Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ganimed » Fr 26. Feb 2010, 22:40

AgentProvocateur hat geschrieben:Falls nein, kann ich dann zurecht sagen kann, dass Deine ganze Argumentation mit 'Kausalität' nur ein red herring, ein Ablenkungsmanöver ist. Freiheit nach Deinem Begriff kann es dann schlicht nicht geben, egal, ob unsere Welt streng determiniert ist oder nicht.

Ich verstehe noch nicht so ganz, wieso es meinen Freiheitsbegriff in einer nicht determinierten Welt nicht geben kann.

AgentProvocateur hat geschrieben:'Selber bestimmen' bedeutet Freiheit von äußeren und inneren Zwängen. Die Freiheit, die ja in meiner Sicht immer nur graduell sein kann, ist mE größer, als wenn diverse innere (z.B. Phobie, Sucht) oder äußere (z.B. Gehirnwäsche) Zwänge hinzukommen.

Ich gebe zu, die Freiheit wird durch den Wegfall von bestimmten Zwängen größer. Wenn aber ein Zwang, nämlich die totale Abhängigkeit von Ursachen, verbleibt, dann ist das ein Nullsummenspiel, dann gibt es auch durch den Wegfall anderer Zwänge keine Freiheit.
Du freust dich, dass bei Selbstbestimmtheit deine Entscheidung nicht von einer Phobie oder einer Gehirnwäsche abhängt. Und es scheint dir egal zu sein, dass sie aber immer noch von Gedächtnisinhalten, Kindheitsprägungen und Hormonspiegeln abhängt, welche allesamt nicht von dir bewusst kontrolliert werden können. Das stört dich wirklich nicht? Ich sehe da keinen Unterschied, ob meine Entscheidung nun von Hü oder Hott abhängt. Abhängigkeit ist es in beiden Fällen, und damit das Fehlen von Freiheit.

AgentProvocateur hat geschrieben:Da X und Y exakt gleich, ununterscheidbar, sind, können wir daraus schließen, dass die Entscheidungen von Y exakt genauso abgelaufen sind wie bei X. Der einzige Unterschied zwischen X und Y ist der, dass wir bei X sicher sagen können, dass es physikalisch nie anders hätte ablaufen können, da es in X's Welt keinerlei Zufall gibt. Wohingegen es bei Y hätte sein können, dass irgendwas hätte anders passieren können. Ist es zwar nicht, hätte aber sein können.

Ist also Y ebenso unfrei wie X?

Wie oben erwähnt: wenn ein Zwang wegfällt, dann bleiben möglicherweise dennoch andere. Ein 'vollständiger' Zwang reicht, um der Freiheit den Garaus zu machen.
Entfällt also bei Y der kausale Zwang, dann ist das ein erster Schritt. Wenn dies der letzte bzw. einzige Zwang war, dann ja, dann ist Y freier als X. Wenn es nicht die einzige war, dann bleibt Y trotz Akausalität möglicherweise ebenso unfrei wie X.

AgentProvocateur hat geschrieben:Was genau ist denn der Unterschied zwischen einem 'moralischen Vorwurf' und einem 'normalen Vorwurf'?

Bei einem "moralischen" Vorwurf unterstelle ich Schuld und behaupte: es ist die Schuld des Handelnden, denn er hätte ja auch anders handeln können. Ich werte das moralisch, nehme es dem Beschuldigten möglicherweise übel und kann daraus das Recht zur Verhängung einer Strafe ableiten.
Bei einem "normalen" Vorwurf unterstelle ich eine Verursachungsbeziehung. Ich bezichtige den Handelnden der Tat, ich nenne den Täter ursächlich verantwortlich. Vernünftiger- und konsequentialistischer Weise bleibt eine Tat je nach Schadensausmaß nicht ohne Folgen. Der Handelnde muss gegebenenfalls Verantwortung übernehmen, d.h. Maßnahmen ergreifen, um den Schaden oder die Wiederholungswahrscheinlichkeit gering zu halten.

AgentProvocateur hat geschrieben:Die notwendige und hinreichende Voraussetzung für einen moralischen Vorwurf ist mE folgende: jemand hat eine Normverletzung absichtlich und wissentlich oder aber fahrlässig begangen. Oder in kurz: jemand kann etwas für seine Handlung / Unterlassung.

Genau. "Jemand kann etwas für seine Handlung", das ist unser gemeinsamer Nenner. Das empfinde auch ich als notwendige Voraussetzung. Ich finde nur, im Unterschied zu dir, dass man angesichts des kausalen Zwanges eben nie etwas für seine Handlung kann.

AgentProvocateur hat geschrieben:Zum Beispiel demjenigen mit dem Tourette-Syndrom kann kein Vorwurf gemacht werden, er hat nicht bewusst / absichtlich gehandelt.

Du unterstellst hier, dass wenn man bewusst und absichtlich handelt, dass man dann etwas dafür kann. Aber wenn man in einer determinierten Welt nur auf eine einzige Art und Weise bewusst und absichtlich sein kann, dann kann man immer noch nichts dafür. Bewusstsein und Absicht stellen keine Wahlfreiheit dar. Oder, wenn man so will, das Bewusstsein hat sich unbewusst ergeben und die Absicht baute sich ohne Absicht auf.

AgentProvocateur hat geschrieben:Was ist die Voraussetzung für einen 'normalen Vorwurf' in Deinem Sinne? Ist die irgendwie anders als diejenige, die ich für einen moralischen Vorwurf für hinreichend halte?

Die Voraussetzung für einen 'normalen Vorwurf' ist die Zuordbarkeit der 'schädlichen' Handlung. Wenn der Orkan A auf B schubst, dann war der Auslöser der Orkan und es liegt keine aktive Handlung von A vor. Wenn A B bei Windstille schubst, dann ist ein 'normaler Vorwurf' angebracht.

AgentProvocateur hat geschrieben:Okay, also ist notwendige Voraussetzung für 'Freiheit' für Dich, dass jemand machen kann, dass 'X != X' gilt. Dann verweise ich nochmal auf meinen Einwand von ganz oben: das hat nichts mit Kausalität zu tun.

Ich nehme an, du meinst hier "S!=S"? Ich finde, das hat sehr viel mit Kausalität zu tun.
Nur in einer kausalen Welt gilt: Wenn die Ausgangssituation S genau gleich ist, dann handelt X auch genau gleich. Da die Handlung von X vollständig und kausal von der Situation S abhängt.
In jeder anderen Welt gilt das aber per Definition eben nicht. Da kann X, obwohl die Situation exakt die gleiche ist, dennoch was anderes machen.
Benutzeravatar
ganimed
 
Beiträge: 1687
Registriert: Sa 23. Aug 2008, 22:35

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ganimed » Fr 26. Feb 2010, 23:16

spacetime hat geschrieben:Genau, "mit irgendwas anderem"... Sag das mal dem Richter! (damit möchte ich ausdrücken, dass es kausal-komplexe Zusammenhänge gibt, die außerhalb der möglich menschlichen Erkenntnis liegen)

Mag sein, dass der Zusammenhang völlig unklar ist. Aber für eine Anerkennung der Unschuld ist doch nur wichtig, dass es einen Zusammenhang gibt. Mit was ist egal. Also ok, dann sag ich das beim nächsten Mal dem Richter.

spacetime hat geschrieben:Ein Mann begeht einen Mord aus dem Motiv der Rache. ... Hat ihn also die extreme Adrenalin-Ausschüttung (über die er keine bewusste Kontrolle hatte) dazu gezwungen? Die Antwort lautet: Ja, es war die primäre Ursache für sein Verhalten, aber das macht ihn nicht minder schuldig. Er war nämlich im Moment der Tat keine physisch andere Person.

Verstehe ich immer noch nicht. Der Mann ist schuldig, obwohl er die Tat nur deshalb beging, weil ein unbewusster, nicht willentlich beeinflussbarer Vorgang (Hormonausschüttung) in seinem Körper vonstatten ging? Weil er eben ein Subjekt ist, und ein Subjekt ist immer schuldig? Ist das die Logik?
Benutzeravatar
ganimed
 
Beiträge: 1687
Registriert: Sa 23. Aug 2008, 22:35

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ujmp » Sa 27. Feb 2010, 06:08

spacetime hat geschrieben:Ein Mann begeht einen Mord aus dem Motiv der Rache. ... Hat ihn also die extreme Adrenalin-Ausschüttung (über die er keine bewusste Kontrolle hatte) dazu gezwungen? Die Antwort lautet: Ja, es war die primäre Ursache für sein Verhalten, aber das macht ihn nicht minder schuldig. Er war nämlich im Moment der Tat keine physisch andere Person.


Sehe ich genau so.

Ich hatte mal einen kolerischen Kollegen, sein Spruch war "Ich bin schon wieder auf Hundert!" - einmal hab ich geantwortet "Hier sind aber nur Fünfzig erlaubt." Sogar das Adrenalin lässt sich steuern. Einem Autofahrer, der jemanden überfahren hat, wirft niemand vor, dass er sein Auto von 100 km/h nicht innerhalb von 10m zum Stillstand bekommen hat - weil das nämlich physikalisch unmöglich ist. Man wirft ihm vor, dass er überhaupt so schnell gefahren ist, obwohl nur 50 erlaubt war.

Wie ich oben schon angedeutet hatte, ist diese Diskussion aber sinnlos. Wenn es keine Handlungsfreiheit gibt, können wir aus dieser Diskussion überhaupt keine relevanten Entscheidungen ableiten. Wir setzen Handlungsfreiheit bereits vorraus, wenn wir überhaupt diskutieren. Wenn wir sagen "ein Mörder kann nichts dafür", dann müssen wir auch sagen, dass diese Gesellschaft nichts dafür kann, wenn sie ihn bestraft. Wir können dann von der Jutiz keine moralischen Entscheidungen fordern, weil auch sie keine Handlungsfreiheit hat. Ist das verstanden worden?
Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon stine » Sa 27. Feb 2010, 08:20

Dissidenkt hat geschrieben:Nein, das ist eine irrige Annahme, der aber vermutlich die meisten unterliegen.
Selbst Ameisen können hochorganisierte Staaten organisieren ohne alberne Vorstellungen von Schuld und Verantwortung. Sollte also auch Menschen möglich sein.
Im Ameisenstaat "funktionieren" aber alle genau so, wie sie sollen ohne zu hinterfragen. Wenn eine nicht funktioniert wird sie getötet und rausgeschmissen.
Tolles Modell für einen Sozialstaat!

LG stine
Benutzeravatar
stine
 
Beiträge: 8022
Registriert: Do 27. Sep 2007, 08:47

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ganimed » Sa 27. Feb 2010, 10:57

stine hat geschrieben:Im Ameisenstaat "funktionieren" aber alle genau so, wie sie sollen ohne zu hinterfragen. Wenn eine nicht funktioniert wird sie getötet und rausgeschmissen.
Tolles Modell für einen Sozialstaat!

Im Sozialstaat funktionieren möglicherweise alle wie sie sollen, indem sie hinterfragen. Nur weil wir anders aussehen und handeln wie Ameisen kann der Vergleich doch richtig sein. Wir sind ungleich komplexer, aber nach festen und nicht abstreifbaren Grundsätzen funktionieren auch wir Menschen.

Und hat irgend jemand hier den Eindruck, unser Staat und unsere Gesellschaft würde funktionieren? Zu großen Teilen sicher. Aber wenn ich das System gebaut hätte, dann wäre ich doch höchst betroffen über all die Missstände und würde das als Fehlschlag bezeichnen. Die Nachrichten sind voll von Berichten über Verbrechen, moralischen Verfehlungen und Unhaltbarem. Und das ist nur die klitzekleine Spitze des Eisbergs, der gerade in den Medien verwurstet wird. Man könnte also sagen: mit dem bisherigen System von Schuld, Gericht, moralischer Verantwortung und tausend Regeln fahren wir zumindest nicht besonders gut.
Man müsste jetzt Dissidenkts Vorschläge mal alle umsetzen und dann 50 Jahre damit fahren und könnte dann vielleicht mal vergleichende Bilanz ziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den teilweise radikalen Umbauten in den Vorschlägen von Dissidenkt in Gänze folgen möchte. Aber zumindest habe ich das Gefühl, dass es viel schlimmer als augenblicklich wirklich nicht werden würde. Ob man nun die Gefängnisse mit oft unverbesserlichen Wiederholungstätern vollstopft und nach deren Entlassung wieder nach ihnen fahndet, während man einen Großteil der Delikte ja sowieso niemals aufklärt, oder ob man gleich kapituliert und den Anspruch der Justiz auf Vermeidung durch Strafandrohung und Sühnung durch Strafen aufgibt und lieber die Gründe für soziale Verfehlungen vermeidet, könnte so ungefähr auf dasselbe hinaus laufen.
Benutzeravatar
ganimed
 
Beiträge: 1687
Registriert: Sa 23. Aug 2008, 22:35

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ganimed » Sa 27. Feb 2010, 11:18

ujmp hat geschrieben:Ich hatte mal einen kolerischen Kollegen, sein Spruch war "Ich bin schon wieder auf Hundert!" - einmal hab ich geantwortet "Hier sind aber nur Fünfzig erlaubt."

Süffisant von jemandem zu verlangen, dass er gar nicht erst so schnell fahren, sich einfach mal beruhigen und seinen Adrenalinspiegel senken soll, ist sicher nett gemeint. Aber stell dir mal vor, es herrschte 90 als Mindestgeschwindigkeit. Dann würde man dir ständig sagen: "hey, reg dich doch einfach mal auf und drück aufs Adrenalinpedal!" Könntest du das? Wir sind alle nunmal so gestrickt wie wir gestrickt sind. Ein bisschen Spielraum bleibt durch Training und Gewöhnungseffekte im Gehirn. Aber es ist unfair von einem Raser das Langsamfahren zu verlangen mit dem Hinweis, man selber würde sich ja auch beherrschen können.

ujmp hat geschrieben:Wie ich oben schon angedeutet hatte, ist diese Diskussion aber sinnlos. Wenn es keine Handlungsfreiheit gibt, können wir aus dieser Diskussion überhaupt keine relevanten Entscheidungen ableiten. Wir setzen Handlungsfreiheit bereits vorraus, wenn wir überhaupt diskutieren. Wenn wir sagen "ein Mörder kann nichts dafür", dann müssen wir auch sagen, dass diese Gesellschaft nichts dafür kann, wenn sie ihn bestraft. Wir können dann von der Jutiz keine moralischen Entscheidungen fordern, weil auch sie keine Handlungsfreiheit hat.

"Handlungsfreiheit" definiere ich als die Möglichkeit, das zu tun was man will. Die haben wir in vielen Fällen, wenn nicht gerade Sachzwänge oder Andere oder irgendwas dagegen spricht. Mir ging es hier meistens um "Willensfreiheit". Also sich aussuchen zu können, was man will. Das scheint mir grundsätzlich unmöglich zu sein.

Ein Auto hat nichtmal einen Willen geschweige denn einen freien. Was du jetzt sagst ist: dann brauche ich ja auch nicht mehr steuern. Das aber wäre ein fataler Irrtum!

Auch wenn man keine Willensfreiheit hat, kann man entscheiden (nur eben nicht frei), man kann sich umbesinnen (leider nicht frei sondern nur im Zuge von Gründen), man kann diskutieren, beeinflussen und sich beeinflussen lassen usw.
Eine Gesellschaft kann tatsächlich nichts dafür, wenn sie bestraft. Aber sie kann umgestimmt werden, sie kann ihre Meinung ändern. Genau so wie wir einen Täter zur therapeutischen Behandlung schicken statt ins Gefängnis, um die Ursachen für seine Verfehlungen zu bekämpfen statt nur platt zu bestrafen. Das Fehlen von Willensfreiheit und das Fehlen von Schuld ändert nichts an Handlungsfreiheit und der Nützlichkeit von Diskussionen.
Benutzeravatar
ganimed
 
Beiträge: 1687
Registriert: Sa 23. Aug 2008, 22:35

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon stine » Sa 27. Feb 2010, 11:31

ganimed hat geschrieben:Und hat irgend jemand hier den Eindruck, unser Staat und unsere Gesellschaft würde funktionieren? Zu großen Teilen sicher. Aber wenn ich das System gebaut hätte, dann wäre ich doch höchst betroffen über all die Missstände und würde das als Fehlschlag bezeichnen. Die Nachrichten sind voll von Berichten über Verbrechen, moralischen Verfehlungen und Unhaltbarem. Und das ist nur die klitzekleine Spitze des Eisbergs, der gerade in den Medien verwurstet wird. Man könnte also sagen: mit dem bisherigen System von Schuld, Gericht, moralischer Verantwortung und tausend Regeln fahren wir zumindest nicht besonders gut.
Ich denke du bist eher ein Pessimist, oder? Das sogenannte halbleere Glas? :wink:

Wenn du bedenkst, dass unsere Nachrichten die Essenz der weltweiten Konflikte sind, dann finde ich das was passiert doch eher wenig. Die guten Nachrichten werden eben einfach auch nicht dazu gesendet. Es ist weltweit viel mehr in Ordnung, als in Unordnung.
Dann kommt noch die Frage, warum ist denn unerer Meinung nach die Welt in Unordnung? Weil wir Mitteleuropäer davon ausgehen, dass die Welt so funktionieren müsste, wie wir denken, wie unsere Vorstellungen von Staat und Sozialismus, von Kaptalismus und liberaler Freiheit sind. Andere Völker denken aber anders und andere Völker leben auch anders. Klar gilt nicht in allen Staatsformen der Mensch als höchste Wesen, im Sinne unserer Menschenrechte, das ist schlimm, aber vielleicht hat das historisch immer gut funktioniert? Wie der Ameisenstaat auch?

Ich meine, man müsste sich entscheiden ob ich den Menschen aufs Podium hebe oder als funktionierendes Wesen betrachte. Irgendwo dazwischen sind wir jetzt schon, und da gibt es eben Gutes UND Schlechtes zu berichten.

LG stine
Benutzeravatar
stine
 
Beiträge: 8022
Registriert: Do 27. Sep 2007, 08:47

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon platon » Sa 27. Feb 2010, 12:12

ganimed hat geschrieben:Süffisant von jemandem zu verlangen, dass er gar nicht erst so schnell fahren, sich einfach mal beruhigen und seinen Adrenalinspiegel senken soll, ist sicher nett gemeint.

Ja das kommt eben darauf an, wie die Umstände sind. 100 zu fahren, wo nur 50 erlaubt sind, ist eine Frechheit, 50 zu fahren, wo mindestens 90 geboten sind, eine Unverschämtheit und ebenfalls eine Ordnungswidrigkeit.

ganimed hat geschrieben:Aber es ist unfair von einem Raser das Langsamfahren zu verlangen mit dem Hinweis, man selber würde sich ja auch beherrschen können.

Dort, wo er es darf, ist er kein Raser und dort wo er es nicht darf, ist der Hinweis auf das Langsamfahren geboten

ganimed hat geschrieben:Wenn wir sagen "ein Mörder kann nichts dafür", dann müssen wir auch sagen, dass diese Gesellschaft nichts dafür kann, wenn sie ihn bestraft.

Wenn jemand nicht in der Lage ist, die Auswirkungen seiner Tat zu erkennen, dann ist er möglicherweise eingeschränkt schuldfähig, das heißt aber nicht, dass der Richter sagt, Tschüss, bis zum nächsten Mal. Und sogar nicht schuldfähig heißt nicht unschuldig!

ganimed hat geschrieben:"Handlungsfreiheit" definiere ich als die Möglichkeit, das zu tun was man will. Die haben wir in vielen Fällen, wenn nicht gerade Sachzwänge oder Andere oder irgendwas dagegen spricht. Mir ging es hier meistens um "Willensfreiheit". Also sich aussuchen zu können, was man will. Das scheint mir grundsätzlich unmöglich zu sein.

Handlungsfreiheit hast Du gut definiert, dem ist nichts hinzuzufügen, Willensfreiheit hast Du in jedem Fall unbegrenzt. Du kannst wollen, was Du willst. Ob Du Deinen Willen dann auch in die Tat umsetzen kannst, hängt von Deiner Handlungsfreiheit ab (s.o.)

ganimed hat geschrieben:Auch wenn man keine Willensfreiheit hat, kann man entscheiden (nur eben nicht frei), man kann sich umbesinnen (leider nicht frei sondern nur im Zuge von Gründen)

Wieso solltest Du Gründe für eine Umbesinnung haben? Du besinnst Dich um, weil Du Dich umbesinnen willst. Wer will Dir da Vorschriften machen?
ganimed hat geschrieben: Das Fehlen von Willensfreiheit und das Fehlen von Schuld ändert nichts an Handlungsfreiheit und der Nützlichkeit von Diskussionen.

Das Fehlen von Willensfreiheit und das Fehlen von Schuld gibt es nicht, ein defacto Fehlen von Handlungsfreiheit dagegen mMn schon.
Benutzeravatar
platon
 
Beiträge: 1634
Registriert: Fr 10. Apr 2009, 21:49

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon spacetime » Sa 27. Feb 2010, 15:56

"Ich übernehme hiermit keinerlei Verantwortung für das, was Ich nicht bin." Jetzt kommt mir die Frage auf, wo dieses "Ich" anfängt und wo es aufhört, wenn es doch nur eine Illusion ist. Vor zwei Minuten war mein Ich-Konzept zwar ein völlig anderes, aber mein physisches Wesen bleibt das selbe.
Wir müssen die Illusion der Willensfreiheit bewahren, da sie Teil der menschlichen Natur ist. Wir können nicht so tun, als wäre die Idee von Freiheit ein Hirngespinst. Es ist die Realität einer Illusion. So gibt es keine Wissenschft, keine Natur, keinen Gott, keine Wahrheit und Freiheit - einzig die Idee/unsere Vorstellung davon ist wirklich da. Wenn jetzt wieder jemand mit seiner Vernunftgeschichte ankommt, dem lass gesagt sein, Vernunft ist ebenfalls Illusion. Nur die "absolute Vernunft" wäre Vernunft im wahren Sinne.
Benutzeravatar
spacetime
 
Beiträge: 288
Registriert: Di 29. Mai 2007, 20:11
Wohnort: Frankfurt

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 27. Feb 2010, 18:59

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:'Selber bestimmen' bedeutet Freiheit von äußeren und inneren Zwängen. Die Freiheit, die ja in meiner Sicht immer nur graduell sein kann, ist mE größer, als wenn diverse innere (z.B. Phobie, Sucht) oder äußere (z.B. Gehirnwäsche) Zwänge hinzukommen.

Ich gebe zu, die Freiheit wird durch den Wegfall von bestimmten Zwängen größer. Wenn aber ein Zwang, nämlich die totale Abhängigkeit von Ursachen, verbleibt, dann ist das ein Nullsummenspiel, dann gibt es auch durch den Wegfall anderer Zwänge keine Freiheit.

Naja, wir haben halt einen unterschiedlichen Freiheitsbegriff: meiner ist graduell, Deiner ist absolut (völlige Unabhängigkeit von Allem, auch den notwendigen Grundlagen jeglicher Existenz).

ganimed hat geschrieben:Du freust dich, dass bei Selbstbestimmtheit deine Entscheidung nicht von einer Phobie oder einer Gehirnwäsche abhängt. Und es scheint dir egal zu sein, dass sie aber immer noch von Gedächtnisinhalten, Kindheitsprägungen und Hormonspiegeln abhängt, welche allesamt nicht von dir bewusst kontrolliert werden können. Das stört dich wirklich nicht?

Nein, natürlich stört mich das nicht, das sind notwendige Bedingungen für meine Existenz. Nähme man sie weg, existierte ich nicht. Ich bin keineswegs etwas Getrenntes davon, das sind notwendige Bestandteile von mir als Person.

ganimed hat geschrieben:Bei einem "moralischen" Vorwurf unterstelle ich Schuld und behaupte: es ist die Schuld des Handelnden, denn er hätte ja auch anders handeln können. Ich werte das moralisch, nehme es dem Beschuldigten möglicherweise übel und kann daraus das Recht zur Verhängung einer Strafe ableiten.
Bei einem "normalen" Vorwurf unterstelle ich eine Verursachungsbeziehung. Ich bezichtige den Handelnden der Tat, ich nenne den Täter ursächlich verantwortlich. Vernünftiger- und konsequentialistischer Weise bleibt eine Tat je nach Schadensausmaß nicht ohne Folgen. Der Handelnde muss gegebenenfalls Verantwortung übernehmen, d.h. Maßnahmen ergreifen, um den Schaden oder die Wiederholungswahrscheinlichkeit gering zu halten.

[...]

Die Voraussetzung für einen 'normalen Vorwurf' ist die Zuordbarkeit der 'schädlichen' Handlung. Wenn der Orkan A auf B schubst, dann war der Auslöser der Orkan und es liegt keine aktive Handlung von A vor. Wenn A B bei Windstille schubst, dann ist ein 'normaler Vorwurf' angebracht.

'Zuordbarkeit' und 'aktive' Handlung sind aber letztlich dasselbe wie das, was ich oben als hinreichende Bedingung für die Zuschreibung von moralischer Verantwortung genannt habe.

Sofern das gerechtfertigt ist, ist die Zuschreibung der Verantwortung mE berechtigt. Und eben auch der Schuld, weil die nichts anderes ist als Verantwortung für einen Normverstoß. Und, ja, 'Schuld' beinhaltet einen moralischen Vorwurf: "das hättest Du nicht tun sollen, Dein Handeln war moralisch falsch." Nicht 'logisch falsch', sondern eben 'moralisch falsch'.

Dazu ist es nicht notwendig, eine merkwürdige und nicht darstellbare metaphysische und mE logisch unmögliche Fähigkeit, anders entscheiden zu können, als man letztlich entscheidet, annehmen zu müssen.

Notwendig ist es jedoch, dass jemand hätte anders handeln können, wenn er das gewollt hätte. Ist z.B. jemand an einen Stuhl gefesselt, so kann ihm eine unterlassene Hilfeleistung nicht zugerechnet werden. Er wurde durch einen äußeren offensichtlichen Zwang daran gehindert, einzugreifen.

Man könnte die Anforderung dafür, dass jemand moralisch verantwortlich ist, folgendermaßen formulieren: Eine Person ist nicht moralisch verantwortlich dafür, was sie getan hat, wenn sie es nur tat, weil sie wegen äußerer oder innerer Zwänge nicht anders konnte.

Aber von mir aus können wir die hinreichende Bedingung für die Zuweisung von Verantwortung auch gerne so formulieren, wie Du es tatest: Eine Person ist nur dann für eine Handlung verantwortlich, wenn es eine aktive Handlung von ihr war und sie ihr deswegen zugeordnet werden kann.

Und nur wenn eine Person verantwortlich für eine Normverletzung war, darf sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden, d.h. evtl. schadensersatzpflichtig sein und / oder zusätzlichen individuellen 'Maßnahmen' gegen ihren Willen unterzogen werden, richtig?

Bzw. eine Ausnahme davon könnte es evtl. geben, wenn jemand nicht als selbstbestimmte Person angesehen wird, die ihre Handlungen hinreichend kontrollieren kann und von der eine Gefahr ausgeht.

Aber dann hat sich nun nichts geändert zu meiner Ansicht bezüglich moralischer Verantwortung, außer ein bisschen Sprachkosmetik (Du willst 'Moral' nicht mehr 'Moral' nennen und 'Schuld' nicht mehr 'Schuld'). Was aber nichts weiter ändert, außer dass die Kommunikation dadurch etwas erschwert wird.

Und 'kann etwas für eine Handlung' bedeutet für mich nicht mehr als 'Zuordbarkeit einer aktiven Handlung'.

ganimed hat geschrieben:Du unterstellst hier, dass wenn man bewusst und absichtlich handelt, dass man dann etwas dafür kann. Aber wenn man in einer determinierten Welt nur auf eine einzige Art und Weise bewusst und absichtlich sein kann, dann kann man immer noch nichts dafür. Bewusstsein und Absicht stellen keine Wahlfreiheit dar. Oder, wenn man so will, das Bewusstsein hat sich unbewusst ergeben und die Absicht baute sich ohne Absicht auf.

Solange eine Person eine hinreichende Fähigkeit dazu hat, ihre Entscheidungen durchzuspielen und die Folgen der daraus erfolgenden Handlung abzuschätzen, sehe ich kein Problem darin, zu sagen, sie könne etwas für diese Handlungen.

Wenn wir mal in einer hypothetischen (teilweise) indeterminierten Welt eine Entscheidung betrachten, kann die ja auch nicht wesentlich anders ablaufen, um der Person zurechenbar zu sein, sie muss nach den Präferenzen und Gründen der Person erfolgen, auf sie zurückführbar sein und letztlich aktiv befürwortet werden. Das ist notwendige Bedingung dafür, jemandem Verantwortung zuzuschreiben. Dass es ihre Handlung war, aktiv, bewusst, selbstbestimmt durchgeführt. Und das ist dann auch schon hinreichende Bedingung, um Verantwortung zuzuschreiben, mehr muss nicht hinzukommen.

Auf keinen Fall darf jedoch hinzukommen, dass die Entscheidung und die daraus erfolgende Handlung von der Person 'frei' (von ihr unabhängig) waren. Denn dann könnte sie sicher nicht dafür verantwortlich sein. Das widerspräche zweifellos dem gebräuchlichen Verantwortungsbegriff.
Benutzeravatar
AgentProvocateur
 
Beiträge: 731
Registriert: Di 13. Nov 2007, 01:46

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ganimed » Mo 1. Mär 2010, 00:34

spacetime hat geschrieben:Wir müssen die Illusion der Willensfreiheit bewahren, da sie Teil der menschlichen Natur ist.

Und wir werden sie bewahren weil sie Teil der menschlichen Natur ist. Wir können gar nicht anders, als dieser Illusion unseres Bewusstseins zu unterliegen, weil wir eben genau so funktionieren. Aber natürlich ist auch die relativ rationale Denke im Großhirn Teil der menschlichen Natur. Und damit können wir sozusagen "auch" und zur gleichen Zeit einsehen, dass der andere Teil uns da lediglich eine Illusion serviert.
Die Frage ist aber dann, welche dieser beiden Sichten lassen wir beispielsweise vor einem Gericht gelten. Sollen wir da der Illusion nachgeben und, eben weil es eine Illusion ist, zu 'falschen' Ergebnissen kommen? Ich finde nicht. Je nach Situation, Möglichkeit und Kontext sollten wir mal eher die Illusion und andernorts eher die rationale Erkenntnis nutzen. Vor Gericht ist, meiner Meinung nach, die rationale, objektive Sicht zu bevorzugen.
Benutzeravatar
ganimed
 
Beiträge: 1687
Registriert: Sa 23. Aug 2008, 22:35

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ganimed » Mo 1. Mär 2010, 00:45

platon hat geschrieben:Wenn jemand nicht in der Lage ist, die Auswirkungen seiner Tat zu erkennen, dann ist er möglicherweise eingeschränkt schuldfähig, das heißt aber nicht, dass der Richter sagt, Tschüss, bis zum nächsten Mal. Und sogar nicht schuldfähig heißt nicht unschuldig!

1) Klar, nicht schuldfähig heißt nur, dass man nicht bestraft wird. Je nach Tat können aber andere Maßnahmen sinnvoll erscheinen: Therapie, Schadensersatz, usw.
2) Was ist mit Tätern, die die Auswirkungen ihrer Tat erkennen, aber dennoch die Tat nicht unterlassen können? In deiner Formulierung könnte man auf die Idee kommen, dass die Fähigkeit zur Erkenntnis bei einem Menschen immer auch die Möglichkeit zur Unterlassung der Tat beinhaltet. Wenn es dann jemand doch tut, dann ist er schuldig? Das klingt ein wenig nach der Vorstellung von einem perfekten Menschen, der immer rational handeln kann. Bei den Ökonomen hat sich inzwischen erwiesen, dass es den Homo oeconomicus nicht gibt. Jener gedachte "Wirtschaftsmensch", der immer und überall streng rational auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Manchmal weiß man, dass es falsch ist und tut es trotzdem. Oder sollte ich sagen: oft?

Ich finde, selbst ohne inkompatibilistische Kausalargumente kann man jemanden nicht nur deshalb für schuldig halten, weil er die Auswirkungen seiner Tat gekannt hätte.

platon hat geschrieben:Willensfreiheit hast Du in jedem Fall unbegrenzt. Du kannst wollen, was Du willst.

Na da habe ich ja endlich mal jemanden gefunden, der mir diametral gegenüber sitzt. Ich meine nämlich genau das Gegenteil. Ich kann nie wollen, was ich will.

platon hat geschrieben:Wieso solltest Du Gründe für eine Umbesinnung haben? Du besinnst Dich um, weil Du Dich umbesinnen willst.

Da haben wir ja schon einen Grund für die Umbesinnung: weil ich mich umbesinnen will. Die Frage aber bliebe, wieso will ich das?
Du bist wirklich der Meinung, dass in einer kausalen Welt ich einfach so, aus dem Blauen heraus und ohne jeglichen Grund mich umbesinnen könnte?
Benutzeravatar
ganimed
 
Beiträge: 1687
Registriert: Sa 23. Aug 2008, 22:35

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ganimed » Mo 1. Mär 2010, 01:16

AgentProvocateur hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Du freust dich, dass bei Selbstbestimmtheit deine Entscheidung nicht von einer Phobie oder einer Gehirnwäsche abhängt. Und es scheint dir egal zu sein, dass sie aber immer noch von Gedächtnisinhalten, Kindheitsprägungen und Hormonspiegeln abhängt, welche allesamt nicht von dir bewusst kontrolliert werden können. Das stört dich wirklich nicht?

Nein, natürlich stört mich das nicht, das sind notwendige Bedingungen für meine Existenz. Nähme man sie weg, existierte ich nicht. Ich bin keineswegs etwas Getrenntes davon, das sind notwendige Bestandteile von mir als Person.

Ich glaube, mein Argument ist nicht ganz klar rübergekommen. "Das stört dich wirklich nicht" war nicht so gemeint, dass das Störende entfernt werden soll (was in der Tat irgendwie die Existenz in Frage stellte). Das Störende am Störenden ist doch, dass dein ganzer Entscheidungsapparat davon abhängt (also von Gedächtnisinhalten, Kindheitsprägungen und Hormonspiegeln). Du darfst das alles behalten und deine Existenz dazu, du sollst nur aufhören es störungsfrei "frei" zu nennen.

Ich versuche es umzuformulieren. Nehmen wir vier Situationen, in denen dein Wille sich abhängig von vier verschiedenen Dingen konstituiert:
1) du willst etwas aufgrund einer Phobie
2) du willst etwas aufgrund einer Gehirnwäsche
3) du willst etwas aufgrund einer frühkindlichen Prägung
4) du willst etwas aufgrund einer traumatischen Erinnerung
In deiner Definition von freiem Willen reicht es hin, (1) und (2) auszuschließen. Aber ich frage mich nun, wieso du hier eine Unterscheidung einführst? Was sind bezüglich des Freiheitscharakters die Unterschiede zwischen (1, 2) und (3, 4). Wieso wertest du die Abhängig (3) und (4) nicht auch als K.O.-Kriterium für einen freien Willen?

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber dann hat sich nun nichts geändert zu meiner Ansicht bezüglich moralischer Verantwortung, außer ein bisschen Sprachkosmetik (Du willst 'Moral' nicht mehr 'Moral' nennen und 'Schuld' nicht mehr 'Schuld'). Was aber nichts weiter ändert, außer dass die Kommunikation dadurch etwas erschwert wird.

Den Grundsatz "keine Strafe ohne Schuld" finde ich aber gut. Ich nenne die Schuld nicht um sondern definiere sie als grundsätzlich unmöglich. Deshalb meine Vorstellung, dass Strafe abgeschafft wird und wo sinnvoll durch Maßnahme ersetzt wird. Also viel weniger Gefängnis und viel mehr Schadensersatz, Sozialdienst oder Therapien. Insofern braucht es zur Angleichung unserer Differenzen doch ein wenig mehr als nur ein bisschen Sprachkosmetik.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und 'kann etwas für eine Handlung' bedeutet für mich nicht mehr als 'Zuordbarkeit einer aktiven Handlung'.

Dem Phobiker kann man seine Handlungen zuordnen. Phobie fällt aber, wenn ich richtig verstehe, bei dir unter "innerer Zwang" und somit unter "kann nichts dafür", oder?
Benutzeravatar
ganimed
 
Beiträge: 1687
Registriert: Sa 23. Aug 2008, 22:35

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 1. Mär 2010, 02:46

ganimed hat geschrieben:Nehmen wir vier Situationen, in denen dein Wille sich abhängig von vier verschiedenen Dingen konstituiert:
1) du willst etwas aufgrund einer Phobie
2) du willst etwas aufgrund einer Gehirnwäsche
3) du willst etwas aufgrund einer frühkindlichen Prägung
4) du willst etwas aufgrund einer traumatischen Erinnerung
In deiner Definition von freiem Willen reicht es hin, (1) und (2) auszuschließen. Aber ich frage mich nun, wieso du hier eine Unterscheidung einführst? Was sind bezüglich des Freiheitscharakters die Unterschiede zwischen (1, 2) und (3, 4). Wieso wertest du die Abhängig (3) und (4) nicht auch als K.O.-Kriterium für einen freien Willen?

K.O.-Kriterien gegen freien Willen wären für mich:

1. Phobie: kann etwas nicht tun, was er eigentlich tun will (gilt für bestimmte Handlungen)

2. Gehirnwäsche: ist nicht hinreichend dazu in der Lage, die Umstände zu erkennen und einzuordnen und darauf zu reagieren, also rational zu handeln (gilt genereller als 1.)

Eine frühkindliche Prägung kann unter die notwendige Existenzbedingung fallen (jeder hat unausweichlich frühkindliche Prägungen). Kann aber auch unter 1. oder 2. fallen, kommt darauf an.

Wenn ich z.B. gerne das Gericht X esse, weil ich es Kind oft bekommen habe, dann ist das keine Einschränkung meiner Willensfreiheit, sondern einfach nur eine Präferenz von mir. Diese Präferenz zwingt mich aber nicht dazu, es mal wieder zu essen. Das bleibt meine Entscheidung, vielleicht hat der Arzt es mir verboten, daher esse ich es nicht mehr, obgleich ich es gerne tun würde.

Eine traumatische Erinnerung fällt wahrscheinlich eher unter 1., ich nehme an, die kann einen daran hindern, künftig Dinge zu tun, die man eigentlich gerne täte.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Aber dann hat sich nun nichts geändert zu meiner Ansicht bezüglich moralischer Verantwortung, außer ein bisschen Sprachkosmetik (Du willst 'Moral' nicht mehr 'Moral' nennen und 'Schuld' nicht mehr 'Schuld'). Was aber nichts weiter ändert, außer dass die Kommunikation dadurch etwas erschwert wird.

Den Grundsatz "keine Strafe ohne Schuld" finde ich aber gut. Ich nenne die Schuld nicht um sondern definiere sie als grundsätzlich unmöglich. Deshalb meine Vorstellung, dass Strafe abgeschafft wird und wo sinnvoll durch Maßnahme ersetzt wird. Also viel weniger Gefängnis und viel mehr Schadensersatz, Sozialdienst oder Therapien. Insofern braucht es zur Angleichung unserer Differenzen doch ein wenig mehr als nur ein bisschen Sprachkosmetik.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und 'kann etwas für eine Handlung' bedeutet für mich nicht mehr als 'Zuordbarkeit einer aktiven Handlung'.

Dem Phobiker kann man seine Handlungen zuordnen. Phobie fällt aber, wenn ich richtig verstehe, bei dir unter "innerer Zwang" und somit unter "kann nichts dafür", oder?

Ja, natürlich. Fällt das bei Dir unter 'Zuordbarkeit einer aktiven Handlung'? Falls ja, dann habe ich das falsch interpretiert, dann haben wir in der Tat doch größere Gegensätze.

Dann nochmal zur Erinnerung: Voraussetzung für moralische Verantwortung (und somit für Schuld nach meinem Verständnis) ist absichtliches Handeln mit der Fähigkeit zur Abschätzung der Folgen, ohne dabei von äußeren oder inneren Zwängen von der Handlung abgehalten zu werden.

Ich verstehe dann wohl nicht so recht, was Du eigentlich mit 'Zuordbarkeit einer aktiven Handlung' meinst, ich dachte, Du meintest mit 'aktiv' 'absichtlich'.

Wenn B A nicht vor dem Ertrinken rettet, weil er eine unüberwindbare Wasserphobie hat, würdest Du ihm dann die unterlassene Hilfeleistung zuordnen? Was, wenn er Nichtschwimmer wäre?

Wenn jemand von Dritten unter starke Drogen gesetzt wird und willenlos wird und sich nicht gegen Sex wehrt, würdest Du ihm seine dabei begangenen Handlungen zuordnen?

Wenn ein kleines Kind mit seinem Dreirad ein Auto beschädigt, würde das unter Dein Kriterium fallen?

Und wer muss nach welchen Kriterien Schadensersatz leisten? Du weißt schon, dass heute die notwendige Voraussetzung für eine solche Verpflichtung schuldhaftes Verhalten ist, oder?

Nach welchen Kriterien darf dann jemand zu Gefängnis, Sozialdienst, Therapien oder Schadensersatz verdonnert werden, wenn es keine moralischen Handlungen und somit keine Schuld mehr gibt? Und mit welcher Legitimation eigentlich, wenn die nicht auf einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag beruht, der gegenseitige Rechte und Pflichten zuschreibt, was jedoch moralisch verantwortlich handelnde Subjekte voraussetzt und daher für Dich keine Option sein kann?

Wenn ich richtig verstehe, gibt es für Dich keine Unterscheidung mehr zwischen 'nicht können' und 'nicht wollen', beides mutiert zu 'müssen'. Es ist daher egal, warum B A nicht vor dem Ertrinken gerettet hat - er konnte nicht anders, er musste es tun, aber zuordbar ist es dennoch, egal, warum B es nicht tat, egal, ob er Nichtschwimmer war oder eine Phobie hat oder einfach keine Lust hatte, seine moralische Pflicht zu erfüllen.

Daher möchtest Du auch nicht mehr unterscheiden zwischen Handlungen, die absichtlich und solchen, die unabsichtlich erfolgten. Es macht daher keinen Unterschied in Deiner Sicht, ob Dir jemand aus Versehen auf den Fuß tritt sondern mit voller Absicht. Oder ob jemand beim Sex zustimmt (-> freiwillig) oder unter Drogen gesetzt wurde und dann willenlos Sex hat (-> gegen seinen Willen gezwungen). Richtig?
Benutzeravatar
AgentProvocateur
 
Beiträge: 731
Registriert: Di 13. Nov 2007, 01:46

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ganimed » Mo 1. Mär 2010, 11:06

AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn ich z.B. gerne das Gericht X esse, weil ich es Kind oft bekommen habe, dann ist das keine Einschränkung meiner Willensfreiheit, sondern einfach nur eine Präferenz von mir. Diese Präferenz zwingt mich aber nicht dazu, es mal wieder zu essen.

Eine Prägung kann sicherlich unterschiedliche Ausmaße annehmen (wie eine Phobie auch). Deine Behauptung, dass eine Prägung immer so schwach ist, dass sie einen zu nichts zwingt, halte ich für gewagt. Ich glaube schon, dass bei bestimmten Prägungen eben doch sehr wenig Spielraum bleibt (und der wird von anderen ursächlichen Faktoren ausgefüllt). Eine Phobie kann auch unterschiedlich stark sein. In manchen Fällen ist es sicher vorstellbar, dass der Erkrankte sich, wenn auch mit großer Überwindung, über seine Phobie hinwegsetzen kann. Ich sehe deine Unterscheidung daher als recht willkürlich an. Die Prägung klingt irgendwie netter und nicht so schlimm, sie klingt irgendwie natürlich und immer da. Und deshalb ist es plötzlich ok, davon (zumindest teilweise) abhängig zu sein? Die Phobie klingt etwas garstiger und will man ja eigentlich nicht haben und deshalb ist bei einer solchen Abhängigkeit der Wille plötzlich doch mal unfrei? Aber eine Phobie gehört doch, wenn man sie hat, auch zu der Persönlichkeit dazu. Und sie stellt ja im Grunde genommen auch eine Prägung dar. Deine Kategorisierung in "nicht so schlimm also schränkt es den freien Willen nicht ein" und "schlimm, also ist es innerer Zwang" finde ich wenig plausibel.
Und was ist mit dem Fall (5), den ich vergessen hatte:
5) du willst etwas aufgrund eines bestimmten Hormonspiegels
Wie auch immer es dazu kam, der Adrenalinspiegel im Büro steigt in gefährliche Höhen. Man fängt an zu schwitzen, Stresssymptome stellen sich ein, irgendwann platzt man und brüllt den nervenden Kollegen unkontrolliert an. Einem Choleriker passiert das sicher öfters als ruhigen Zeitgenossen. Aber es sind letztendlich unkontrollierbare Vorgänge und genetische, biochemische Neigungen, die da zeitweise den Willen stark beeinflussen. Würdest du das als Einschränkung des freien Willens betrachten? Oder das auch als "gehört nunmal zu uns", "kann man nichts machen", "ohne geht es nicht" achselzuckend abtun und stur behaupten, das schränke den Willen deshalb nicht ein?
Ob etwas den Willen einschränkt, sollte in logischen Argumenten doch davon abhängen, inwiefern es den Willen einschränkt. Deine Kriterien (gehört zur Persönlichkeit oder eher nicht, ist immer da oder nur bei manchen Menschen, ist erwünscht oder unerwünscht, kann man was gegen machen oder nicht) befassen sich gar nicht mit der Einschränkung bzw. mit der Zwangwirkung.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn B A nicht vor dem Ertrinken rettet, weil er eine unüberwindbare Wasserphobie hat, würdest Du ihm dann die unterlassene Hilfeleistung zuordnen? Was, wenn er Nichtschwimmer wäre?

Ich muss zugeben, dass ich da noch etwas unsicher bin, wie der Wille eigentlich genau zu definieren ist, was eine "Absicht" auf Hirnebene ist. Ich meine schon, dass man unbewusste Vorgänge immer mit dazu rechnen sollte. Wille ist was am Ende aller Entscheidungsprozesse des Gehirns dabei herauskommt. Insofern würde ich dem Wasserphobiker die unterlassene Hilfeleistung zuordnen. Dem Nichtschwimmer ebenfalls. Beider Gehirne haben entschieden, nicht ins Wasser zu springen. Der eine aus (unbegründeter) Angst vor Wasser, der andere aus (begründeter) Angst, selber zu ertrinken. Beide wären also, wenn man es genau nimmt, vor Gericht verantwortlich. Bei beiden würden aber keine Maßnahmen erfolgen, da bei beiden kein soziales Problem vorliegt.
Aber das Zuordnen von Unterlassungen also Nichthandlungen verwirrt mich etwas. Auch in der Welt der Inkompatibilisten, so meine Vermutung, gäbe es weiterhin schlaue Juristen, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als über komplizierte Fälle nachzudenken.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn jemand von Dritten unter starke Drogen gesetzt wird und willenlos wird und sich nicht gegen Sex wehrt, würdest Du ihm seine dabei begangenen Handlungen zuordnen?

Ja, ich denke schon. Der Willenlose hat seine Handlungen begangen. Erst bei der Frage, wieso er das tat, würden die besonderen Umstände zu betrachten sein.
Ich würde das fast mit dem Choleriker vergleichen wollen. Der wird nicht von Dritten unter Drogen gesetzt, sondern sein eigener Körper setzt ihn unter Adrenalin. So ganz "willenlos" wird man dabei sicher nicht. Aber das Drogen-Prinzip ist doch das gleiche. Ein Choleriker kollert herum also ordne ihm diese Handlung zu.
Wem würdest du in dem Beispiel mit dem Drogensex die begangenen Handlungen zuordnen?
Ich nehme an, dem Choleriker gibst du die Schuld an seinen Handlungen, weil Adrenalin eine Droge ist, die zu seinem Körper nun einmal dazu gehört und dem Jemanden aus deinem Beispiel gibst du keine Schuld an den sexuellen Handlungen, weil dessen Drogen von außen induziert wurden? So nach dem Motto: natürliche Drogen sind ok, unnatürliche sind es nicht?

AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn ich richtig verstehe, gibt es für Dich keine Unterscheidung mehr zwischen 'nicht können' und 'nicht wollen', beides mutiert zu 'müssen'. Es ist daher egal, warum B A nicht vor dem Ertrinken gerettet hat - er konnte nicht anders, er musste es tun, aber zuordbar ist es dennoch, egal, warum B es nicht tat, egal, ob er Nichtschwimmer war oder eine Phobie hat oder einfach keine Lust hatte, seine moralische Pflicht zu erfüllen.

Richtig. Zumindest mache ich da keine moralische Unterscheidung. Alle sind nicht schuldig (weil es keine Schuld gibt). Aber alle haben unterschiedliche Gründe und bei der Überlegung, wer ein Problem darstellt, wem man auf welche Weise helfen sollte, gibt es natürlich jede Menge Unterschiede.
Führt nicht weiter aber beim Thema Unterlassungen fällt mir da meine Jugendzeit ein, wo meine Mutter hin und wieder mahnend fragte: "wer hat die Tür aufgelassen?". Ein Frage an mich und meine Geschwister. Die flappsige Antwort von damals gilt heute noch immer, nur ist sie heute vielleicht etwas ernsthafter gemeint: "Jeder". Denn wenn auch nur ein Mensch die Tür nicht aufgelassen hätte, dann wäre sie doch zu, oder? Die Zuordnung einer Unterlassung bringt also im ersten Moment nicht so viel.

AgentProvocateur hat geschrieben:Daher möchtest Du auch nicht mehr unterscheiden zwischen Handlungen, die absichtlich und solchen, die unabsichtlich erfolgten. Es macht daher keinen Unterschied in Deiner Sicht, ob Dir jemand aus Versehen auf den Fuß tritt sondern mit voller Absicht. Oder ob jemand beim Sex zustimmt (-> freiwillig) oder unter Drogen gesetzt wurde und dann willenlos Sex hat (-> gegen seinen Willen gezwungen). Richtig?

Fast richtig. Ich möchte hier nicht unterscheiden wenn es um die Frage geht: wie frei waren die Entscheidung und liegt ein freier, von kausalen Faktoren unabhängiger Wille vor. Eine Unterscheidung ist deshalb unnötig, weil in allen Fällen kein freier Wille vorliegt und keine unabhängigen Entscheidungen getroffen wurden.
Abgesehen von der Frage nach der Freiheit des Willens bleiben natürlich viele weitere Fragen: warum wurde so entschieden? Sind die Ursachen die Persönlichkeit, sind es Prägungen, sind es äußere Sachzwänge, sind es Drogen, war es Absicht oder ein Versehen? Bei der Warum-Frage mache ich also genau jene Unterschiede, die du auch machst. Nur mache ich sie bei der Warum-Frage, während du diese Unterschiede bei der Schuldfrage machst und somit implizit bei der Frage, ob Entscheidungen frei oder unfrei waren.
Benutzeravatar
ganimed
 
Beiträge: 1687
Registriert: Sa 23. Aug 2008, 22:35

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon platon » Mo 1. Mär 2010, 11:21

ganimed hat geschrieben:Du bist wirklich der Meinung, dass in einer kausalen Welt ich einfach so, aus dem Blauen heraus und ohne jeglichen Grund mich umbesinnen könnte?

Aber selbstverständlich. Ich will es, also tue ich es. Der Grund dafür geht mir doch glatt am Arm vorbei. Also mache ich, was ich will. Und bin dafür auch vollumfänglich verantwortlich. Die Frage, warum ich etwas will führt lediglich in den unendlichen Regress (denn jede Antwort kann ich mit der gleichen Frage wieder hinterfragen) und gibt mir keinerlei Erkenntnis zurück. Fragen ohne Erkenntnisgewinn sind sinnfrei.
Benutzeravatar
platon
 
Beiträge: 1634
Registriert: Fr 10. Apr 2009, 21:49

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon Dissidenkt » Mo 1. Mär 2010, 12:46

platon hat geschrieben:Aber selbstverständlich. Ich will es, also tue ich es.


Andersherum ist es richtig. Du tust es, also willst du es gewollt haben!
Genau genommen entscheidet dein Gehirn was du tust und anschliessend liefert es dir mehr oder weniger plausible Begründungen.

platon hat geschrieben:Der Grund dafür geht mir doch glatt am Arm vorbei.


Auch das ist nicht richtig. Wir konsturieren immer Gründe für unser Handeln. Genau genommen ist es unser Gehirn, dass uns Gründe konstruiert, damit wir in unserer Existenz konsistent bleiben. Im Extremfall warens dann halt Ausserirdische, "Stimmen" oder Dämonen, die Menschen angeblich gezwungen haben Dinge zu tun, für die sie selbst nicht verantwortlich sein möchten. Genau genommen haben sie vielleicht einfach keine Erklärung für die Dinge, die sich in ihrem Gehirn abgespielt und die Tat veranlasst haben.

platon hat geschrieben:Also mache ich, was ich will. Und bin dafür auch vollumfänglich verantwortlich. Die Frage, warum ich etwas will führt lediglich in den unendlichen Regress (denn jede Antwort kann ich mit der gleichen Frage wieder hinterfragen) und gibt mir keinerlei Erkenntnis zurück. Fragen ohne Erkenntnisgewinn sind sinnfrei.


Nein. Die Frage, warum wir etwas wollen, lässt sich in der Regel völlig plausibel durch Vorgänge in unserem Gehirn beantworten. Die Frage nach der Verantwortung steht auf einem anderen Blatt und ist nicht einfach zu beantworten. Da muss man erstmal unterscheiden, was für eine Verantwortung man meint. Juristisch, moralisch, logisch-kausal?
Dann muss man schauen, ob es Gründe gibt, die eine Verantwortung ausschliessen, zB Drogeneinfluss, Erkrankung, Zwang, Fremdsteuerung, Hypnose, etc...
Am Ende bleibt von der Verantwortung nicht viel übrig. Welche Konsequenzen das für die Gesellschaft hat, kann und muss man diskutieren.
Benutzeravatar
Dissidenkt
 
Beiträge: 400
Registriert: Di 29. Dez 2009, 14:30

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon spacetime » Mo 1. Mär 2010, 17:38

Dissidenkt hat geschrieben:Genau genommen entscheidet dein Gehirn was du tust und anschliessend liefert es dir mehr oder weniger plausible Begründungen.

Du machst hier wieder den sprachlichen Fehler, den ich in den vorigen Posts schon erläutert habe. Es könnte wirklich alles so einfach sein, wenn man sich nicht ständig von diesem illusorischen 'Ich' ausgehen würde. Das führt uns ungewollt zu einem dualistischen (und religiösen) Denken.
"entscheidet dein Gehirn, was du tust" - DU bist DEIN Gehirn! Die deutsche Sprache ist leider für Dualisten und Schizophrene entworfen worden...
Benutzeravatar
spacetime
 
Beiträge: 288
Registriert: Di 29. Mai 2007, 20:11
Wohnort: Frankfurt

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 1. Mär 2010, 18:15

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn ich z.B. gerne das Gericht X esse, weil ich es Kind oft bekommen habe, dann ist das keine Einschränkung meiner Willensfreiheit, sondern einfach nur eine Präferenz von mir. Diese Präferenz zwingt mich aber nicht dazu, es mal wieder zu essen.

Eine Prägung kann sicherlich unterschiedliche Ausmaße annehmen (wie eine Phobie auch). Deine Behauptung, dass eine Prägung immer so schwach ist, dass sie einen zu nichts zwingt, halte ich für gewagt.

Aber diese Behauptung habe ich nicht getätigt. Ich habe sogar explizit etwas anderes gesagt.

ganimed hat geschrieben:Ich glaube schon, dass bei bestimmten Prägungen eben doch sehr wenig Spielraum bleibt (und der wird von anderen ursächlichen Faktoren ausgefüllt). Eine Phobie kann auch unterschiedlich stark sein. In manchen Fällen ist es sicher vorstellbar, dass der Erkrankte sich, wenn auch mit großer Überwindung, über seine Phobie hinwegsetzen kann. Ich sehe deine Unterscheidung daher als recht willkürlich an.

Fassen wir mal zusammen: es gibt notwendige Bedingungen für meine Existenz, die sind biologischer und sozialer Art. Damit ich überhaupt existieren kann, benötige ich u.a. Gehirnvorgänge, Kindheitserfahrungen, Präferenzen.

Der Unterschied zwischen Präferenz und Phobie mag ein gradueller sein, d.h. es gibt keine exakte Grenze, ab wann man etwas eine Phobie oder eine Zwangsstörung nennt, aber das ist noch lange kein Grund, dazwischen nicht mehr unterscheiden zu wollen.

Eine Phobie würde ich nicht zur Persönlichkeit hinzurechnen wollen, denn die wäre ein Phobiker sicher lieber heute als möglich los, er würde sich befreit fühlen, wenn das ginge. Die Phobie schränkt den Phobiker insofern ein, als dass er in bestimmten Fällen nicht das tun kann, was er eigentlich will.

Eine Vorliebe für Vanilleeis z.B. hingegen ist nicht eine solche Einschränkung.

ganimed hat geschrieben:Ob etwas den Willen einschränkt, sollte in logischen Argumenten doch davon abhängen, inwiefern es den Willen einschränkt. Deine Kriterien (gehört zur Persönlichkeit oder eher nicht, ist immer da oder nur bei manchen Menschen, ist erwünscht oder unerwünscht, kann man was gegen machen oder nicht) befassen sich gar nicht mit der Einschränkung bzw. mit der Zwangwirkung.

Nochmal, meine Kriterien sind:

- ist hinreichend fähig dazu, Situationen einzuschätzen
- ist hinreichend fähig dazu, die Folgen von Entscheidungen abzuschätzen
- wird nicht durch innere oder äußere Zwange davon abgehalten, seine Entscheidung in die Tat umzusetzen

Klar befasst sich das mit der Zwangwirkung und Einschränkungen.

ganimed hat geschrieben:Wem würdest du in dem Beispiel mit dem Drogensex die begangenen Handlungen zuordnen?
Ich nehme an, dem Choleriker gibst du die Schuld an seinen Handlungen, weil Adrenalin eine Droge ist, die zu seinem Körper nun einmal dazu gehört und dem Jemanden aus deinem Beispiel gibst du keine Schuld an den sexuellen Handlungen, weil dessen Drogen von außen induziert wurden? So nach dem Motto: natürliche Drogen sind ok, unnatürliche sind es nicht?

Nein, es kommt darauf an, ob jemand Kontrolle hatte oder nicht. Demjenigen, dem K.O.-Tropfen gegeben wurde, hatte keine, daher kann ihm für sein Verhalten (nicht 'Handlung') unter der Droge keine Verantwortung zugeschrieben werden. Wenn der Choleriker zum Zeitpunkt seines Ausrastens keine Kontrolle hatte, dann kann er nichts dafür. Wenn ihm das zum ersten Mal passiert ist, dann kann man ihm auch nichts vorwerfen. Wenn er aber weiß, dass er öfter mal unkontrollierbar ausrastet, dann kann man von ihm verlangen, dagegen etwas zu tun. Er hat also zumindest eine Vorab-Kontrolle, selbst wenn ihm seine cholerischen Anfälle einfach so zustoßen, ohne Kontrollmöglichkeit in dem Moment. Dem die K.O.-Tropfen verabreicht wurden hatte jedoch nirgends Kontrolle, ihm ist einfach alles nur zugestoßen, ohne jegliche Einflussmöglichkeit seinerseits.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn ich richtig verstehe, gibt es für Dich keine Unterscheidung mehr zwischen 'nicht können' und 'nicht wollen', beides mutiert zu 'müssen'.

Richtig. Zumindest mache ich da keine moralische Unterscheidung. Alle sind nicht schuldig (weil es keine Schuld gibt). Aber alle haben unterschiedliche Gründe und bei der Überlegung, wer ein Problem darstellt, wem man auf welche Weise helfen sollte, gibt es natürlich jede Menge Unterschiede.

"Ich helfe Dir jetzt mal, egal, ob Du willst oder nicht"? Wie würdest Du denn z.B. einem Steuerhinterzieher 'helfen' wollen? Welcher Art ist das 'Problem' des Steuerhinterziehers?

Mal abgesehen davon habe ich ein kleines logisches Problem damit: Du gehst davon aus, dass es eine Instanz gibt, die rational feststellen kann, wer ein 'Problem' hat und daraufhin entscheiden kann, wie man 'helfen' kann. Eine solche Instanz muss aber zweifellos ein Subjekt sein, das Kontrolle hat. Wieso gehst Du aber dann nicht auch konsequenterweise davon aus, dass diese Fähigkeit andere Subjekte auch haben? Und wenn sie die haben, sie damit rechtsfähig sind, also Träger von Rechten und Pflichten sein können? Rechtsfähigkeit bedeutet aber auch moralische Verantwortlichkeit für die eigenen Handlungen.

Die Aussage: "Du kannst nichts für Deine Entscheidungen und Handlungen, Du bist also nicht moralisch dafür verantwortlich, aber Du stellst ein Problem dar, das wir beseitigen müssen und auch dürfen" bedeutet absolute Entmündigung. Und dafür kann es keine Legitimation geben, wenn niemand Kontrolle über seine Entscheidungen und Handlungen hat, wenn also niemand mündig, niemand rechtsfähig ist.

Es ist keineswegs eine Legitimation, einfach zu behaupten, man würde ja nur 'helfen' wollen, man wolle ja nur das Beste für den anderen und dürfe ihn zu seinem Glück zwingen (und zusätzlich schreibt man sich selber damit die Kontrollfähigkeit zu, die man dem anderen abspricht).

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Daher möchtest Du auch nicht mehr unterscheiden zwischen Handlungen, die absichtlich und solchen, die unabsichtlich erfolgten.

Fast richtig. Ich möchte hier nicht unterscheiden wenn es um die Frage geht: wie frei waren die Entscheidung und liegt ein freier, von kausalen Faktoren unabhängiger Wille vor. Eine Unterscheidung ist deshalb unnötig, weil in allen Fällen kein freier Wille vorliegt und keine unabhängigen Entscheidungen getroffen wurden.

Aber hier an der Stelle geht es nun mal nicht um die Frage, ob ein von kausalen Faktoren freier Wille vorliegt, sondern es geht um die Frage, für welche Handlungen Verantwortung zugeschrieben werden kann / soll und für welche nicht.

ganimed hat geschrieben:Abgesehen von der Frage nach der Freiheit des Willens bleiben natürlich viele weitere Fragen: warum wurde so entschieden? Sind die Ursachen die Persönlichkeit, sind es Prägungen, sind es äußere Sachzwänge, sind es Drogen, war es Absicht oder ein Versehen? Bei der Warum-Frage mache ich also genau jene Unterschiede, die du auch machst. Nur mache ich sie bei der Warum-Frage, während du diese Unterschiede bei der Schuldfrage machst und somit implizit bei der Frage, ob Entscheidungen frei oder unfrei waren.

Für die Zuweisung von Verantwortung spielt aber ein von kausalen Faktoren freier Wille meiner Ansicht nach überhaupt keine Rolle, ich wüsste nicht, wieso und inwiefern er das sollte. Zur Verantwortungs- (und somit Schuldfeststellung) muss man genau die warum-Fragen stellen, die Du genannt hast. Man muss feststellen, ob die Handlung (oder Unterlassung) absichtlich, willentlich und ohne äußere und innere Zwänge geschah. Das sind die Kriterien für eine Zuschreibung von moralischer Verantwortung und Schuld.

So wie eben Schadensersatz schuldhaftes Verhalten voraussetzt. Es erscheint mir unfair, jemanden zu Schadensersatz verpflichten zu wollen für etwas, für das er nichts konnte, das nicht seiner Kontrolle unterlag, für ein bloßes Geschehen. Wie gehst Du damit um? Gibt es dann keinen Schadensersatz mehr, weil es keine Schuld mehr gibt? Oder wird jemand willkürlich zu Schadensersatz verpflichtet, obwohl er nichts dafür konnte (da in Deiner Ansicht niemand etwas für seine Handlungen kann)? Oder was genau sind dann die Kriterien dafür, wenn die nicht willkürlich sein sollen?
Benutzeravatar
AgentProvocateur
 
Beiträge: 731
Registriert: Di 13. Nov 2007, 01:46

Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon ujmp » Mo 1. Mär 2010, 22:51

Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

VorherigeNächste

Zurück zu Philosophie

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste