Gruppensozialisation und Kontrasteffekte

Re: Gruppensozialisation und Kontrasteffekte

Beitragvon Spriggan » Fr 25. Sep 2009, 10:17

Julia hat geschrieben:Du meinst nicht, dass sich Mädchen und Jungen irgendwann ineinander verlieben bevor sie mit der Schule fertig sind?

Nein, ich kenne nicht die Zahlen, aber ich denke an gleichgeschlechtlichen Schulen "entdeckt" man sich vorerst mehr gewichtig am eigenen Geschlecht, was ja auch nicht schlimm ist. Übrigens ist auch Asexualität durchaus vorhanden, wenn es darum geht. Ich bin ja immer noch davon überzeugt, dass es der Mensch ist in den man sich verliebt - nicht in die Hülle.

Danke aber für die Studie, leider erst eine Studie - um auf eine interessante Sichtweise noch einzugehen von einer Diplomarbeit hier noch ein Link:
Theorien der Entstehung von Geschlechterunterschieden. Das passt auch zu David Reimer.
Darauf möchte ich eigentlich immer hinaus - wir bemerken gar nicht als Eltern, Lehrer, Erwachsene wie unterschiedlich wir bereits früh Kinder beeinflussen. Und deshalb kann es meines Erachtens nie eine vollkommen korrekte Studie mit vollkommen unbeeinflussten Menschen geben. Menschen die ihre Mädchen und Jungen auf gleichgeschlechtliche Schulen schicken haben sich von vornherein entschieden, dass ihre Kinder besonders sich anstrengen sollen. Sie kommen vermutlich aus einer hohen Bildungsschicht und wollen dass aus ihren Kindern auch selbstbewusste Menschen werden - kein Mensch ist gleich - die Tendenzen der Studie will ich nicht verneinen - aber die Frage stellt sich mir - wären die Kinder auf einer gemischten Schule gewesen mit den selben Lehrern, den selben Eltern - nur anderen Schulkameraden - hätte es sich so anders ausgewirkt? Deshalb kann es niemals "echte" Beweise geben.

Mir stellt sich eben immer diese Frage, da vermutlich 80% der Frauen und Männer zu diesen Studien passen. Dass tatsächlich sich so viele so verhalten - aber 20% eben nicht (die Zahlen nehme ich immer gerne anhand von Pareto - passt irgendwie immer) und deshalb sehe ich Studien immer mit sehr großer Skepsis entgegen. Sicher normal ist der Mittelmaß - der Gros der Bevölkerung - aber wir Menschen sind keine Tiere - jeder ist ein Individuum mit Verstand und Vernunft. Die Einteilung in Schwarz, Weiß, Gelb, blond, brünett, alt, jung, Frau und Mann hat meines Erachtens noch nie viel gebracht - außer Ungleichheit aufgezeigt und Konflikte durch "besser" - "schlechter" oder auch "vollkommener"- "niederwertig" ausgelöst.

Ich gebe ja dir Recht, dass Frauen danach besser vermutlich sind - oder besser im Beruf sind - alles tendenziell möglich - aber niemand kann wissen ob es tatsächlich subjektiv "besser" war oder "schlechter". Deshalb sollte eben jeder sich für den Weg entscheiden, den er tendenziell subjektiv für richtig hält. Studien zeigen bloß Tendenzen der normalen Menschheit, die bereits durch die Umwelt stark beeinflusst wurden.
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Re: Gruppensozialisation und Kontrasteffekte

Beitragvon Julia » Fr 25. Sep 2009, 18:40

Spriggan hat geschrieben:Ich bin ja immer noch davon überzeugt, dass es der Mensch ist in den man sich verliebt - nicht in die Hülle.

Naja, ich kenne durchaus Fälle von ursprünglich heterosexuellen Menschen, die sich unerwartet in einen Menschen des gleichen Geschlechts verliebt haben, ich kann mir auch gut vorstellen, dass jeder Mensch zu einem gewissen Anteil bisexuell ist, trotzdem kann ich dir nicht zustimmen.

Zu deiner Diplomarbeit:
Heute wird das soziale Geschlecht als eine gesellschaftliche Konstruktion gesehen.
Sehr gut veranschaulichen kann man die Unabhängigkeit zwischen Sex und Gender an einem Beispiel eines eineiigen Zwillingsbruderpaares, das im Alter von sieben Jahren beschnitten worden ist. Einer der Brüder verlor dabei aufgrund eines chirurgischen Unfalls den Penis, was die Eltern bewog, den Jungen als Mädchen aufzuziehen. Das Kind entfaltete sich tatsächlich als ausgesprochen weiblich

Ich weiß nicht welcher Fall das sein soll (bei David Reimer waren es 7 Monate und nicht Jahre), aber der Fall von David Reimer ist ganz anders ausgegangen.
Von Money bohrend nach Geschlechtsunterschieden zwischen sich und seinem Bruder befragt, hatte „Brenda“ hilflos erwidert: „Aber wir sind doch Zwillinge.“ Als er den Verdacht entwickelte, sein verunstaltetes Genital sei das Ergebnis eines Schlags zwischen die Beine, den seine Mutter ihm beigebracht habe, erblickten die behandelnden Psychiater darin eine Bestätigung der Ödipus-Theorie Freuds. Mit beginnender Pubertät diagnostizierte Money bei „Brenda“ eine „lesbische Veranlagung“, weil der Junge sich von Mädchen angezogen fühlte.

http://www.faz.net/s/RubBF7CD2794CEC4B8 ... ntent.html
Wie ideologisch verblendet kann man eigentlich sein? :kopfwand:

Spriggan hat geschrieben: Menschen die ihre Mädchen und Jungen auf gleichgeschlechtliche Schulen schicken haben sich von vornherein entschieden, dass ihre Kinder besonders sich anstrengen sollen. Sie kommen vermutlich aus einer hohen Bildungsschicht und wollen dass aus ihren Kindern auch selbstbewusste Menschen werden - kein Mensch ist gleich - die Tendenzen der Studie will ich nicht verneinen - aber die Frage stellt sich mir - wären die Kinder auf einer gemischten Schule gewesen mit den selben Lehrern, den selben Eltern - nur anderen Schulkameraden - hätte es sich so anders ausgewirkt?

Man hat ja auch an Schulen, die vorher gemischt waren Versuche mit getrennten Klassen gemacht und es hat sich positiv ausgewirkt.

Spriggan hat geschrieben: Die Einteilung in Schwarz, Weiß, Gelb, blond, brünett, alt, jung, Frau und Mann hat meines Erachtens noch nie viel gebracht - außer Ungleichheit aufgezeigt und Konflikte durch "besser" - "schlechter" oder auch "vollkommener"- "niederwertig" ausgelöst.

Das hinwegdiskutieren von Unterschieden hat auch noch nichts gebracht. Ich denke wir sind uns alle einig, dass man Menschen individuell bewerten sollte und nicht aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit, um Diskriminierung zu verhindern muss man nicht davon ausgehen, dass alle gleich sind, diese Haltung kann sogar schädlich sein.

Spriggan hat geschrieben:Ich gebe ja dir Recht, dass Frauen danach besser vermutlich sind - oder besser im Beruf sind - alles tendenziell möglich - aber niemand kann wissen ob es tatsächlich subjektiv "besser" war oder "schlechter".

Aber objektiv besser. ;)
Ich bin Feministin, ich finde es gut, wenn Frauen sich selbst verwirklichen indem sie die Berufe wählen, die zu ihnen passen und nicht die, welche zu den Rollenklischees passen, die sie anscheinend in gemischten Schulen eher entwickeln, ich finde es gut, wenn Frauen genauso gut verdienen wie Männer und somit unabhängiger werden.

Spriggan hat geschrieben:Deshalb sollte eben jeder sich für den Weg entscheiden, den er tendenziell subjektiv für richtig hält. Studien zeigen bloß Tendenzen der normalen Menschheit, die bereits durch die Umwelt stark beeinflusst wurden.

Es geht aber auch um politische Entscheidungen.
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Re: Gruppensozialisation und Kontrasteffekte

Beitragvon stine » Sa 26. Sep 2009, 14:20

Julia hat geschrieben:Ich bin Feministin, ich finde es gut, wenn Frauen sich selbst verwirklichen indem sie die Berufe wählen, die zu ihnen passen und nicht die, welche zu den Rollenklischees passen, die sie anscheinend in gemischten Schulen eher entwickeln, ich finde es gut, wenn Frauen genauso gut verdienen wie Männer und somit unabhängiger werden.

Die Gleichstellung der Frau bedeutet nicht, dass sie sich gleich fühlen muss. Genau dies wird heute aber oft so gesehen. Frauen denken häufig, sie müssten, um dem Mann gleich gestellt zu sein, die ganze Palette männlichen Denkens und Schaffens mit auf die Reihe bekommen. Und kämpferische Emanzen sorgen zusätzlich dafür, dass sich jede Frau schlecht fühlt, wenn sie einfach nur Frau und Mutter sein möchte, unabhängig des gegangenen Schulwegs. Da finde ich, schafft man kein Dilemma aus der Welt, sondern baut sich ein neues auf.
Im Gegensatz dazu schafft der derzeit hochgejubelte androgene Männertyp der Modekultur und Boygroups auch kein generell gültiges Männerbild der Zukunft.
Warum, so frage ich ernsthaft, dürfen sich Männer und Frauen im Fühlen nicht mehr unterscheiden? Warum muss sich der Unterschied mehr und mehr abflachen? Sind gleiche Rechte einhergehend mit gleichem Aussehen? Gleichem Denken? Gleichem Fühlen?

Die traurige Geschichte des Reimerzwillings beweist doch, wie unglücklich man in der falschen Rolle werden kann.

Ich bin gerne Frau und benehme mich auch oft typisch, habe dabei aber kein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass ich auch in hohen Absätzen "meinen Mann stehen" kann, wenn es sein muss.

LG stine
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Re: Gruppensozialisation und Kontrasteffekte

Beitragvon Julia » Sa 26. Sep 2009, 15:42

stine hat geschrieben:Ich bin gerne Frau und benehme mich auch oft typisch, habe dabei aber kein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass ich auch in hohen Absätzen "meinen Mann stehen" kann, wenn es sein muss.

Hm, hohe Absätze sehe ich in erster Linie als Behinderung, außerdem bin ich eh schon groß genug. :pfeif:
Aber ich stimme dir insofern zu, als dass ich denke, dass der Gleichheitsfeminismus Schwachfug ist, mit Eva Hermann und Konsorten habe ich allerdings genauso meine Schwierigkeiten. Ich denke das wichtigste ist, dass man nicht vergisst, dass es nicht den Mann oder die Frau gibt, sondern dass wenn wir von Unterschieden sprechen, wir von Mittelwerten reden.
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Re: Gruppensozialisation und Kontrasteffekte

Beitragvon Pia Hut » Sa 26. Sep 2009, 17:36

Ich ärgere mich gerade das ich das Harris-Buch inzwischen schon verliehen habe, bei den Kontrasteffekten hatte ich mir nämlich auch viel angestrichen, was ich spannend fand, vielleicht fällt es mir ja wieder ein.
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Re: Gruppensozialisation und Kontrasteffekte

Beitragvon Pia Hut » Mi 11. Nov 2009, 18:57

Bin wegen hohem Arbeitsaufkommen gar nicht mehr zum Harrisbuch gekommen. Was ich darin insgesamt stark fand und es daher mit Julia weiterempfehlen würde, war dass sie außerhalb der wissenschaftlichen Karrierelaufbahn steht und dadurch einen unbefangeneren Blick auf manche Ergebnisse zu haben scheint, was sie auch gut selbst reflektiert. Sie torpediert insgesamt die extreme Bedeutung, die Eltern bei der Entwicklung der kleinen Menschen beigemessen werden (insofern vermutlich auch eine Erleichterung für viele Eltern, die sich ständig an den Pranger gestellt sehen). Spannend finde ich insgesamt, dass sie den extremen Einfluss von „Gruppenprozessen bei der Menschwerdung“ – um es mal etwas lapidar auszudrücken – beleuchte. Das Thema scheint mir früher insgesamt von sehr viel größerem wissenschaftlichen Interesse gewesen zu sein und inzwischen irgendwie aus der Mode gekommen (oder bin ich da nicht so auf dem Laufenden?). Bin inzwischen auch auf einen soziologischen Klassiker gestoßen worden, der da schon ähnliche Ergebnisse drauf hatte und den ich kurz vorstellen wollte, da man den auch schnell Online finden kann.

Hier ein paar kurze Textauszüge, die ich ganz prägnant fand: (Schreibstil ist vermutlich etwas gewöhnungsbedürftig) aus „Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität von Georg Simmel“:
„Jener Grundgedanke läßt sich verallgemeinernd so wenden, daß in jedem Menschen gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Sozialen besteht, die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. Und entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns betätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität; aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart, dieses letztere ist als soziale Gruppe weniger individuell. Es ist also nicht nur die relative Kleinheit und Enge der Gemeinschaft, sondern auch, oder vor allem, ihre individualistische Färbung, der das Nivellement ihrer Individuen korrespondiert….
So bemerken wir z. B. in gewissen Kreisen, ja vielleicht bei Völkern, wo das Extravagante, überspannte, launenhaft Impulsive sehr vorherrscht, doch eine sklavische Fesselung an die Mode. Die Verrücktheit, die einer begeht, wird automatenhaft von allen andern nachgeäfft.
Die Geschmücktheit und Akzentuierung, die sie der Persönlichkeit verleiht, kommt dieser doch nur als Mitglied einer Klasse zu, die sich gemeinsam durch die Adoptierung der neuen Mode von den andern Klassen abhebt (sobald die Mode zu diesen andern herabgestiegen ist, wird sie von jenen verlassen und es kommt eine neue für sie auf); die Verbreitung der Mode bedeutet das Nivellement der Klasse nach innen zu und ihr Sich-Herausheben gegenüber allen andern. ……
Innerhalb eines engen Kreises kann man in der Regel die Individualität nur auf zweierlei Weisen bewahren entweder indem man ihn führt (weshalb starke Individuen manchmal gern »auf dem Dorf der erste« sind) oder: indem man nur äußerlich in ihm existiert, im Wesentlichen aber sich von ihm unabhängig hält. Dieses aber ist nur entweder durch große Charakterfestigkeit oder durch Schrullenhaftigkeit möglich, wie sie gerade besonders häufig in kleinen Städten auffällt.
Zwar der Individualität im Sinne des Sonderlingtums und der Innormalität jeder Art wird durch ein familienloses Leben in einem weiten Kreise weiter Spielraum gelassen; aber für die Differenzierung, die dann auch dem größten Ganzen zugute kommt, die aus der Kraft, aber nicht aus der Widerstandslosigkeit gegenüber einseitigen Trieben hervorgeht - für diese ist die Zugehörigkeit zu einem engeren Kreise innerhalb des weitesten oft von Nutzen, vielfach freilich nur als Vorbereitung und Übergang.
Die Familie, deren Bedeutung zuerst eine politisch-reale, mit wachsender Kultur mehr und mehr psychologisch-ideale ist, bietet als Kollektivindividuum ihrem Mitgliede einerseits eine vorläufige Differenzierung, die es auf diejenige im Sinne der absoluten Individualität wenigstens vorbereitet, andrerseits einen Schutz, unter dem die letztere sich entwickeln kann, bis sie der weitesten Allgemeinheit gegenüber bestandsfähig ist.
Die Zugehörigkeit zu einer Familie stellt in höheren Kulturen, wo doch zugleich die Rechte der Individualität und der weitesten Kreise sich geltend machen, eine Mischung der charakteristischen Bedeutung der engen und der erweiterten sozialen Gruppe dar. - Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobachtung gemacht worden, daß die Neigung zur Familienbildung in umgekehrtem Verhältnis zur Bildung größerer Gruppen steht; das monogame und selbst polygame Verhältnis hat etwas so Exklusives, die Sorge für die Nachkommenschaft beansprucht die Eltern in so hohem Maße, daß die weitergehende Sozialisierung bei derartigen Tieren darunter leidet.
Darum sind die organisierten Gruppen unter den Vögeln verhältnismäßig selten, während z. B. die wilden Hunde, bei denen völlige Promiskuität der Geschlechter und gegenseitige Fremdheit nach dem Akt herrscht, meistens in eng zusammenhaltenden Meuten leben; bei den Säugetieren, bei denen sowohl familienhafte wie soziale Triebe herrschen, bemerken wir stets, daß in Zeiten des Vorherrschens jener, also während der Paarungs- und Erzeugungszeit, die letzteren bedeutend abnehmen.“
Beim Thema „Adel“ findet man bei ihm auch Parallelen zu den Kontrasteffekten…
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