stine hat geschrieben:Die Sache mit dem naturalistischen Fehlschluss finde ich hier merkwürdig. Schließlich gibt es keine andere Möglichkeit, wenigstens ist mir derzeit keine bekannt, dass außer den Frauen noch jemand Menschenkinder in die Welt setzen kann. Also ist es nicht nur so, sondern soll es auch so sein.
Nein, warum? Man könnte auch argumentieren, dass das auf Frauen beschränkte Kinderkriegen sexistisch ist und aus dem Gleichheitsgedanken heraus argumentieren, dass dies den Männern gegenüber unfair ist, weil ihnen die Schwangerschaft und Geburt verwehrt bleibt und gegenüber den Frauen ebenso, weil es erhebliche Schmerzen und Gesundheitsrisiken auf ihnen ablädt.
Natürlich muss es biologisch aus funktionalen Gründen so sein, aber man könnte durchaus den moralischen Appell aussprechen, dass Medizin und Technik so schnell wie möglich dahingehend weiterentwickelt werden
sollten, dass fairere Formen der Reproduktion gefunden werden. Das mag vielleicht erstmal weltfremd klingen, wäre es aus heutiger pragmatischer Sicht auch, aber auf ein, zwei Jahrhunderte gesehen ist das durchaus etwas, was man diskutieren kann. Außerdem gilt der naturalistische Fehlschluss auch dann, wenn man nolens volens einem Prozess folgen muss, der biologisch vorgegeben ist. Das heißt nicht, dass der Prozess so sein soll, sondern nur, dass er (derzeit) alternativlos ist und man, will man den Zweck (hier: Reproduktion als Art) erreichen, die unvollkommenen Mittel akzeptieren muss.
stine hat geschrieben:Das "Auf.die.Welt.bringen" beinhaltet zwar nicht, wie es mit dem Neugeborenen weitergeht, doch hat in der Natur kein Tier solche Schwierigkeiten das quasi "automatisch" anzunehmen, wie der Mensch.
Es verfügt auch kein Tier über unsere diskursorischen Möglichkeiten. Für das Tier passiert immer nur das, was auf der Bühne stattfindet, der Mensch kann hinter die Kulissen blicken, auch hinter die seiner selbst. Hat er das einmal getan (also vom bösen Apfel genascht, um das mal christentumskompatibel auszudrücken), ist er gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Du begehst den Fehler, automatisch anzunehmen, dass der Weg, der dir als der natürliche erscheint, auch der richtige ist, der das beste Ergebnis bringt. Wir drehen uns hier letztlich um genau um diese problematischen Angelpunkte: a) Was ist der "natürliche Weg" und was ist soziale Konstruktion, b) was ist das anzustrebende Ergebnis, also was für Eigenschaften sollen die erwachsenen Kinder tragen, c) gibt es "künstliche" Alternativen, die besser funktionieren als der "natürliche Weg" und d) falls der "natürliche Weg" erkannt und für gut befunden wurde, wie kann er in die Zwangslagen gesellschaftlicher Organisation eingebettet werden?
stine hat geschrieben:Menschliche Babys würden Eigentum des Staates sein, wenn er darüber bestimmen könnte, wie die Aufzucht am besten und genehmsten für alle zu erfolgen hat.
Vielleicht ist es nur eine Marotte von mir, aber mir gefällt es nicht, wenn in Diskussionen "der Staat" als handelnder, homogener Akteur und noch dazu als Gegenspieler von Individuum und/oder Gesellschaft beschrieben wird. Der Staat ist ein Prozess, an dem wir alle teilnehmen und von dem wir nicht zu trennen sind. Im engeren Sinne meinst du wahrscheinlich bestimmte exekutive Abteilungen des Staatsapparates.
Das ist keine Haarspalterei: Wenn wir als Gesellschaft demokratisch bestimmte Standards für die Kinderaufzucht festlegen, ist das etwas anderes und wesentlich unproblemtischeres, als wenn einzelne Akteure innerhalb des Staatsapparates diesen zum Zweck verwenden, der Gesellschaft ihre Erziehungsvorstellungen aufzustülpen, ohne dass sie es mitbekommt und/oder sich dagegen wehren kann.
Ein zentraler Argumentationsfehler, den ich hier entdecke und auch gerade in vielen Homeschooling-Diskussionen gesehen habe, ist der, dass eine Dichotomie zwischen der "Zwangsaufzucht" des Kindes durch staatliche Institutionen und der "freien Aufzucht" des Kindes durch die Eltern konstruiert wird. Das ist aber eine gehörige Scheinlogik, denn in einer Welt, in der Kinder a) nie von Geburt an selbstständig für sich sorgen können und b) ultimative Wahrheiten aus epistemologischen Gründen nicht erkannt werden können, sind Kinder IMMER fremdbestimmt und diese Fremdbestimmung ist IMMER Teil einer subjektiven Agenda anderer Individuen. Es macht nur vom Bauchgefühl her einen Unterschied, ob das die Eltern oder staatliche Institutionen sind, qualitativ ändert das keinen Deut an der Fremdbestimmung und wie die Erfahrung mit Misshandlungsskandalen zeigt, sind sowohl Elternhäuser als auch Institutionen jeglicher Trägerschaft von Übergriffen betroffen. Es ist einfach Käse, zu implizieren, dass die Aufzucht durch die Eltern dem Kind zu Stabilität und Freiheit verhelfen würde, die durch den Staat dagegen zu Labilität und Duckmäusertum. Es gibt einfach beides, engagierte Eltern und engagierte Einrichtungen (Leitbild: freier, selbstständig denkender Staatsbürger) und es gibt grausame Eltern und grausame Einrichtungen. Ob das Kind engagiert oder grausam erzogen wird, hängt nicht davon ab, ob es die Eltern oder eine Einrichtung tun.
Für mich heißt das in der Konsequenz und unter der Annahme, dass Erkenntnis nur partiell und nur intersubjektiv erreicht werden kann, dass die beste Kindeserziehung die ist, in der alle daran Beteiligten konstruktiv und lernbereit mitwirken. Das beinhaltet das Setzen von Mindeststandards durch legislative Prozesse, die Zusammenarbeit und gegenseitige Kontrolle von Eltern und staatlichen Institutionen (sowie die staatliche Selbstkontrolle durch die Judikative, die wiederum auch den Eltern offensteht), sowie das persönliche Engagement der Eltern. Idealerweise tut in diesem Prozess jeder das, was er am besten kann. Da viele (nicht alle!) Mütter ein biologisch und kulturell gefördertes Bedürfnis nach und ein Talent für Bindung an ihre Kinder zu haben scheinen, erscheint es mir folgerichtig, dies zu nutzen und zu fördern - aber einzelfallabhängig und nicht ausschließlich und nur im Rahmen dessen, was die individuelle Mutter geben kann, nicht was sie nach biologistischen Konstruktionen hergeben können muss. Und analog spricht nichts dagegen, ein Kind, das sich in der Kinderkrippe wohl und geborgen fühlt, dort zu belassen.
stine hat geschrieben:Ich verstehe auch nicht, wie man sich einerseits über Missionierung in den Kindergärten aufregen kann, andererseits aber keine Probleme damit hat, schon das Kleinstkind fremden Menschen zu übergeben. Oft schon über 8 Stunden am Tag.
Analog zu oben: Du machst hier laufend die implizite Annahme, dass die eigene Mutter immer das Beste für das Kind will und tun kann. Weder das eine noch das andere müssen zwingend notwendig sein. Man findet genug misshandelte Kinder in Mülltonnen und Gefrierschränken, um das zu wissen. Vielleicht betonst du auch den Satz einfach falsch: Es geht nicht um "Missionierung in
Kindergärten", sondern um "
Missionierung in Kindergärten", die genausoschlimm ist wie "
Missionierung in Elternhäusern", nur dass letztere gesellschaftlich weniger geächtet, mehr tabuisiert und insgesamt verborgener ist, so dass man weniger leicht gegen sie ankommt.
Ziel sollte es doch sein, das Kind zu einem Menschen zu entwickeln, der einerseits frei ist in seinen Entscheidungen und andererseits Grenzen respektieren kann, also ein im besten Sinne moralischer Mensch ist. Es ist nur Unsinn, so zu tun, als wären die Eltern oder Institutionen dafür prädestiniert. Beide sind nur so gut wie sie eben sind, beide können Mist bauen, beide können Erfolg haben, beide haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Wenn eine Institution misisioniert, baut sie zweifelsohne Mist (A). Wenn sie dafür verantwortlich ist, dass das Kind eine Bindungsstörung entwickelt, auch (B). Nur wird Mist A nicht dadurch besser, dass Mist B parallel auch passieren kann und darf deshalb selbstverständlich kritisiert werden, auch unabhängig von Mist B. Im Falle von Mist B wäre zu diskutieren, was die Alternativen zu Kinderkrippen sind bzw. inwiefern Kinderbetreuung so gestaltet werden kann, dass die emotionalen Bedürfnisse des Kindes genauso befriedigt werden wie die sozioökonomischen der Mutter. Wie ich schon weiter oben geschrieben habe, halte ich es für notwendig, hier einzelfallbezogen zu entscheiden, was wiederum bedeutet, dass die Legislative Möglichkeiten schaffen muss, auf bestimmte gegebene Situationen unterschiedlich zu reagieren, also die Wahlfreiheit (daheimbleiben, Teilzeit, Kinderkrippe, Tagesmutter, Erziehungsberatungsstellen usw.) zu vergrößern.
stine hat geschrieben:Behauptung:Soziokulturell leben wir in einer Welt, wo sich Menschen darüber definieren, was sie gelernt haben, welchen Beruf sie ausüben und wieviel Geld sie damit verdienen. Es ist also durchaus verständlich, dass dies auch an den Frauen nicht spurlos vorübergehen kann. Eine Rechtsanwältin (verh. er auch RA), mit zwei Kindern 1 und 3, eines im Kindergarten und eines in der Kinderkrippe, hat ein höheres gesellschaftliches Ansehen, als die Frau des Hausmeisters, die sich zu Hause um die Kinder kümmert.
Deine Probe ist verfälscht, hat Vollbreit ja schon erklärt. Hätte eine Rechtsanwältin, die zwei, drei Jahre zur Kindeserziehung pausiert, ein schlechteres Ansehen als die dauerberufstätige? Wenn ja, dann wäre ein Ansehensverlust unabhängig vom Beruf auf die Art der Kindererziehung zurückzuführen. Wenn nein, dann ist die Kindeserziehung für gesellschaftliches Ansehen tatsächlich irrelevant, wie du behauptest.