottes Gebote oder Gottes Wille. Natürlich können auch religiöse Menschen von 'weltlicher' Schuld sprechen, wenn sie Verstöße gegen weltliche Regeln meinen.
AgentProvocateur hat geschrieben:"Schuld gegenüber einer Moral" hört sich auch ziemlich strange an.
Finde ich auch. Ich vertrete hier ja auch keine Gegenposition zu dir, falls dir das noch nicht bewusst geworden ist. Ich beschreibe nur, was meiner Einschätzung nach die Mehrheit der Menschen in unserem Land meinen. Wie gesagt meiner Einschätzung nach - ich verstehe nicht, was an einer Einschätzung aufgrund der in Gesprächen und Beobachtungen gemachten Erfahrung verwerflich ist.

AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Diese Unterscheidung beruht meiner Ansicht nach auf dem Irrglaube, unsere Entscheidungen könnten ohne Ursache selbst ursächlich wirken - sie wären bis zu einem gewissen Grade frei von Determination.

Nein. Wieso sollte man auch (implizit oder explizit) sowas annehmen?

Diese Unterscheidung beruht mE (implizit) auf Folgendem: wenn jemand eine (als schlecht/unmoralisch bewertete) Handlung absichtlich durchgeführt hat, dann ist davon auszugehen, dass diese Handlung an ihm lag, d.h. an seinen Überlegungen, Einstellungen etc. Und wenn so, dann ist davon auszugehen, dass er künftiges Vergleichbares evtl. wieder tun wird. Und damit er das nicht wieder tut, ist ihm zu vermitteln, dass seine Handlung schlecht/unmoralisch war. Dann unterlässt er das evtl. zukünftig. Wenn man aber davon ausgeht, dass jemand keine Kontrolle über sein Verhalten hatte, (so wie Y oben), dann nutzte es nichts, ihm sein Verhalten vorzuhalten. Denn er hatte ja keinen Einfluss darauf, es war nicht seine Absicht, es geschah ohne sein Zutun. Ein Zureden, so etwas zukünftig zu unterlassen, wäre daher völlig sinnlos, kann keine Auswirkung haben.
Wann und wie hätte denn ein Mensch deiner Ansicht nach Einfluss auf seine Gedanken und Handlungen?


AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Beides hat aber lediglich Auswirkungen auf das (inter-)subjektive Empfinden aller anderen Individuen gegenüber X: sehen sie seine Entscheidung als Ergebnis von Zwängen an oder gehen sie von einer Entscheidung ohne Zwänge aus? Entsprechend wird die Konsequenz bzw. das Urteil ausfallen: Soll X in psychologische Behandlung? Soll X ins Gefängnis? Soll X ungestraft bleiben?

Letzteres: ja, aber das hat nicht nur etwas mit den Empfindungen der anderen zu tun, sondern mit (mehr oder wenger) feststellbaren objektiven Umständen. Hat X unter äußeren Zwang gehandelt? Hat er unter innerem Zwang gehandelt? Das ist jeweils (wenn auch nicht endgültig) feststellbar und das macht jeweils auch einen entscheidenden Unterschied. Keinen entscheidenden Unterschied aber sollte es machen, ob jemand (oder auch die meisten) X nicht leiden können, was sie also für Empfindungen gegenüber X haben.
fopa hat geschrieben:Verantwortung ist meiner Ansicht nach also immer Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, also auch in dem Sinne, wie diese das "Verschulden" bewerten. Selbst vollständig determinierte Entscheidungen (kompatibilistisch oder inkompatibilistisch) müssen also in dem Maße verantwortet werden, wie es die Mitmenschen verlangen.

Ja, aber man muss dabei eben auch die oben genannten Sachverhalte prüfen, ein reines auf Empfindungen beruhendes Verlangen reicht hier nicht.

Hat X aus äußerem Zwang gehandelt? Hat X aus innerem Zwang gehandelt? Hat er ohne äußeren und inneren Zwang aus eigener Überzeugung gehandelt? Je nachdem, wie man diese (wenn auch nur ungefähr) feststellbaren Sachverhalte beurteilt, kann X mehr oder weniger verantwortlich gemacht werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob X determiniert oder indeterminiert gehandelt hat. (Bzw., insofern schon: wenn er indeterminiert gehandelt hätte, wie oben dargestellt, dann dürfte er mE nicht verantwortlich gemacht werden.)
Aber die Beurteilung der (objektiven) Antworten auf diese Fragen ist doch das Urteil aller anderen Individuen. Unsere Regeln, Gesetze und Moralvorstellungen sind genau die Beurteilungsmaßstäbe - dem (inter-)subjektiven Empfinden entsprungen. Prinzipiell wäre auch eine Moral denkbar, die auch dann eine Bestrafung von X vorsieht, wenn festgestellt werden kann, dass X unter Zwang gehandelt hat. Ebenso könnte es eine Moral geben, die Y bestraft.
Wie die Antwort auf die Frage, ob X determiniert oder indeterminiert gehandelt hat, sich auf die Bewertung seiner Tat auswirkt, liegt im moralischen Empfinden der Individuen, auf denen sich die Moral begründet. Im juristischen Sinne wäre es die Legislative, also in Deutschland Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident, aufbauend auf den Ergebnissen der demokratischen, freien Wahlen, letztlich also dem Empfinden aller wahlberechtigten Bürgern.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 4. Feb 2013, 22:35

fopa hat geschrieben:
The results indicate that a significant majority of participants (76%) judged that Jeremy robs the bank of his own free will.
Hervorhebungen sind von mir.
Ich sehe da einige systematische Probleme:
  1. Die Befragten hielten das Szenario für mehrheitlich(!) unwirklich, gehen also in ihrem eigenen Weltbild nicht von vollständiger Determination aus.
  2. Dadurch fällt es ihnen möglicherweise schwer, sich mit voller Konsequenz in dieses deterministische Szenario hineinzudenken und ihr bisheriges Verständnis eines (anscheinend) inkompatibilistischen freien Willens auszublenden.
  3. Die Frage ist suggestiv gestellt: 'he acts' impliziert bereits einen Akteur. Hätte man die Frage gestellt: "What do you think is the cause why Jeremy robs the bank? - 1) his free will - 2) determination", hätte es vielleicht ein ganz anderes Ergebnis gegeben.

Zu 1.: ja, das mag sein, es ging hier aber hier darum, zu eruieren, wie der Begriff "freier Wille" aufgefasst wird, nicht darum, ob die Leute ein deterministisches oder indeterministisches Weltbild haben
Zu 2.: es mag schwer fallen, sich in ein (zugegenermaßen ungewöhnliches) Gedankenexperiment hineinzuversetzen. Dennoch halte ich die Frage für gut gestellt und sehe auch nicht recht einen Ansatzpunkt für die Vermutung, dass dies hier eine ausschlaggebende Rolle gespielt hätte. Das Problem dabei ist nun mE eher Folgendes: auch wenn man Determinist ist, kann man sehr wohl der (mE völlig berechtigten) Ansicht sein, dass die Zukunft prinzipiell nicht berechenbar ist, (aus Determinismus folgt nicht Berechenbarkeit). Aber dann würde man ein anderes Ergebnis erwarten, falls diese Überlegung hier eine (größere) Rolle gespielt hätte: falls man meinte, dass freier Wille auch etwas damit zu tun habe, dass andere nichts über die eigenen zukünftigen Entscheidungen wissen, die nicht exakt kennen, dann hätte man hier wohl gesagt: "kein freier Wille"; das Ergebnis zugunsten des kompatibilistischen freien Willens wäre also geringer ausgefallen.
Zu 3.: hätte man Deine Frage gestellt, dann wäre sicher ein anderes Ergebnis herausgekommen. Aber diese Frage wäre dann suggestiv gewesen - die ursprüngliche Frage ist es nicht (jedenfalls viel weniger - wahrscheinlich kann man gar keine nicht-suggestiven, voraussetzungslosen Fragen stellen). Denn Deine Frage impliziert doch schon das, was hier erst eruiert werden soll ("sehen Leute einen sich ausschließenden Gegensatz zwischen Determinismus und Willensfreiheit?"). Das kann man auf keinen Fall mit Deiner Frage herausfinden, die diesen Gegensatz schon beinhaltet. Da ist ja gar nicht die Antwort "sowohl- als-auch; beides, das schließt sich nicht per se aus" möglich.

Nehmen wir mal an, wir erstellten zwei Umfragen. In der einen könnte man zwei Fragen beantworten: 1. "Sind Sie größer als 1,65 m?" und 2. "Sind Sie eine Frau?", (man könnte also sowohl-als-auch, oder eines von beidem oder gar nichts ankreuzen), in der anderen könnte man aber nur eines von beidem ankreuzen. Diese beiden Umfragen würden bestimmt unterschiedlich ausfallen.

fopa hat geschrieben:Es kann durchaus sein, dass eine Mehrheit der Menschen dann an einen kompatibilistischen freien Willen glaubt, wenn ihr Weltbild deterministisch ist. Interessant in Bezug auf meine Beobachtung bezüglich des Glaubens an einen freien Willen bei den meisten Menschen wäre aber nun, wie hoch der Anteil der Menschen mit deterministichem Weltbild in der hiesigen Bevölkerung ist und wie viele von diesen an einen freien Willen glauben. Eine solche Erhebung würde mich entweder bestätigen oder widerlegen, denn ich hatte ja behauptet, unter einem "freien Willen" würden die meisten Menschen einen indeterministischen, also inkompatibilistischen, freien Willen verstehen.

Aber das sind doch schlicht zwei voneinander logisch unabhängige Fragen. Es ist egal dafür, was man gemeinhin unter dem Begriff "freier Wille" versteht, welche Auffassung man über Determiniertheit bzw. Indeterminiertheit unserer Welt hat. Selbst wenn alle Menschen an eine indeterminierte Welt glaubten, wäre Deine Annahme widerlegt, wenn sie gleichzeitig unter "freiem Willen" nicht einen inkompatibilistischen freien Willen verstehen würden.

fopa hat geschrieben:Ich kenne aber keine Studie dieser Art und habe mich auch nicht auf die Suche gemacht. Da du dich aber wohl viel damit beschäftigt hast - kennst du eine?

Auf dieser Seite findest Du eine Menge Studien zu dem Thema. Auch einige, die Deine Annahme ("die meisten Menschen glauben an einen inkompatibilistischen freien Willen") zu bestätigen scheinen.

Falls Du möchtest, können wir uns gerne auch andere Studien vornehmen und die besprechen. Von mir aus aber ist das nicht nötig, mein Punkt war nur, dass Deine Annahme bezüglich des allgemeinen Verständnisses des Begriffes "freier Wille", (nämlich darunter würde mehrheitlich ein inkompatibilistischer freier Wille verstanden), nicht richtig ist, Du also Deine Argumentation nicht darauf aufbauen kannst. Ich will nun nicht behaupten, dass es solche Intuitionen nicht gäbe, bzw. dass allgemein ein kompatibilistischer freier Wille angenommen würde. Mir würde es schon reichen, wenn wir uns hier auf ein Patt einigen, dieses Argument somit hinten runter fallen lassen und und auf sonstige Argumente beschränken, die (anderen) überzeugend erscheinen.

fopa hat geschrieben:Einverstanden. Aber eine Frage: Wie kommen deine 'inneren' Faktoren zustande?

Die kommen entweder determiniert oder indeterminiert (= NICHT-[determiniert]) zustande. Eine dritte Möglichkeit gibt es logischerweise nicht. Für meine Position ist das hier ziemlich egal, solange diese Faktoren nicht immer völlig indeterminiert zustande kommen und solange man sich mit diesen Faktoren identifizieren kann, man die als Teil von sich ansieht oder aber, falls nicht, wenn man die ändern kann oder zumindest hinreichend unterdrücken.

fopa hat geschrieben:Ich komme zu dieser Auffassung, weil im Christentum von "Sünde" gesprochen wird, also einem Verstoß gegen Gottes Gebote oder Gottes Wille. Natürlich können auch religiöse Menschen von 'weltlicher' Schuld sprechen, wenn sie Verstöße gegen weltliche Regeln meinen.

Mit dem Konzept "Sünde" kann ich nichts anfangen. Wir sollten uns auf "weltliche Schuld" beschränken, das ist mE etwas anderes als das Konzept "Sünde".

fopa hat geschrieben:Ich beschreibe nur, was meiner Einschätzung nach die Mehrheit der Menschen in unserem Land meinen. Wie gesagt meiner Einschätzung nach - ich verstehe nicht, was an einer Einschätzung aufgrund der in Gesprächen und Beobachtungen gemachten Erfahrung verwerflich ist.

Daran ist gar nichts verwerflich. Es ist bloß erstens so, dass die falsch sein kann und zweitens ist es so, dass ich die, aufgrund meiner Einschätzung, nicht nachvollziehen kann. Die kann daher nicht Grundlage Deiner Argumentation sein.

fopa hat geschrieben:Wann und wie hätte denn ein Mensch deiner Ansicht nach Einfluss auf seine Gedanken und Handlungen?

Ein Mensch hat umso mehr Einfluss auf seine Gedanken und Handlungen, als die von ihm abhängen, von denjenigen Faktoren, die er als "innere", als zu sich zugehörig ansieht und umso weniger, als das Gegenteil der Fall ist, (wenn seine Entscheidungen und Handlungen von äußeren Faktoren, bzw. von inneren Faktoren, die er als nicht zu sich zugehörig ansieht, die er ablehnt, die er aber nicht kontrollieren kann, abhängt).

Wie gesagt: das bitte als Kontinuum sehen, als "mehr oder weniger", nicht binär, nicht als "entweder-oder".

fopa hat geschrieben:Aber die Beurteilung der (objektiven) Antworten auf diese Fragen ist doch das Urteil aller anderen Individuen. Unsere Regeln, Gesetze und Moralvorstellungen sind genau die Beurteilungsmaßstäbe - dem (inter-)subjektiven Empfinden entsprungen. Prinzipiell wäre auch eine Moral denkbar, die auch dann eine Bestrafung von X vorsieht, wenn festgestellt werden kann, dass X unter Zwang gehandelt hat. Ebenso könnte es eine Moral geben, die Y bestraft.
Wie die Antwort auf die Frage, ob X determiniert oder indeterminiert gehandelt hat, sich auf die Bewertung seiner Tat auswirkt, liegt im moralischen Empfinden der Individuen, auf denen sich die Moral begründet. Im juristischen Sinne wäre es die Legislative, also in Deutschland Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident, aufbauend auf den Ergebnissen der demokratischen, freien Wahlen, letztlich also dem Empfinden aller wahlberechtigten Bürgern.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Dich hier richtig verstehe. Mein Punkt hier war und ist der: Urteile sollten nicht nur auf unhinterfragten persönlichen Empfindungen beruhen. Klar ist prinzipiell eine Moral denkbar, die nur auf unreflektierten Empfindungen beruht, ("mag ich nicht"). Bloß wäre das wenig nachvollziehbar: der eine mag das nicht und der jenes. Besser wäre mE, wenn man versuchte, diese Empfindungen zu kanalisieren, auf allgemeinverständliche und zustimmbare Prinzipien zurückzuführen. Ich meine, dass eine Moral, die nur auf willkürlichen Empfindungen beruht, keine Allgemeingültigkeit verlangen kann und eine Rechtsordnung schon gar nicht.
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