fritz-ferdinand hat geschrieben:Nun, nach meinem Verständnis ist ein Naturalisti jemand, das partout nicht etwas für existent halten will, für das er außer den Worten/Schriften anderer Leute keinerlei Hinweise auf Existenz hat, und auch prinzipiell unfähig ist, sich solche zu verschaffen. Insbesondere nicht mit seinen eigenen Sinnen oder seinen eigenen Überlegungn oder seinen eigenen Empfindungen. Der einzige Wert, den ich daraus ableiten kann, ist der Eigensinn im weitesten Sinne. Und die ständige Reflektion darüber, was ich denn da gerade mache.
Nein, Naturlisten glauben auch nur, was in Büchern steht. Der Knackpunkt ist, worauf ein "Glaube" beruht. Ich glaube, dass der Boden unter meinen Füßen mich trägt, weil ich das jeden Tag verifizieren kann. Ich glaube nicht, dass Jesus übers Wasser gegangen ist oder dass es ein Jenseits gibt. Ich glaube an die Wissenschaft als Methode. Sie ist zwar fehlbar, aber nicht annähernd so fehlbar, wie religiöse Glaubenssätze (z.B. "Gebet hilft") .
fritz-ferdinand hat geschrieben:Wenn weiterhin ich das richtig sehe, ist Moral etwas, das Menschen eigentümlich ist, und ohne Menschen gibt es keine Moral. Insbesondere ist damit Moral weder zeitlos noch universell.
Um das mal kurz zu verdeutlichen, stelle man sich vor, dass Menschen sich so reichlich fortpflanzen würden, wie etwa bestimmte Muschelarten, die gleich Millionen von Nachkommen freisetzen, wovon "praktisch alle" nicht überleben. Wäre es bei den Menschen ähnlich, würde z.B. das einzelne Leben "praktisch keinen" Wert besitzen. Das kann man jetzt ethisch ausspinnen..
Es gibt Moral, jeder Mensch hat eine. Es gibt auch die Möglichkeit, sich moralisch einig zu sein. Z.B. verurteilen alle Gesellschaften Diebstahl und Mord. Dass Moral fehlbar ist macht sie ebensowenig wertlos, wie die Wissenschaft.
fritz-ferdinand hat geschrieben:Eine naturalistische Moral herauszuarbeiten, ist tatsächlich eher der Versuch, methodisch dasselbe zu machen wie Religionen, nämlich "ewige und unveränderliche"(d.h. "heilige") Werte festzuklopfen. Andrerseits ist der Versuch, jedwede Vorstellung von gut und böse auf den Misthaufen zu werfen methodisch dasselbe, was eine Antireligion macht.
Das ist religiöse Denke auf den Naturalismus projiziert. Die Behauptung der Religion, sie hätte Moral in die Welt gebracht ist genau so eine Lüge, wie die, dass das schlechte Wetter kommt, weil Kinder nicht aufgegessen haben. Die Moral hat die Religion geschaffen und schafft sie auch wieder ab.
fritz-ferdinand hat geschrieben:Ich habe mir - als naturteilhaftiges Lebewesen - für die Findung meiner Lebensprinzipien eine andere Methode ausgedacht, nämlich darauf zu verzichten, a priori festzulegen, was "sein soll", sondern mich zu beobachten und zu bestimmen, nach welchen Prinzipien ich tatsächlich handle (also wie Naturgesetze, aus vielen einzelnen Beobachtungen zu extrahieren). Ich sehe z.B. dass ich bislang keine körperliche Gewalt anwende, also ist ein Prinzip "keine körperliche Gewalt". Ich sehe, dass ich gewohnheitsmäßig höflich bin, aber im Extremfall auch anders kann, also ist ein Prinzip "Normalerweise höflich sein bis auf beanlaßte Ausnahmen". Ich sehe, dass ich außerordentlich gerne Sachen vor mir herschiebe, also ist ein Prinzip "die lange Bank". Das hat, nebenbei, auch den großen Vorteil, dass ich nicht über moralische Prinzipien nachdenken muss, denen ich im Alltag überhaupt nicht begegne.
Wenn ich derart Prinzipien gefunden habe, dann bewerte ich sie moralisch mit meinem Gefühl. "Keine körperliche Gewalt", "Höflichkeit" empfinde ich als gut, "die lange Bank" empfinde ich als schlecht. Genauer gesagt, geht es mir mit diesem oder jenem Prinzip gut, oder habe ich Bauchweh damit.
Dann überlege ich besondere Fälle, wie "körperliche Gewalt, um mich selber gegen Schläge zu wehren", "Höflichkeit gegenüber unverschämten Rotzlöffeln", "lange Bank, um mal abzuschalten" usw. und versuche, die Prinzipien gegen Einwände widerstandsfähig zu machen, damit sie mir Leitlinien sein können, über die ich in entsprechenden Situationen nicht lange nachdenken muss.
So entsteht meine Moral, die jedoch selbstverständlich nur für mich gilt und immer wandelbar ist. Sie ist auch abhängig von meiner Sozialisation, meinen konkreten Erfahrungen und meiner Lebensgeschichte, und natürlich philosophiere ich auch vor mich hin. (Z.B. wäre es mir als antikes Spartani durchaus als ehrbar vorgekommen, viele Feindis umzubringen und behinderte Kinder auszusetzen.)
Mit meiner individuellen Moral gucke ich mich um und versuche mich mit den Moralen anderer Leute zusammen zu bringen, z.B. kann ich mich mit den allermeisten Teilen der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen identifizieren, bei manchen müsste ich noch genauer nachdenken. Und natürlich versuche ich nicht in Morale anderer Leute einzugreifen, solange es denen damit gut geht, und sie mir nicht weh tun, oder das Potential dazu haben.
Das ist im Prinzip eine naturalistische Moral. Du hast festgelegt, wie es für dich
sein soll. In Ordnung, es kann aber nicht schaden, von anderen zu lernen und oft wirst du wohl auch Moral von anderen übernehmen. Es gibt keinen Menschen, der nur Individuum ist, jeder ist auch Gesellschaft (oder Horde).
fritz-ferdinand hat geschrieben:Im übrigen denke ich tatsächlich ein wenig sozialdarwinistisch, und meine, dass die moralischen Systeme, die es nach langem Bestehen/Entwickeln bis heute geschafft haben, erst mal im Großen und Ganzen als praxistauglich anzusehen sind. Was keinesfalls verhindert, mich im Sinne evolutionärer Entwicklung vehement gegen die Elemente zu sträuben, die mir weh tun. Das sind z.B. Ansinnen, an heilige Göttis oder an heilige Osterhasis oder an heilige Teekannen zu glauben, oder auch nur Achtung vor solchen Glauben zu haben. Achtung vor den Glaubenden zu haben ist eine andere Sache.
Auch wenn es in der Praxis selbstverständlich viel komplexer ist, als es sich hier anhört, ich komme damit durch. Auch noch nach langem Nachdenken.
Warum solltest du damit nicht durchkommen, es ist alles ganz
natürlich.