Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon spacetime » Mo 22. Mär 2010, 00:03

Mich beschäftigt nun schon länger die Frage, welche Ideologie wirklich diese Gesellschaft beherrscht. Damit meine ich keine kapitalistisch-neoliberale Ideologie, der wir täglich kritisch gegenüberstehen. Viele sagen, wir leben in einem postideologischen Zeitalter, das von niemandem beherrscht wird, außer unserer Vernunft. Dieselben Leute sagen auch, wir folgen nur unserer eigenen Ideologie -> es gäbe nicht 'die Ideologie'.
Das Gefährliche an einer solchen Denkweise ist, dass Ideologie dann gefährlich wird, wenn sie nicht mehr als eine solche gesehen wird, sondern unsichtbar und unbewusst in das konvertiert wird, was viele 'die Realität' nennen. Wir haben immer Brillen auf, egal wie sehr wir uns bemühen, objektiv zu werten. Es gibt aber leider die menschlich-subjektiven Grenzen, die uns unweigerlich an Ideen, Kompromisse, Urteile und Vereinbarungen binden. Ganz am Ende dieser Kette steht eine evolutionär herausgebildete Hürde, die unüberwindbar scheint: die Sprache. Soweit möchte ich aber gar nicht gehen. Im Folgenden nun ein Zitat des verstorbenen Journalisten und Buchautoren Rudolf Walter Leonhardt:
"Präventivstrafen, die von dem ausgehen, was alles hätte geschehen können, öffnen einem unerwünschten Besucher den Weg in den Gerichtssaal: der Phantasie. Diese Hätte-Können-Ideologie ist überall dort gefährlich, wo sie nicht, wie in der reinen Spekulation, weiterführt zu immer neuen Hätte-Könnens, sondern wo sie auf einmal umgesetzt wird in, zum Beispiel, die nüchterne Wirklichkeit einer Zuchthausstrafe, die dann nicht mehr nur hätte sein können, sondern die ist."
http://www.zeit.de/1996/07/Leos_Lust?page=all

Leonhardt drückt hier genau diese Fehlkonstruktion des Institutionellen aus, was wir hier im Forum schon oft angeprangert haben. Wir können niemals sagen, dass in der Vergangenheit irgendetwas, hätte anders geschehen können, weil es so kam wie es kommen musste. Die "Ideologie des Hätte-Können" ist ein Beispiel dafür, blind wir wirklich sind.
Eine stumpfe Phantasiewelt, eine Welt der Vereinbarung und bewussten Ideologien und dann noch die wirklich herrschende Ideologie, welche sich selbst zur Realität erkoren hat. Was mir wirklich Sorgen bereitet, ist das Aussterben des Wortes, welches ich hier ständig verwende (Ideologie). Ein Zeichen, dass die Masse der Menschen tief und fest schläft. Ich hoffe nur, das Erwachen wird nicht allzu erschreckend, sonst folgt auf den Tiefschlaf eine Schockstarre.

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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon stine » Mo 22. Mär 2010, 07:57

Nur weil das Wort selbst kaum noch verwendet wird, heißt das ja noch nicht, dass Ideologien aussterben. Ich denke, dass viele irrgelaufene Staatssysteme diesem Wort einen Pfui-Charakter verliehen haben. Aber jeder der eine Idee hat, wie es besser laufen könnte ist immer noch ein Ideologe.
Dass es keine einheitliche (Staats)Ideologie mehr gibt, ist der Demokratie zu verdanken. Ob die Vielfalt der Ideologien langfristig genau so schädlich ist, wie eine einheitliche die zu Ende gedacht, geführt und schließlich wahr wird, ist wieder eine andere Frage.
Die Ideologen sind aber deshalb noch keine aussterbende Rasse.

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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon xander1 » Mo 22. Mär 2010, 12:54

stine hat geschrieben:Aber jeder der eine Idee hat, wie es besser laufen könnte ist immer noch ein Ideologe.

Das ist nicht wahr. Es geht immer irgendwie besser. Nur wird es mit der Zeit immer schwiergier etwas zu verbessern. Ist es nicht eine Verbesserung, dass wir in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat leben? Das hat sich auch irgendwann jemand einfallen lassen und trotzdem ist es keine Demokratie. Echte Verbesserungen, die für die Mehrheit eine Verbesserung sind, gehören nicht zu Ideologien. Verbesserungen für kleine Mehrheiten oder für Minderheiten sind jedoch ideologisch geprägt. Das trifft für den Kommunismus zu, wie auch für den Neoliberalismus.
stine hat geschrieben:Die Ideologen sind aber deshalb noch keine aussterbende Rasse.

Du vermischst mit deinen Fazits öfter Dinge miteinander, die nichts miteinander zu tun haben. So ein Satz klingt schrill in meinen Ohren. Wenn Rasse irgendwas mit Ideologie zu tun hätte, außer beim Faschismus, aber der zählt nicht, dann würde dieser Satz ein intellektuelles Antliz haben. Vielleicht versuchst du ja so etwas. Aber so wie er da steht, ist er einfach schräg. Das ist wie ein Witz ohne Pointe.
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon stine » Mo 22. Mär 2010, 13:11

Das sind Wortklaubereien, Xander. Ist es so, dass man hier im Forum (und deutschlandweit und weltweit) eine Liste für Tabu-Wörter aufstellen muss?
Dann bitte her damit und auch gleich die Alternativ-Begriffe dazu, damit man weiß, wie man es richtig macht.

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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon Nanna » Mo 22. Mär 2010, 15:29

spacetime hat geschrieben:Viele sagen, wir leben in einem postideologischen Zeitalter, das von niemandem beherrscht wird, außer unserer Vernunft. Dieselben Leute sagen auch, wir folgen nur unserer eigenen Ideologie -> es gäbe nicht 'die Ideologie'.


Die Beobachtung mache ich auch. Es wird sehr gerne vom Ende der Ideologien gesprochen. Das finde ich ziemlich niedlich-doof, weil es eine Aussage ist, die ungefähr so sinnvoll ist wie das Ende der Kunst, der Politik oder der Wirtschaft herbeizufaseln, bloß weil die Rahmenverhältnisse sich verändert haben.

Bei dem Begriff Ideologie muss man tatsächlich erstmal klären, was gemeint ist. Ideologie bedeutet erstmal soviel wie allgemeines politisches Weltbild und da würde ein Ende der Ideologie auch ein Ende der Politik bedeuten, was - je nach der Definition des Politischen - ein Ende der Staaten oder sogar jeglicher sozialer Organisation wäre. Im Marxismus bezeichnet Ideologie den gesellschaftlichen Überbau bzw. das Bewusstsein und ist hier eher negativ konnotiert, weil angenommen wird, dass hier auch immer ein gerüttelt Maß Propaganda im Spiel ist (so gesehen war Stalin ungefähr so marxistisch wie G.W. Bush ein Pazifist ist).

Wenn vom Ende der Ideologien gesprochen wird, ist meist wohl zweiteres gemeint, also ein Ende der gleichgeschalteten Staatsideologien, wie sie heute in Reinform nur noch in Nordkorea anzutreffen ist. Diese Unterart von Ideologie hat es zumindest in der westlichen Welt heute schwer, das ist wahr, und sie gerät selbst in vordergründig totalitären Regimen wie China zunehmend unter Druck. Dass wir in der westlichen Welt keine die Gesellschaft überformenden Ideologien hätten, ist aber natürlich unsinnig. Auch Liberalismus und Pluralismus sind Ideologien (Stichwort postmoderner Relativismus und Kulturrelativismus) unda die Menschenrechte sind ebenfalls Teil einer ideologischen Weltsicht.
Das ist ja auch nicht per se schlecht, im Gegenteil, eine nichtideologische Weltsicht wäre die perfekte Orientierungslosigkeit ohne jegliche Normen, Regeln und zielgerichtetes soziales Handeln. Was meiner Meinung nach der zentrale Punkt ist, ist, dass die vorherrschende Ideologie transparent begründet wird, dass sie einem permanenten zivilgesellschaftlichen Diskurs ausgesetzt ist. Im Grunde heißt das die herrschende Ideologie laufend zu überprüfen und entsprechend umzustrukturieren, wenn neue Erkenntnisse dazu zwingen, also mehr oder weniger die wissenschaftliche Vorgehensweise anzuwenden.
Gewisse Teile einer Ideologie müssen aber axiomatisch angenommen werden, die Univeralität und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte beispielsweise und auch das damit verwandte Gebot, dass Politik und Wirtschaft dem Menschen dienen sollen und nicht umgekehrt.

Insofern macht xanders Aussage, dass "echte Verbesserungen" nicht Teil einer Ideologie seien, sondern nur solche, die einer Minderheit Vorteile verschaffen, auch keinerlei Sinn, denn von "Verbesserungen" zu sprechen setzt bereits einen normativen Bezugsrahmen voraus, der nur von einer Ideologie geschaffen werden kann.
Diese "Verbesserungen" in "echte" und nicht echte zu teilen und echte als nichtideologisch zu bezeichnen und sie der Mehrheit zuzurechnen ist zum einen ein altbekanntes Muster, das man in allen (teil-)kollektivistischen und teleologischen Ideologien, wie z.B. dem Marxismus, findet, zum anderen schlichtweg unmöglich objektiv zu beurteilen. Was echte und unechte Verbesserungen sind, ist politisch und damit ideologisch zu beantworten.
Eine reine Effizienzrechnung aufzumachen, hilft uns hier auch nicht weiter, denn ob es besser ist, zwei Arbeiter und eine Maschine fünf Produkte pro Stunde produzieren zu lassen, was weniger Arbeitslosigkeit, mehr Konsum und auch mehr Sozialabgaben bedeutet oder ob es besser ist zehn Produkte mit einem Arbeiter und zwei Maschinen pro Stunde herstellen zu lassen, was mehr Arbeitslosigkeit, weniger Sozialabgaben und Konsum, aber trotzdem mehr Umsatz und wohl auch mehr Gewinnn bedeutet, das kann nur entschieden werden, wenn man sich vorher klargemacht hat, was man will. Ökonomen und Soziologen können einem halbwegs ausrechnen, was das günstigste Szenario ist, wenn man eine bestimmte Zielvorstellung vorgibt, z.B. Maximierung des Industrieprofits oder maximale Reduktion sozialer Spannungen. In einem anderen Bereich wäre eines der bekannten Spannungsszenarien das zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit, etwa, wenn es um SIcherheitsgesetze geht. In allen Szenarien ist aber kaum bestimmbar, was allgemein die "bessere Verbesserung" wäre. Man muss sich eben für die entscheiden, die einem ideologisch am ehesten liegt, sowohl als Individuum wie auch als Souverän.

Noch kurz zum eigentlichen Thema:
Präventivstrafen sind ein zweischneidiges Schwert. Zuerstmal würde mich aber interessieren, spacetime, was mit Präventivstrafen genau gemeint ist. Geht es um tatsächliche präventive Verbrechensbekämpfung á la Hollywoods "Minority Report", wo schon die unterbewusste Verbrechensabsicht bestraft wird ("Gedankenverbrechen"), oder sind auch hohe Strafen auf Alkohol am Steuer in deiner Definition schon Präventivstrafen?
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon spacetime » Mo 22. Mär 2010, 18:07

xander1 hat geschrieben:Echte Verbesserungen, die für die Mehrheit eine Verbesserung sind, gehören nicht zu Ideologien.

Dieser Satz trifft genau die wunde Stelle, auf die der Thread zielt. Unsere Gesellschaft zerfällt deshalb nicht in 1.000.000, sich gegenseitig bekriegende Splittergruppen, weil alle EINE gemeinsame Ideologie verfolgen - bewusst oder unbewusst. Wir sehen das heute an den Fraktionen im Bundestag, die zwar unterschiedliche Partei-Programme haben, aber in keinem einzigen Fall grundsätzlich verschieden sind. Sie sind wie Punkte auf einer Ebene, die sie nicht verlassen können.
Ich vergleiche das gerne mit einer Computersoftware, wo wir schon mal bei Programmen sind. Die Ideologie ist Windows, das Betriebssystem. Die Masse benutzt es, weil es ganz einfach etabliert ist. Ein paar Leute denken, sie würden etwas besonderes sein, weil sie ein MacBook haben, merken selbst aber nicht die Idee dahinter - sie folgen blind einem Trend. Wenn das radikal ist, kann ich mir auch gleich die Hose zerreißen und meine Ohren tackern oder die Linke wählen.
Nur wenn uns die Leit-Ideologie bewusst ist, können wir Verbesserungen erreichen. Noch einmal: Es gäbe keine Menschheit ohne Ideologie, denn (und jetzt kommt's) die herrschende Ideologie ist ein Ersatz für die Mystik. Mystik deshalb, weil die gemeinsame Ideologie wie ein universelles Zahlensystem funktioniert, dass uns alle ideell verbindet, uns einen Sinn des Lebens verleiht und ständig vorgibt wahr zu sein, um nicht als kollektive Phantasterei entblößt zu werden. Unter den Millionen von Tierarten hat nur der Mensch eine bewusste Wahrnehmung, die Reflektion und komplexe Prognosen der ermöglicht, die nach einem komplexen, unverstandenem Prozess aufgebaut ist, das unter anderem auch als Grundlage für die Implementierung der Ideologie beim Individuum darstellt ermöglicht.
geht noch weiter... (das war Teil 2)
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon xander1 » Mo 22. Mär 2010, 21:56

Man muss da aber zwischen Ideologie und politischer Ideologie unterscheiden und nicht alles ist eine Ideologie, von dem man denkt es sei eine. Ideologie heißt zunächst Weltanschauung und das ist die Mindestvorraussetzung dafür, dass man es als solche Bezeichnen kann. Ein Gesetz im Bundestag ist nicht mit einer Ideologie gleichzusetzen. Ideologie ist auch nicht gleichzusetzen mit Realität.

@stine: Ich habe kein Problem mit dem Wort Rasse. Trotzdem finde ich deine Forumulierung unglücklich gewählt, weil sie so keinen richtigen Sinn ergibt, warum du das Wort Rasse da gewählt hast.
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon stine » Di 23. Mär 2010, 07:43

Hi Xander: Ich denke manchmal beim Schreiben nicht so genau darüber nach, ob das eine oder andere Wort sinniger oder gar widersinnig sein könnte. Da ich kein Schriftsteller bin und meine Posts deshalb nicht über einen längeren Zeitraum immer und immer wieder nacharbeite, kann sowas mal passieren. Zum Glück passt du auf! =)
Dann Lass das Wort einfach weg und lies: Die Ideologen sterben noch lange nicht aus.
Besser?

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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon spacetime » Fr 26. Mär 2010, 10:55

xander1 hat geschrieben:Ein Gesetz im Bundestag ist nicht mit einer Ideologie gleichzusetzen.

Ohne eine Ideologie, gäbe es gar keinen Bundestag. Alle Gesetze machen nur innerhalb einer Weltanschauung Sinn, welche die Masse, also das Volk, teilt. Wäre das nicht so, würden wir alle aneinander vorbeireden, was dann in einer Ausartung wortloser, extremistischer Gewalt münden würde. Die Demokratie ist mE die beste Grundlage für Ideologien, die unausgesprochen bleiben, aber allgemein verfolgt werden. Das kann positiv und negativ aufgefasst werden.

xander1 hat geschrieben:Ideologie ist auch nicht gleichzusetzen mit Realität.

Nein, das sicher nicht. Ideologie ist vielmehr das, was die Interpretation der Wirklichkeit beinhaltet. Sie erteilt uns einen gemeinsamen Sinn, der uns miteinander kommunizieren lässt. Ideologien sind als verschiedene Konzepte einer Logik anzusehen. Für einen extremistischen Islamisten gilt eine andere Logik, die für ihn Sinn macht. Das ist auch der Grund, warum wir Terroristen nicht wirklich verstehen werden, solange wir verschiedene Ideen einer Logik haben. Dehalb auch Ideo-logie.
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon xander1 » Mo 29. Mär 2010, 11:54

spacetime hat geschrieben:Für einen extremistischen Islamisten gilt eine andere Logik, die für ihn Sinn macht. Das ist auch der Grund, warum wir Terroristen nicht wirklich verstehen werden, solange wir verschiedene Ideen einer Logik haben. Dehalb auch Ideo-logie.

Islamistische Extremisten fühlen sich darin gekränkt, dass sie nicht so entwickelt sind, wie westliche Nationen. Daher rührt auch ihr Hass u.a. Sie wollen gerne die Überlegenen sein und fühlen sich unterdrückt. Wir merken gar nicht, dass unsere Länder andere Länder unterdrücken. Ich denke, dass selbst der Regierung so etwas gar nicht so bewusst ist. Es hat auch viel damit zu tun, dass Extremisten oft Monotheisten sind, und die denken existenzialistisch und sie haben ihre Ego-Moral wie die Christen. Sie fühlen sich durch unsere westliche Werte bedroht, da unsere Frauen nicht verschleiert sind und mehr Rechte besitzen, fühlen sie sich bedroht. So entsteht ein Feindbild, allein durch die Kultur schon. Sie wollen ihre Kultur nicht durch westliche beeinflussen lassen. Und weil sie sich durch die Kultur bedroht fühlen, lehnen sie auch moderne Konzepte wie Menschenrechte ab und Humanismus. Sie wollen sich damit erst gar nicht auseinander setzen. Das ist für sie fremd. Und was fremd ist, ist schon mal gefährlich.
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon spacetime » So 18. Apr 2010, 21:22

xander1 hat geschrieben:Islamistische Extremisten fühlen sich darin gekränkt, dass sie nicht so entwickelt sind, wie westliche Nationen. Daher rührt auch ihr Hass u.a.

Ein Extremist beneidet die westlich entwickelten Nationen so wenig, wie wir deren mittelalterlich anmutende Kultur für erstrebenswert halten. Wir dürfen nicht den Fehler machen und unsere Weltanschauung auf einen extremistischen Taliban übertragen. Für die, sind wir die Extremisten!
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon Nanna » Mo 19. Apr 2010, 12:38

Naja, Ohnmachtsgefühle spielen sicherlich eine große Rolle. Der Islamismus kanalisiert diese nur. Ich denke ihr habt beide Recht: Die Islamisten beneiden den Westen, aber nicht um seine Kultur, sondern um seine Macht. Ich glaube keinem von denen, dass die Nein sagen würden, wenn sie diese Macht unabhängig von der Kultur übernehmen könnten.
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon spacetime » Mo 19. Apr 2010, 16:48

Nanna hat geschrieben:Die Islamisten beneiden den Westen, aber nicht um seine Kultur, sondern um seine Macht.

Man muss immer im Hinterkopf haben, wie ein Islamist in einem afghanischen Bergdorf, abgeschnitten von jeglicher Aufklärung, aufwächst. Die wissen nur eins: Ich muss meine Ideologie schützen, weil ich nichts bin, außer diese Ideologie! (Natürlich sagen sie das nicht ausdrücklich so)
Das hat mit Macht-Neid nichts zu tun, da sich die Dimensionen dieser Macht nicht auf deren subjektive, alltägliche Wahrnehmung abbildet. Es ist die Angst vor dem Unbekannten, dem Fremden (oder dem "großen Anderen"), die diesen Hass erzeugt. Diese Menschen wollen mit der Macht des Westens nicht tauschen, weil sie diese Macht überhaupt nicht erkennen können. Gewalt entsteht immer dann, wenn Kommunikation auf allen Ebenen scheitert.
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon Nanna » Mi 21. Apr 2010, 21:50

Die Frage ist, über welche Islamisten wir hier reden. Die ungebildeten Bauern aus den afghanischen Bergdörfern werden in der Bevölkerung auch gerne "Gelegenheitstaliban" genannt, weil ihre Loyalität meist mehr opportunistische als religiöse Gründe hat.
Die glühenden Anhänger des Islamismus sind aber meist doch eher Leute vom Typus bin Laden: gebildet, in relativem Wohlstand aufgewachsen und mit westlicher Kultur durchaus vertraut. Der Islamismus ist eine Reaktion auf die Konfrontation mit westlichen Theorien und Ideologien, er folgt in seinem kompletten Strickmuster, der eigenen Ideologieentwicklung, dem Selbstbild als politischer Kraft, anderen westlichen Ideologien. Alle großen Islamisten, angefangen von Hassan al-Banna über Sayyid Qutub bis hin zu bin Laden, waren mit westlicher Denkweise bestens vertraut und übernahmen unterbewusst viele westliche Kategorisierungen. Ohne den Westen als Vor- und Feindbild ist der Islamismus überhaupt nicht zu verstehen und ich bin ziemlich sicher, dass Leute, die so sehr auf dieses Feindbild fixiert sind und ihre eigene Identität derart über die Abgrenzung dazu definieren, bestens über "uns" bescheid wissen und die westliche Macht in der Auseinandersetzung mit westlichen Medien, Sicherheitsdiensten und Armeen vielleicht sogar viel plastischer erfahren haben als wir selbst. Ein Indiz dafür ist auch, dass in den Medien immer wieder betont wird, wie gezielt die Taliban Aktionen auf innenpolitische Zustände in den NATO-Ländern abstimmen.

Klar, der einfache Hilfstaliban aus dem Bergdorf hat einfach nur Angst. Ich glaube allerdings, dass es dabei weniger um Ideologie geht, schon gar nicht um die Ideologie der Taliban, die in den von Stammestraditionen geprägten Köpfen der einfachen Leute wahrscheinlich auch nicht richtig ankommt. Es geht wohl eher um die Furcht vor Gewalt und die Hoffnung, dass die Taliban ein wenig Stabilität und äußere Sicherheit bringen könnten. Diese Leute sind aber für mich keine "echten" Islamisten, die wurden höchstens noch ein bisschen mit dem allgemeinen Verweis auf religiöse Pflichten (á la "Gott will es!", Schlachtruf der Kreuzfahrer im Mittelalter) angestachelt. Besonders ideologiefest können diese Leute aber schon mangels Bildung nicht sein.
Selbst die Koranschüler in den Madrassen sind zwar hochemotionalisiert, haben aber von dem, was sie tagtäglich auswendig lernen, wenig Ahnung. Zudem ist das koranische Arabisch selbst für Muttersprachler ungefähr so verständlich wie Mittelhochdeutsch für uns. Auf diese Menschen träfe deine Schilderung aber eher zu, denn die verteidigen ihre Ideologie wirklich blind aus Angst vor dem übermächtigen Fremden.

Die echten, überzeugten Islamisten hingegen wissen, da bin ich mir ziemlich sicher, eine ganze Menge über die Geschichte des Islam und den Westen. Da wird es eine Menge nostalgische Träumereien geben, wo die Wiederauferstehung der Umma und des Kalifats herbeigesehnt wird und viele werden auch von der islamischen Weltherrschaft träumen. Bin Laden zum Beispiel pflegt in der Manier historisch bekannter muslimischer Kämpfer und Feldherren zu dichten, ziemlich schlecht zwar, aber er will sich in diese Tradition stellen. Solche Leute würden eine militärische Schlagkraft wie die des Westens mit Kusshand nehmen, schließlich hatten die Muslime zu Mohammeds Zeiten selber einmal die mächtigste Armee der Welt und zu diesen Zuständen möchte man ja zurück.
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon Bionic » Sa 29. Mai 2010, 22:42

spacetime hat geschrieben:Mich beschäftigt nun schon länger die Frage, welche Ideologie wirklich diese Gesellschaft beherrscht. Damit meine ich keine kapitalistisch-neoliberale Ideologie, der wir täglich kritisch gegenüberstehen. Viele sagen, wir leben in einem postideologischen Zeitalter, das von niemandem beherrscht wird, außer unserer Vernunft. Dieselben Leute sagen auch, wir folgen nur unserer eigenen Ideologie -> es gäbe nicht 'die Ideologie'.

Warum meinst du nicht die kapitalistische Idiologie? Ich würde sagen Idiologie ist zu hart ausgedrückt für die heutige Zeit.
Ich weiß aber nicht wie man das sonst nennen könnte..
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Re: Der Unsinn einer "Hätte-Können-Ideologie"

Beitragvon Nanna » So 30. Mai 2010, 16:30

Bionic hat geschrieben:Ich würde sagen Idiologie ist zu hart ausgedrückt für die heutige Zeit.
Ich weiß aber nicht wie man das sonst nennen könnte..

Hier ist auch nicht Ideologie im dem Sinne gemeint wie es viele Leute im Alltag verwenden, nämlich im Sinne einer totalitären politischen Religion wie Faschismus oder Kommunismus.

Ich habe die beiden wissenschaftlichen Definitionen des Begriffes Ideologie (Marx'scher intellektueller Überbau einer Gesellschaftsform zum einen und neutraler Begriff der politischen Systemlehre zum anderen) hier schonmal angesprochen, aber das wiederhole ich jetzt nicht, das steht auch ganz passabel in der Wikipedia erklärt: http://de.wikipedia.org/wiki/Ideologie
Wenn man "Ideologie" in diesem Sinne verwendet klingt es auch ncht mehr "hart", sondern wertneutral und deskripitiv.
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