Was ist Wahrheit?

Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon ujmp » Fr 1. Apr 2011, 08:28

Wikipedia hat geschrieben:'Die Drei-Welten-Theorie wurde 1918 von Gottlob Frege in seiner Arbeit Der Gedanke formuliert:

„Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muss anerkannt werden.“

Ein weiterer Vertreter ist Karl Raimund Popper, mit dessen Namen die Drei-Welten-Lehre in besonderem Maße verbunden ist. Popper nennt die dritte Welt „Welt 3“. Ähnlich wie bei Charles S. Peirce nimmt er an, dass die objektiven geistigen Gehalte Produkte des menschlichen Denkens seien, nach ihrer Erschaffung aber eine eigene Existenz besitzen. Das Bewusstsein ist bei ihm die zwischen physikalischer und geistiger Welt vermittelnde Instanz.'


In diesem sinn spielt sich Myrons Wahrheitsdefinition nur in Welt 3 ab. Da gibt es auch "Wahrheit", z.B. "A und nicht A können nicht zugleich wahr sein". Die Frage ist aber, ob und in wie fern zwischen Welt 1 und Welt 3 Beziehungen bestehen, die wir ebenfalls "Wahrheit" nennen wollen. Jedenfalls glaube ich, dass die Gedenken der Welt 3 nur in den allerseltensten Fällen in einer solchen Beziehung zur Welt drei stehen, die meisten drehen sich nur um sich selbst. Ganz falsch ist es m.E., wie es m.W. die Schule Hegels im besonderen Maße betreibt, aus der Gedankenwelt allein Wahrheit über die Welt 1 abzuleiten.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon xander1 » Sa 2. Apr 2011, 09:17

Ich wollte nur noch hinzufügen, dass Wahrheit auch ein Begriff in der Digitaltechnik, der Künstlichen Intelligenz und in der Fuzzy Logic ist.

Grundsätzlich ist aber das Thema ein philosophisches.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon Dissidenkt » Mi 20. Apr 2011, 23:24

Wahrheit ist eine vorübergehende Widerspruchsfreiheit.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Do 21. Apr 2011, 15:01

Wir können doch ersteinmal ein Analyse vornehmen; z.B. welche anderen Begriffe/Konzepte ein Begriff von Wahrheit unbedingt benötigt.

Inzwischen wurde Wahrheit immer wieder mit dem Urteil in Verbindung gebracht; im Sinne von "Wahrheit ist etwas, das Urteilen zukommt", oder auch "eine Wahrheit ist ein wahres Urteil". Zu fragen wäre an dieser Stelle, ob denn auch ein Begriff von Urteil denkbar ist, der einen Begriff von Wahrheit nicht benötigt. Intuitiv fällt mir kein einziges Beispiel eines Urteils ein, welches einen Begriff von Wahrheit nicht nötig hätte.
Um da kurz mit anderen lebendigen Ausdrücken organischer Systeme zu vergleichen: der Schwänzeltanz der Bienen benötigt keinen Begriff von Wahrheit. Soll heißen: nehmen wir an, dass wir menschliches Verhalten beschreiben sollten. Dabei stoßen wir auf ein bestimmtes linguistisches Verhalten von Menschen, welches wir "Urteilen" heißen. Nehmen wir an, zwei Menschen A und B tauschen sich über die Gefahren des Fortschrittes künstlicher Intelligenz aus. A urteilt, und B reagiert mit eigenen Urteilen auf die Urteile von A. Nehmen wir weiter an, dass A an einem bestimmten Punkt ein Urteil äußert, welches B negiert, also als unwahr/falsch beurteilt. Einen solchen Akt der Negation könnte man ohne eine Annahme eines Begriffes von Wahrheit nicht beschreiben.
Das Verhalten der Biene beim Schwänzeltanz benötigt eine solche Kategorie in der Beschreibung nicht: sie fliegt umher, trifft auf Nektar, fliegt zurück, führt den Tanz auf: die anderen Bienen reagieren darauf in bestimmter Art und Weise -- es gibt keinen Widerspruch, keine Einwände, keine Disjunktionen, Negationen etc etc -- das gesamte Phänomen ist beschreibbar ohne einen Begriff von Wahrheit.

Unter anderem benötigen also Urteile einen Begriff von Wahrheit -- aber benötigt Wahrheit einen Begriff von Urteil? Hier wären zuerst Fälle zu erwägen, in denen ein Begriff von Wahrheit außerhalb des Bereiches der Zuschreibung von Wahrheitswerten von Urteilen gebraucht wird; also Fälle, in denen Wahrheit nicht gebraucht wird um zu urteilen, dass ein Urteil wahr oder falsch sei.
Solche Fälle gibt es bei wertenden Urteilen: so spricht man von "wahrem Glück", dem "wahren Leben", der "wahren Liebe". Nehmen wir die Phrase vom "wahren Leben", die wohl zuerst durch Platon zu Europa gekommen ist. Wenn Christen vom "wahren Leben" sprechen, meinen sie das Leben, das beginnt, wenn das wirkliche Leben endet. Im Gegensatz zum wirklichen Leben, ist das wahre Leben allein determiniert durch den Bedeutungsgehalt des Begriffes von Leben: im Christentum ist das Leben eudämonistisch ausgelegt, also ist das wahre Leben vor Allem bestimmt durch Glückseligkeit. Außerdem wird das Leben aufgefasst als ein Bestehen: alles Endliche ist also dem Leben feind -- also wird das wahre Leben bestimmt als etwas, das nicht vergeht, aber doch einen Anfang hat.
Was dieses kurze Beispiel zeigen soll, ist, dass die Prädikation von Entitäten als "wahr" in folgenden Schritten geschieht: Definition eines Begriffes von einem Ding; Annahme der Definition eines Dinges als Wesen eines Dinges, d.i. als immanent formgebendes vom Ende her Determinierendes; Annahme des Wesens eines Dinges als reale Entität.
Da Definitionen eine Untermenge der Urteile bilden, ist auch hier der Begriff der Wahrheit an den des Urteils gebunden.

Weiterführende Frage: gibt es Fälle, in denen ein Begriff von Wahrheit nicht zusammen mit des Urteils auftritt?
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon eXCitus » So 8. Mai 2011, 22:49

Hab zwar nichts von den Antworten gelesen aber ich habe eine eigende Meinung: Philosophisch gesehen ist für mich Wahrheit auch eine Lüge, den wenn jemand anderes angelogen wurde und er glaub es sei die Wahrheit und er sagt es mir genau so, dann ist es von im keine Lüge obwohl er eigentlich nicht die Wahrheit gesagt hat, dann ist es nur für mich eine Lüge sofern ich die wahrheit bereits kenne.

Es ist Ansichtsache, jenachdem welche Perspektive der Wahrheit oder Lüge sich vorfindet kann beides Wahr und Falsch sein.

Menschlich gesehen ist Wahrheit, nicht bewusst angelogen zu werden und eine Lüge ist, bewusst angelogen zu werden.

Wer würde schon jemanden der Lüge bezichtigen ,wenn man diesen vorher vermittelt hätte das es die Warheit sei das die Erde Platt ist, da kann er ja nix dafür.

Wenn ich so darüber nachdenke könnte Wahrheit auch dem Willen des anderen zu folgen bzw in sich aufzunehmen sein und eine Lüge könnte diese sein, wenn man den Willen des anderen nicht aufnehmen will als sein eigenden.
Das könnte man gut auf die Religiöse Fanatische eigenschaft Anwenden, der Wille eines anderen wird zu Wahrheit auch wenn es öffensichtlich eine Lüge ist.

Interessantes Thema zum Nachdenken aber keine Ahnung ob das wirklich so sein könnte, da muss ich mal drüber nachdenken :irre:
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon platon » Di 10. Mai 2011, 19:14

Dissidenkt hat geschrieben:Wahrheit ist eine vorübergehende Widerspruchsfreiheit.

Gute Definition, aber ich würde vorübergehend streichen. Sobald Widerspruch da ist, ist es mit der Wahrheit Essig.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon ujmp » Di 10. Mai 2011, 20:13

Das ist m.E. eine zirkuläre Definition, weil man den Begriff Wahrheit schon benötigt, um Widerpruch zu definieren - "A und nicht A können nicht zugleich wahr sein". Oder gibt es eine Definition von Widerpruch, die ohne den Bergiff Wahrheit auskommt?
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon Myron » Di 10. Mai 2011, 20:24

Widerspruchsfreiheit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Wahrheit. Dagegen ist Widersprüchlichkeit eine hinreichende Bedingung für Falschheit.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon ujmp » Di 10. Mai 2011, 20:31

Ja - so lautet die Spielregel und wir legen Wert darauf, die sie Wirklichkeit mitspielt.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon xander1 » Do 2. Jun 2011, 19:44

Folgendes habe ich gerade entdeckt.

http://www.heise.de/tp/blogs/4/149933

Ich denke, dass das zum Thema passt.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon King Lui » Mi 27. Jul 2011, 20:23

xander1 hat geschrieben:Folgendes habe ich gerade entdeckt.

http://www.heise.de/tp/blogs/4/149933

Ich denke, dass das zum Thema passt.

Nun ja, die Kunst zu leben, mit all den kleinen oder größeren Fakes, die man im Leben selber abziehen kann oder mit denen man konfrontiert wird, ist für die allermeisten Menschen meines Erachtens zurecht mindestens ebenso bedeutsam wie die Wahrheitsuche oder auch nur die Wahrheitsdefinition.

Dennoch möchte ich nun meine Definition für Wahrheit bringen, wobei diese im Strang bereits näherungsweise erwähnt worden ist. Diese orientiert sich an der Korrespondenztheorie der Wahrheit.

Postulat 1: Es exisitiert eine von menschlichen Ideen, Gedanken, Theorien und Aussagen unabhängige Realität, deren Teil wir Menschen sind. Sie ist also nicht völlig unabhängig von Menschen.

Definition 1: Die gemäß Postulat 1 existierende Realität, wird als Wirklichkeit bezeichnet.

Ergänzende Bemerkung zu Definition 1: Wirklichkeit ist ein metaphysischer bzw. ontologischer Begriff, kein erkenntnistheoretischer.

Postulat 2: Menschen besitzen die Fähigkeit Ideen und Gedanken zu entwickeln und in Theorien und Aussagen zu äußern, die mit der Wirklichkeit korrespondieren und näherungsweise übereinstimmen.

Definition 2: Eine Idee, ein Gedanke, eine Theorie oder Aussage, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt, bezeichnen wir als wahr. Die Idee, den Gedanken, die Theorie oder Aussage beurteilen wir als eine Wahrheit.

Ergänzende Bemerkung 1 zu Definition 2: Wahrheit ist ein metaphysischer bzw. ontologischer Begriff, kein erkenntnistheoretischer. Man kann aber auf eine Idee, einen Gedanken, eine Theorie oder eine Aussage im erkenntnistheoretischen Sinne einen gerechtfertigten Wahrheitsanspruch erheben, wenn er erkenntnistheoretisch noch näher zu erläuternde Anforderungen erfüllt.

Ergänzende Bemerkung 2 zu Definition 2: Wahrheit ist keine Eigenschaft der Wirklichkeit noch eine Eigenschaft einer Theorie. Wahr ist zwar ein Adjektiv und Wahrheit ein substantiviertes Adjektiv, aber wahr ist ein beurteilendes Beiwort, mit dem wir die erkenntnistheoretische Korrespondenz bzw. erkenntnistheoretische näherungsweise Übereinstimmung zwischen Wirklichkeit und Idee, Gedanke, Theorie oder Aussage zum Ausdruck bringen.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon ujmp » Do 28. Jul 2011, 22:31

Wir werden des Definierens wohl niemals nicht müde...

Jetzt würde mich aber hauptsächlich interessieren, nach welchen Verfahren du deine "Wahrheit" feststellst. Was ist denn deine "Wirklichkeit"? Wie zeigt sich denn diese "Korrespondenz"?

Ich sag dir, was ich darüber denke: Die "Wirklichkeit" ist nicht gesprächig, sie erklärt nichts, sie beantwortet Fragen immer nur mit "Ja" oder "Nein". Deshalb muss ich meine Vorstellung -- meine Beschreibung der Wirklichkeit, mein Modell von ihr-- immer schon haben, bevor ich die Frage überhaupt stellen kann "Ist es vielleicht so und so?". Ich strecke meinen Fühler in die Welt hinaus und Frage "Stimmt es, dass die Fallbeschleunigung unabhängig vom Gewicht des Fallenden Gegenstandes ist?" Zuvor musste ich Fragen "Gibt es Fallbeschelunigung?", "Gibt es eine Eigenschaft die allen Körpern gemein ist und die ich Gewicht nenne?", "Gibt es Körper" usw.

Die interessanten Antworten sind die "Neins". Es wäre doch sehr bequem, wenn man alles unter dem selben Begriff verstehen könnte! Ein einziger Laut nur, wie der Schrei eines Neugeborenen. Doch Missmut dieses Schreies rührt vom "Nein" her: Nein, die Welt ich nicht nur warm und die Versorgung nicht immer so kontinulierlich, wie über eine Nabelschnur. Nein, es gibt nicht nur mich! Durch ein "Ja" lernt man prinzipell nichts dazu, es sei denn man stellt die Frage verneinend. Das ist dann aber ein "Ja" auf einen Zweifel, also eigentlich ein "Nein".

Der fortschreitende Prozess des Lernens ist ein Prozess des Differenzierens eines Ausgangsbegriffes. Dieser Ausgangsbegriff ist der denkende Organismus selbst. Er ist die Ausgangshypothese, die da lautet "Ich". Das Bewusstsein beginnt in dem Augenblick, in dem der Organismus sich selbst in Frage stellt: "Stimmt es, was ich denke?". Das Bewusstsein beginnt mit dem Zweifeln.

Die Wirklichkeit muss deshalb schon irgendwie potentiell in diesem Organsimus angelegt sein. Einerseits ist das eine großartige Vorstellung. Denn immerhin haben wir einen Begriff von unserem Universum, der bis an sein Anfang und sein Ende reicht. Andererseits ist der Gedanke ziemlich absurd, dass wir die Welt wesentlich besser verstehen, als ein Polyp, bloß weil unsere Tentakeln etwas komplexer gebaut sind.


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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon King Lui » Fr 29. Jul 2011, 00:17

ujmp hat geschrieben:Wir werden des Definierens wohl niemals nicht müde...

"Wahrheit" ist ein Begriff und als solcher lediglich eine Idee, die mit einer beliebigen Bedeutung verknüpft werden kann. Jeder Mensch kann diesen Begriff mit einer individuellen Bedeutung füllen. Und einem Label, einem Etikett, eine Bedeutung zuzuordnen, ist nun mal eine Definition. Nein, wenn es um die Frage geht, was Wahrheit ist, und das ist ja nun einmal die Frage in dem Themenstrang, dann dürften wir des Definierens niemals müde werden, bis wir einen Konsens gefunden haben.

Es gibt aber gute Gründe, Wahrheit so zu definieren, wie ich das gemacht habe, wenn man sich an den Realwissenschaften bei der Definition orientiert. Realwissenschaftler untersuchen und erforschen in der Regel das, was sie als Wirklichkeit bezeichnen und erstellen Theorien über ebendiese. Und sie scheuen sich auch nicht davor, diese Theorien als wahr oder als Wahrheit zu bezeichen, wenn sie näherungsweise ihrer Ansicht nach mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

ujmp hat geschrieben:Jetzt würde mich aber hauptsächlich interessieren, nach welchen Verfahren du deine "Wahrheit" feststellst. Was ist denn deine "Wirklichkeit"? Wie zeigt sich denn diese "Korrespondenz"?

Und du stellst "deine Wahrheit" bereits fest ohne die Bedeutung von "deiner Wahrheit" kommunizieren zu können oder sie dir bewußt gemacht zu haben? Was "meine Wirklichkeit" ist, habe ich doch gerade eben definiert. Wieso fragst du das also?
Das was ich hier gemacht habe ist natürlich analytische Philosophie. Es ist eine Präzisierung einer Definition, die es ohnehin schon gibt. Und sie taugt nichts, wenn sie nicht den wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Ansprüchen genügt. Wie sich die Korrepondenz zeigt, ist keine Frage auf die es eine analytische Anwort gibt, sondern, die das sehr große Themenspektrum der Wissenschaftstheorien umfasst.

Die Frage, was Wahrheit ist kann aber nur analytisch beantwortet werden, sollte sich aber an den erkenntnistheoretischen Methoden orientieren.

ujmp hat geschrieben:Ich sag dir, was ich darüber denke: Die "Wirklichkeit" ist nicht gesprächig, sie erklärt nichts, sie beantwortet Fragen immer nur mit "Ja" oder "Nein".

Nach meiner materialistischen Definition der Wirklichkeit, muss klar zwischen der materiellen Wirklichkeit und den Ideen und Metaphern über die Wirklichkeit unterschieden werden. Materie antwortet nicht mit "Ja" oder "Nein". Man kann allerdings Experimente anstellen, die eine Theorie bestätigen könnten oder sie falsifizieren könnten. Aber die Theorie ist ein Konstrukt, eine Idee. Und selbst diese antwortet nicht.

ujmp hat geschrieben:Deshalb muss ich meine Vorstellung -- meine Beschreibung der Wirklichkeit, mein Modell von ihr-- immer schon haben, bevor ich die Frage überhaupt stellen kann "Ist es vielleicht so und so?".

Grundsätzlich ist auch ein analytisches oder ontologisches Modell der Wirklichkeit, das die Grundstrukturen des Seienden definiert oder beschreibt nur ein Modell, das durch praktische wissenschaftliche oder erkenntnistheoretischen Überlegungen korrigiert oder bestätigt werden kann. Andererseits kann ein ontologisches Modell, eine Inspiration dafür sein, worauf man in erkenntnistheoretischen oder praktischen wissenschaftlichen Untersuchungen achten sollte. Beides ist voneinander abhängig. Aber davon ausgehen, dass Wirklichkeit "irgendwie" existiert, muss man wohl schon, bevor man überhaupt praktische wissenschaftliche Forschung betreiben kann. Oder wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Verifikation oder Falsifikation anstellen kann.

Wenn man aber verstehen will, was Wahrheit ist, kommt man meines Erachtens an einer klaren Differenzierung zwischen Theorie (=menschliche Idee) und ontologischer Wirklichkeit nicht vorbei. Sonst fängt die Wirklichkeit irgenwann zu sprechen an und antwortet mit "Ja" oder "Nein" oder Wahrheit wird zu einer Eigenschaft der Wirklichkeit oder zu einer Eigenschaft einer Theorie.

ujmp hat geschrieben:Ich strecke meinen Fühler in die Welt hinaus und Frage "Stimmt es, dass die Fallbeschleunigung unabhängig vom Gewicht des Fallenden Gegenstandes ist?" Zuvor musste ich Fragen "Gibt es Fallbeschelunigung?", "Gibt es eine Eigenschaft die allen Körpern gemein ist und die ich Gewicht nenne?", "Gibt es Körper" usw.

Und dazu muss einem klar sein, dass man seine Fühler ausstrecken kann, und dass es da draussen etwas metaphysisches gibt, das man als Körper bezeichnen kann, aber auch ein Gedankenkonstrukt das man als Körper bezeichnen kann. Und wenn beides korrespondiert, fällt man ein Urteil: Es ist wahr, dass es "Körper" gibt.

ujmp hat geschrieben:Die interessanten Antworten sind die "Neins". Es wäre doch sehr bequem, wenn man alles unter dem selben Begriff verstehen könnte! Ein einziger Laut nur, wie der Schrei eines Neugeborenen. Doch Missmut dieses Schreies rührt vom "Nein" her: Nein, die Welt ich nicht nur warm und die Versorgung nicht immer so kontinulierlich, wie über eine Nabelschnur. Nein, es gibt nicht nur mich! Durch ein "Ja" lernt man prinzipell nichts dazu, es sei denn man stellt die Frage verneinend. Das ist dann aber ein "Ja" auf einen Zweifel, also eigentlich ein "Nein".

Das sehe ich auch so, nur denke ich, dass du das Thema dieses Themenstrangs nicht behandelst.

[MOD]Zitat repariert, 1v6,5M[/MOD]
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon xander1 » Fr 29. Jul 2011, 06:00

@King Lui

Mit deiner Betrachtung von Wahrheit an sich frage ich mich wie du den Wahrheitsanspruch des Naturalismusses siehst, geschweige denn den anderer Weltanschauungen.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon King Lui » Fr 29. Jul 2011, 10:11

xander1 hat geschrieben:@King Lui

Mit deiner Betrachtung von Wahrheit an sich frage ich mich wie du den Wahrheitsanspruch des Naturalismusses siehst, geschweige denn den anderer Weltanschauungen.

Im Naturalismus wird die Wirklichkeit erforscht und es werden Theorien über die Wirklichkeit entwickelt, auf welche dann in der Regel auch ein Wahrheitsanspruch erhoben wird, wenn die Theorie in Referenz zur Wirklichkeitsbeobachtung stimmig erscheint. Kann man in Referenz zur Wirklichkeitsbeobachtung der Theorie Unstimmigkeiten nachweisen, muss sie entweder korrigiert oder verworfen werden. Mit dem Wahrheitsanspruch geht auch ein Allgemeingültigkeitsanspruch einher, der evtl. eingeschränkt nur unter kontextabhängigen Rahmenbedingungen gilt. Der Naturalismus ist keine vollständige Weltanschauung, sondern es wird lediglich ausgesagt, dass die Wirklichkeit ein naturhaftes Geschehen ist, in dem keine supranaturalistischen Phänomene existieren. Zu einer vollständigen Weltanschauung gehören u. a. noch ethische Werte, politische Ansichten, persönliche Bindungen, ... , diese sind weder wahr noch unwahr.

Andere Weltanschauungen haben oftmals bereits eine unklare oder andere Wahrheitsdefinition. Oft kann man bereits daran, wie in diesen Religionen der Begriff Wahrheit genutzt wird, erkennen, dass aus ihrem Wahrheitsanspruch kein Allgemeingültigkeitsanspruch abgeleitet werden kann. Dies gilt aber auch für den Humanismus.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon stine » Fr 29. Jul 2011, 10:55

King Lui hat geschrieben:Oft kann man bereits daran, wie in diesen Religionen der Begriff Wahrheit genutzt wird, erkennen, dass aus ihrem Wahrheitsanspruch kein Allgemeingültigkeitsanspruch abgeleitet werden kann. Dies gilt aber auch für den Humanismus.
Ja, ganz meine Meinung, @King Lui.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon King Lui » Fr 29. Jul 2011, 16:37

stine hat geschrieben:
King Lui hat geschrieben:Oft kann man bereits daran, wie in diesen Religionen der Begriff Wahrheit genutzt wird, erkennen, dass aus ihrem Wahrheitsanspruch kein Allgemeingültigkeitsanspruch abgeleitet werden kann. Dies gilt aber auch für den Humanismus.
Ja, ganz meine Meinung, @King Lui.
Was trinkst du? :bier:

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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon Myron » Fr 29. Jul 2011, 16:48

ujmp hat geschrieben:Wir werden des Definierens wohl niemals nicht müde...
Jetzt würde mich aber hauptsächlich interessieren, nach welchen Verfahren du deine "Wahrheit" feststellst. Was ist denn deine "Wirklichkeit"? Wie zeigt sich denn diese "Korrespondenz"?


Wir greifen zur Feststellung der Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit von Aussagen auf unsere Erkenntnisquellen zurück:

"Als Erkenntnisquelle sehe ich das an, wodurch die Anerkennung der Wahrheit, das Urteil, gerechtfertigt ist."

(Frege, Gottlob. Nachgelassene Schriften. Bd. 1. Hrsg. v. Hans Hermes, Friedrich Kambartel und Friedrich Kaulbach. 2. rev. Aufl. Hamburg: Meiner, 1983. S. 288)

* Erfahrung/Sinneswahrnehmung: Äußere Wahrnehmung + Innere Wahrnehmung (Selbstbeobachtung)
* Vernunft/Verstand: rationale Einsicht/Intuition
* Erinnerungen
* Zeugnisse/Zeugenaussagen

Supernaturalisten behaupten, dass uns darüber hinaus weitere Erkenntnisquellen zur Verfügung stehen:

* Außer-/Übersinnliche Wahrnehmung (Hellsehung, Voraussehung, Wahrsagung, Telepathie)
* mystische oder theistische Offenbarung/Erleuchtung/Eingebung
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon ujmp » So 31. Jul 2011, 15:44

Urteilen ist dann das Abgleichen einer Erwartung mit dem Input aus der "Erkenntnisquelle". Wahrheit ist m.E. nicht eine Eigenschaft von Sätzen, sondern von Erwartungen. Ein Satz kann ganz unterschiedliche Erwartungen hervorrufen. Der Satz codiert sozusagen die Erwartung nur. Tiere haben offensichtlich auch Erwartungen ohne diese in Sätze zu codieren oder aus Sätzen zu decodieren. Wenn man so will, hat auch eine Pflanze, die ihre Blätter zur Sonne dreht, die Erwartung, dass sie auf diese Weise das Sonnenlicht effizienter nutzen kann -- ohne eine Wort. Dass ein und derselbe Code, also ein und der selbe Satz, unterschiedliche Erwartungen wecken kann, ist ein Verständnisproblem, aber kein Problem der "Wahrheit" von Sätzen. Ein Satz hat in diesem Sinne überhaupt keinen Wahrheitswert, sondern lediglich einen Informationswert. (Das Problem des "Konsens" ist ein Kommunikationsproblem.) Ich würde also sagen, dass Wahrheit eine richtige Erwartung ist.

Der Satz "a²+b²=c²" kann verschiedene Erwartungen hervorrufen. Wenn mit a,b,c die Seitenlängen eines Rechtwinkligen Dreieckes gemeint sind, so weckt er die Erwartung, dass ich aus a und b die Länge der Seite c berechnen kann. Durch Nachmessen bestätigt sich meine Erwartung. Der Satz "stimmt" aber nicht, wenn das Dreieck nicht rechtwinklig ist oder wenn a,b,c drei Seiten eines Quadrates sind. Dann habe ich seine Bedeutung falsch decodiert.

Nun könnte ich aber noch daran verzweifeln, dass ich weder einen Winkel noch eine Distanz exakt messen kann. Und mehr noch: dass es weder ein Linie noch einen Punkt wirklich gibt. Aber übertriebenen Erwartungen überlasse ich den Phantasten. Ich beschränke mich auf die Erwartung, dass das Ergebnis auf meinem Lineal nicht mehr als einen Millimeter abweicht -- und diese Erwartung stellt sich stets als richtig heraus. Dies ist meine Erwartung an Exaktheit. Die Newton'sche Mechanik stimmt exakt, weil sie, im richtigen Kontext angewendet, nur richtige Erwartungen weckt, m.W. kann man mit ihrer Anwendung sogar zum Mond fliegen.
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Re: Was ist Wahrheit?

Beitragvon Myron » So 31. Jul 2011, 17:22

ujmp hat geschrieben:Urteilen ist dann das Abgleichen einer Erwartung mit dem Input aus der "Erkenntnisquelle". Wahrheit ist m.E. nicht eine Eigenschaft von Sätzen, sondern von Erwartungen.


Eine Erwartung kann man als geistige Haltung zu einer Aussage A oder einem Sachverhalt S bezeichnen (propositional attitude):
Person P erwartet, dass A/S.
Erwartungen können sich erfüllen, aber sie sind keine Wahrheitsträger wie Aussagen. (Auch Sachverhalte sind keine Wahrheitsträger; sie bestehen/bestehen nicht oder sind wirklich/nicht wirklich.)

"Wir unterscheiden demnach
1. das Fassen des Gedankens — das Denken,

2. die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens — das Urteilen,

3. die Kundgebung dieses Urteils — das Behaupten."


(Frege, Gottlob. "Der Gedanke: Eine logische Untersuchung." Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 2 (1918/19): 58-77.)
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