Der Kern des Naturalismus

Der Kern des Naturalismus

Beitragvon sapere aude » Fr 10. Apr 2009, 14:15

Myron schreibt in seinem neuen Motto:

"Der Kern des Naturalismus: Es gibt weder Geister noch von Nichtgeistern besessene Geisteskräfte innerhalb der Raumzeit und es gibt nichts außerhalb der Raumzeit."


Ich würde dem bis zu dem Teil innerhalb der Raumzeit zustimmen. Die Behauptung aber, es gäbe nichts außerhalb der Raumzeit finde ich dagegen sehr verwegen. Woher will er das wissen?

Muss man den Satz nicht so formulieren:

"Der Kern des Naturalismus: Es gibt weder Geister noch von Nichtgeistern besessene Geisteskräfte innerhalb der Raumzeit"


Und wenn jemand fragt, was denn außerhalb der Raumzeit sei, antworten, dass sich das unserer Erkenntnis entzöge - es sei denn "nichts" heißt "entzieht sich unserer Kenntnis".
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon russellsteapot » Fr 10. Apr 2009, 19:12

Hmm - ich hab mal darüber nachgedacht und dann nachgesurft und mir persönlich kommt die Multiverse-Theorie recht schlüssig vor - "alternative" Universen mit anderen Naturkonstanten die sich jeder Beobachtung entziehen. Vor allem der Ansatz, diese Universen inflationär zu betrachten, gibt der Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Universums, welches bewusstes Leben hervorbringt wie unseres, einen eleganten Touch... Liebe Quantenphysiker, macht weiter so :up:
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon ganimed » Fr 10. Apr 2009, 21:36

Ich hatte es immer so verstanden, dass die Raumzeit erst mit dem Urknall entstanden sei. Auch deshalb schwer vorstellbar, dass es außerhalb der Raumzeit wirklich nichts gibt. Aber als Naturalist nimmt man wohl an, dass es zumindest nichts Relevantes außerhalb der Raumzeit gibt, insbesondere keine absichtsvollen Wesen, die mit uns irgendwie wechselwirken.

Aber man soll nie nie sagen und es bringt nichts nichts zu sagen.

sapere aude hat geschrieben:Und wenn jemand fragt, was denn außerhalb der Raumzeit sei, antworten, dass sich das unserer Erkenntnis entzöge

Sehe ich auch so.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Fr 10. Apr 2009, 23:06

sapere aude hat geschrieben:Myron schreibt in seinem neuen Motto:

"Der Kern des Naturalismus: Es gibt weder Geister noch von Nichtgeistern besessene Geisteskräfte innerhalb der Raumzeit und es gibt nichts außerhalb der Raumzeit."


Ich würde dem bis zu dem Teil innerhalb der Raumzeit zustimmen. Die Behauptung aber, es gäbe nichts außerhalb der Raumzeit finde ich dagegen sehr verwegen. Woher will er das wissen?


Ich weiß nicht, ob es ich weiß, zunächst glaube ich es.
Welche Arten von außerraumzeitlichen Sachen kämen infrage?
1. Spirituelle Entitäten (Cartesianische Seelen/Geister, z.B. Gott)
2. Abstrakte Entitäten
2.1. Abstrakte Individuen (logisch-mathematische Objekte, semiotische Typen)
2.2. Transzendente Universalien

Ein 'Vollblutnaturalist' kommt nicht umhin, die Existenz sowohl von spiritualia als auch von abstracta zu verneinen.
Das heißt, er muss sowohl den Substanz-Materialismus als auch den Nominalismus vertreten. (Er kann allerdings immanente Universalien gutheißen).

sapere aude hat geschrieben:Muss man den Satz nicht so formulieren:

"Der Kern des Naturalismus: Es gibt weder Geister noch von Nichtgeistern besessene Geisteskräfte innerhalb der Raumzeit"


Und wenn jemand fragt, was denn außerhalb der Raumzeit sei, antworten, dass sich das unserer Erkenntnis entzöge - es sei denn "nichts" heißt "entzieht sich unserer Kenntnis".


Man könnte in Bezug aufs Innerraumzeitliche einen ontologischen Naturalismus vertreten und in Bezug aufs Außerraumzeitliche nur einen epistemologischen Naturalismus, der das Vorhandensein einer konkreten oder abstrakten transzendenten Sphäre nicht leugnet, sondern lediglich behauptet, dass wenn es eine solche Sphäre gäbe, wir diese nicht wahrnehmen und somit auch nichts darüber wissen könnten. Der epistemologische N. läuft also auf einen agnostischen Standpunkt im Hinblick aufs Transzendente, Außerraumzeitliche hinaus.
(Dann müsste man allerdings auch die Frage nach Gott offen lassen!)

Ich vertrete jedoch einen starken ontologischen Naturalismus, d.h. keinen bloß epistemologischen Naturalismus bzw. Agnostizismus in Bezug aufs Transzendente.

"[Naturalism] is the contention that the world, the totality of entities, is nothing more than the spacetime system." (p. 5)
———
"Der Naturalismus ist die These, dass die Welt, die Gesamtheit des Seienden, nichts weiter ist als das Raumzeitsystem." [© meine Übers.]

"[Physicalism] asserts that the only particulars that the spacetime system contains are physical entities governed by nothing more than the laws of physics. The thesis is to be understood as a thesis about a completed physics. As a result, it has a certain built-in vagueness and imprecision. It may also be useful to distinguish between a weak and a strong Physicalism. Weak Physicalism is simply a doctrine about the spacetime world: that this contains only physical entities governed by nothing more than the laws of physics. It could even be accepted by a believer in a transcendent deity. Strong Physicalism is the view that everything there is, is governed by the laws of physics. Weak Physicalism plus Naturalism yields Strong Physicalism." (p. 6)
———
"Der Physikalismus behauptet, dass die einzigen Individuen, die das Raumzeitsystem enthält, physische Entitäten sind, die von nichts weiter als den Gesetzen der Physik beherrscht werden. Die These ist als eine These über eine vollendete Physik aufzufassen. Dementsprechend wohnt ihr eine gewisse Unbestimmtheit und Ungenauigkeit inne. Es kann auch nützlich sein, zwischen einem schwachen und einem starken Physikalismus zu unterscheiden. Der schwache Physikalismus ist einfach eine die Raumzeitwelt betreffende Lehre: dass diese nur physische Entitäten enthält, die von nichts weiter als den Gesetzen der Physik beherrscht werden. Er könnte sogar von jemandem akzeptiert werden, der an einen transzendenten Gott glaubt. Der starke Physikalismus ist die Ansicht, dass alles Seiende von den Gesetzen der Physik beherrscht wird. Der schwache Physikalismus plus dem Naturalismus ergibt den starken Physikalismus" [© meine Übers.]

(Armstrong, D. M. A World of States of Affairs. Cambridge: Cambridge University Press, 1997.)
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Fr 10. Apr 2009, 23:28

russellsteapot hat geschrieben:Hmm - ich hab mal darüber nachgedacht und dann nachgesurft und mir persönlich kommt die Multiverse-Theorie recht schlüssig vor - "alternative" Universen mit anderen Naturkonstanten die sich jeder Beobachtung entziehen.


Ob man nun an ein einziges, allumfassendes Raumzeitsystem glaubt (das viele unterschiedliche Subsysteme enthalten kann) oder an eine Vielzahl von (voneinander kausal isolierten) Raumzeitsystemen, spielt keine ausschlaggebende Rolle.
Du kannst die naturalistische Hauptthese, dass das Raumzeitsystem die gesamte Wirklichkeit bildet, gerne auch wie folgt lesen: Die Gesamtheit der Raumzeitsysteme bildet die gesamte Wirklichkeit.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Fr 10. Apr 2009, 23:32

ganimed hat geschrieben:Ich hatte es immer so verstanden, dass die Raumzeit erst mit dem Urknall entstanden sei. Auch deshalb schwer vorstellbar, dass es außerhalb der Raumzeit wirklich nichts gibt.


Wie gesagt, da kämen nur irgendwelche konkreten spiritualia oder irgendwelche abstracta infrage.
Mit beiden Arten von Sachen kann sich der Naturalist nicht anfreunden.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Fr 10. Apr 2009, 23:39

Man findet in der Literatur nur selten konzise Charakterisierungen des Naturalismus, die etwas taugen. Eine davon ist die folgende:

"Philosophical naturalism is the idea that reality is exhausted by the spatio-temporal world of physical entities that we can investigate in the natural sciences. The natural causal fabric of physical reality within the boundaries of space and time is all there is, was, or ever will be."
———
"Der philosophische Naturalismus besteht in der Idee, dass die Realität vollständig in der raumzeitlichen Welt der physischen Entitäten aufgeht, welche wir in den Naturwissenschaften erforschen können. Der natürliche Kausalnexus der physischen Realität innerhalb der Grenzen von Raum und Zeit ist alles, was es gibt, gab oder jemals geben wird." [© meine Übers.]

(Wilkins, Michael J., and J. P. Moreland. Jesus Under Fire: Modern Scholarship Reinvents the Historical Jesus. Grand Rapids, MI: Zondervan, 1996. p. 8)
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Fr 10. Apr 2009, 23:44

Myron hat geschrieben:Welche Arten von außerraumzeitlichen Sachen kämen infrage?
1. Spirituelle Entitäten (Cartesianische Seelen/Geister, z.B. Gott)
2. Abstrakte Entitäten
2.1. Abstrakte Individuen (logisch-mathematische Objekte, semiotische Typen)
2.2. Transzendente Universalien
Ein 'Vollblutnaturalist' kommt nicht umhin, die Existenz sowohl von spiritualia als auch von abstracta zu verneinen.


Wer die Existenz von Spiritualia bejaht, ist ein Supernaturalist; und wer die Existenz von Abstrakta bejaht, aber die Existenz von Spiritualia verneint, ist ein (metaphysischer) Nonnaturalist.
Diese feine terminologische Unterscheidung ist durchaus nützlich, denn dann muss man sich als Anhänger des abstrakten Realismus, d.h. als antisupernaturalistischer Nonnaturalist, nicht mit den Geister- und Seelengläubigen in einen Topf werfen lassen.
(Spirituelle Sachen oder Wesen sind nicht abstrakt, sondern konkret, und zwar auch dann, wenn sie sich nicht innerhalb des Raumes bzw. der Raumzeit befinden.)
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Sa 11. Apr 2009, 02:25

Myron hat geschrieben:Welche Arten von außerraumzeitlichen Sachen kämen infrage?
1. Spirituelle Entitäten (Cartesianische Seelen/Geister, z.B. Gott)
2. Abstrakte Entitäten
2.1. Abstrakte Individuen (logisch-mathematische Objekte, semiotische Typen)
2.2. Transzendente Universalien


Man kann zu (2) noch Folgendes hinzufügen:

2.3. Objektive Werte

Es gibt nämlich auch einen meta-ethischen Nonnaturalismus:

"[Metaethical] Non-Naturalism. This is the view that moral value cannot be explicated or interpreted in terms of naturalistic facts or properties. Moral values have a status and nature distinct from facts accessible to sense perception and the empirical sciences. Plato's Form of the Good is a paradigmatic example of non-naturalism, as is Kant's conception of the good will. Moore's arguments to show that good cannot be defined, and that it is not nothing but something else (e.g. what is desired for its own sake, what we desire to desire, what is most pleasing, and so on) are meant to show that good is real, objective, and non-natural."
———
"Meta-ethischer Nonnaturalismus. Dies ist die Ansicht, dass moralischer Wert nicht unter Bezug auf naturalistische Tatsachen oder Eigenschaften erläutert oder ausgedeutet werden kann. Moralische Werte haben einen Status und einen Charakter, der sie von den der Sinneswahrnehmung und den empirischen Wissenschaften zugänglichen Tatsachen unterscheidet. Platons Idee (Form) des Guten ist ein Musterbeispiel des Nonnaturalismus, ebenso wie Kants Vorstellung vom guten Willen. Moore's Argumente zum Nachweis dessen, dass das Gute nicht definiert werden kann, und dass es nicht nichts, sondern etwas anderes ist (z.B. das, was um seiner selbst willen begehrt wird, was wir zu begehren begehren, was am befriedigendsten ist usw.), sollen aufzeigen, dass das Gute real, objektiv und nichtnatürlich ist." [© meine Übers.]

(Jacobs, Jonathan A. Ethics A-Z. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2005. pp. 99-100)
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Sa 11. Apr 2009, 03:21

sapere aude hat geschrieben:Die Behauptung aber, es gäbe nichts außerhalb der Raumzeit finde ich dagegen sehr verwegen. Woher will er das wissen?


In Bezug auf immanente oder transzendente spirituelle Substanzen bin ich der Meinung, dass es solche Dinge nicht gibt, weil es sie nicht geben kann. Das heißt, mir erscheint der Begriff einer spirituellen Substanz, d.h. einer immateriellen Substanz mit psychischen Attributen, a priori derart unfasslich, widersinnig, ungereimt, dass ich es für ontologisch unmöglich halte, dass irgendetwas Reales darunter fällt. Ich bestreite also, dass unter diesen Begriff, besser Unbegriff, irgendetwas Seiendes fallen kann, dem dessen nicht zueinander passenden Merkmale als Eigenschaften zukommen.

Denn wenn es spirituelle Substanzen gäbe, dann gäbe es ausdehnungslos-körperlos-stofflose Lebewesen mit geistig-seelischen Eigenschaften; und wenn es transzendente spirituelle Substanzen gäbe, dann gäbe es derartige Lebewesen, die sich nicht einmal an irgendeinem Punkt des Raumes befinden. (Eine immanente spirituelle Substanz würde als 0-dimensionales Etwas zu jedem Zeitpunkt ihrer (immanenten) Existenz einen bestimmen Raumpunkt besetzen. Dagegen wäre eine transzendente, d.h. nicht innerhalb eines Raumes lokalisierte, spirituelle Substanz nicht einmal 0-dimensional, sondern schlicht a-dimensional, d.i. absolut dimensionslos. Natürlich sind sowohl 0- als auch adimensionale Entitäten ausdehnungslos, aber streng genommen besteht eben ein Unterschied zwischen "hat die Dimension 0" und "hat keinerlei Dimension".)

Ich glaube jedoch, dass selbstbewusste Lebewesen, die aus nichts bestehen und sich nicht einmal irgendwo befinden, per se unwirkliche Undinge, bloße absurde Gedankendinge sind, die durch nichts und niemanden—nicht einmal durch einen allmächtigen Gott—verwirklicht werden könnten.
(Aber so ein allmächtiger Gott kommt ja auch nicht infrage, weil er ebenfalls ein solches Unding ist!)
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Sa 11. Apr 2009, 05:25

Myron hat geschrieben:(Aber so ein allmächtiger Gott kommt ja auch nicht infrage, weil er ebenfalls ein solches Unding ist!)


Es darf nicht übersehen werden, dass Gott als ein außerraumzeitliches Geistwesen weder etwas denken, empfinden noch etwas fühlen könnte, da Gedanken, Empfindungen und Gefühle ja in der Zeit ablaufende Vorgänge sind. Das würde bedeuten, dass das Bewusstsein Gottes völlig inhaltslos ist, weil darin nichts vor sich gehen, geschehen kann.
Folglich wäre Gott weder eine res extensa noch eine res cogitans, sondern ein "Nichts mit leerem Bewusstsein"!
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon platon » So 12. Apr 2009, 17:48

Myron hat geschrieben:Folglich wäre Gott weder eine res extensa noch eine res cogitans, sondern ein "Nichts mit leerem Bewusstsein"!


Genau das ist er immer gewesen, egal welchen Namen man dieser Warmluftblase jeweils gegeben hat!!!
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon HF******* » So 12. Apr 2009, 23:29

Die Ablehnung von Geistern u. s.w würde ich nicht als Kern des Naturalismus betrachten, sondern als unwesentliches (!) Detail.

Der Kern des Naturalismus ist die naturwissenschaftliche Herangehensweise an die Betrachtung der Welt, der Rest ergibt sich jeweils daraus.

Die Ablehnung von Geisterglauben ist nur dann ein auffallendes Merkmal, wenn man ein naturalistisches Weltbild in Relation zu einem geistgläubigen Weltbild setzt.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Mo 13. Apr 2009, 00:05

HFRudolph hat geschrieben:Der Kern des Naturalismus ist die naturwissenschaftliche Herangehensweise an die Betrachtung der Welt, der Rest ergibt sich jeweils daraus.


Der methodologische Naturalismus ist u.a. ein metaphilosophischer Standpunkt, das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft betreffend. Dieser reicht von der positivistisch-szientistischen Reduktion der Philosophie auf Wissenschaftstheorie (oder gar der Elimination der Metaphysik) bis hin zur weniger extremen Auffassung, dass die rein rationalistische A-priori-Philosophie keine erkenntnistheoretische Vormachtstellung gegenüber den aposteriorisch-empirischen Wissenschaften innehabe.
Ich bin zwar auch der Meinung, dass die apriorisch verfahrende Philosophie kein "höheres", überwissenschaftliches Wissen zutage fördern kann, aber ich weise das szientistische Ansinnen einer totalen "Naturalisierung" der Philosophie zurück, weil sie und insbesondere die (analytische) Metaphysik in meinen Augen nach wie vor ein Recht auf ein relativ eigenständiges Dasein haben.
Die Philosophie ist der Wissenschaft zu Recht nicht mehr übergeordnet, aber man täte ihr Unrecht, wenn man sie der Wissenschaft gänzlich unterordnete.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon HF******* » Di 14. Apr 2009, 15:14

Oh, pardon. Ich dachte, es ginge um das Weltbild, nicht um Philosophie.

Philosophie ist Bestandteil der Sozialwissenschaft - würde ich sagen - und das soll keine Herabwürdigung darstellen. Für Betriebswirtschaft und Jura gilt das selbe…
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Di 14. Apr 2009, 16:02

HFRudolph hat geschrieben:Philosophie ist Bestandteil der Sozialwissenschaft - würde ich sagen - und das soll keine Herabwürdigung darstellen. Für Betriebswirtschaft und Jura gilt das selbe…


Zur Sozialwissenschaft wird die Philosophie eigentlich nie gezählt, zumal sie keine empirische Wissenschaft ist und sich keineswegs in der Sozialphilosophie erschöpft. Traditionell wird sie doch als Geisteswissenschaft bezeichnet.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon ujmp » Di 14. Apr 2009, 22:08

Die Inhalte der Begriffe Raum, Zeit, Materie, und Natur ändern sich permanent. Darauf Maxime aufzubauen ist quasireligiös. Es klingt nach archimedischem Angelpunkt. Konsequenter Naturalismus müsste sich auch zu seiner eigenen Evolution bekennen.

Der Kern des Naturalismus ist m.E.: Gucken, was los ist und rechtzeitig abhaun!
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Mi 15. Apr 2009, 00:59

ujmp hat geschrieben:Die Inhalte der Begriffe Raum, Zeit, Materie, und Natur ändern sich permanent. Darauf Maxime aufzubauen ist quasireligiös. Es klingt nach archimedischem Angelpunkt. Konsequenter Naturalismus müsste sich auch zu seiner eigenen Evolution bekennen.


Der metaphysische Naturalismus (oder Materialismus/Physikalismus) steht dem Fortschritt der Naturwissenschaften aufgrund seiner Allgemeinheit nicht im Wege. Der Naturalismus ist eine weite—aber nicht unendlich weite—philosophische Leinwand, auf die sich viele naturwissenschaftliche Theorien malen lassen.
Unser philosophisch-wissenschaftliches Verständnis von Raum, Zeit, Materie und Natur hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt; doch deswegen muss man auf die Aufstellung globaler philosophischer Grundthesen (siehe: viewtopic.php?p=45743#p45743) keineswegs verzichten, solange man bereit ist, diese gegebenenfalls im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu revidieren. Dazu gibt es aber derzeit besonders im Hinblick auf die Verneinung des Daseins rein geistlicher Wesen keinerlei Anlass—im Gegenteil, die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse bekräftigen diese Grundthese des Naturalismus.

Ein Bekenntnis zum metaphysischen Naturalismus/Materialismus/Physikalismus muss kein typisch religiöses Bekenntnis sein nach dem Motto: "Ich glaube fest daran, komme was da wolle!".


"[M]etaphysical neutrality is not among my aims."
———
"Metaphysische Neutralität gehört nicht zu meinen Zielen." [© meine Übers.]

(Lewis, David. On the Plurality of Worlds. Oxford: Blackwell, 1986. p. 105, fn. 2)


"Materialist metaphysicians want to side with physics, but not to take sides within physics."
———
"Materialistische Metaphysiker wollen auf der Seite der Physik stehen, aber sich nicht auf eine bestimmte Seite innerhalb der Physik schlagen." [© meine Übers.]

(Lewis, David. "New Work for a Theory of Universals." in David Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, 8-55. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. p. 37+)
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Mi 15. Apr 2009, 05:20

ujmp hat geschrieben:Der Kern des Naturalismus ist m.E.: Gucken, was los ist und rechtzeitig abhaun!


Es gehört schon etwas mehr dazu.

"Naturalism stands for the self-sufficiency and intelligibility of the world of space and time. Supernaturalism maintains that this realm is not self-sufficient and that it can be understood only as the field of operation of a spiritual reality outside itself. Historically and logically, naturalism is associated with science, while supernaturalism finds expression in an ethical metaphysics, the rule of God."
———
"Der Naturalismus steht für die Selbstgenügsamkeit und Begreifbarkeit der Welt von Raum und Zeit. Der Supernaturalismus vertritt die Auffassung, dass dieses Reich nicht selbstgenügsam ist, und dass es nur als das Wirkungsfeld einer geistlichen Realität außerhalb davon verstanden werden kann. In historischer und logischer Hinsicht ist der Naturalismus mit der Naturwissenschaft verbunden, während der Supernaturalismus seinen Ausdruck in einer ethischen Metaphysik findet, dem Gesetz Gottes." [@ meine Übers.]

(Sellars, Roy Wood. Evolutionary Naturalism. 1922. Reprint, New York: Russell and Russell, 1969. p. 2)

Der schwache Naturalist, der nur behauptet, dass die raumzeitliche Welt keine Wirkungssphäre irgendwelcher übernatürlichen (d.i. hyperphysischen, spirituellen) Wesen und Kräfte ist, aber nicht das Vorhandensein einer übernatürlichen Realität schlechthin leugnet, muss sich—damit er die Bezeichnung als "Naturalist" überhaupt verdient—der Ontologie des Supernaturalismus gegenüber zumindest agnostisch und nicht affirmativ verhalten, wenngleich der Supernaturalismus mit dem schwachen Naturalismus logisch vereinbar ist. (Ein "naturalistischer Supernaturalismus" wie der Deismus ist aber im Grunde bloß ein Pseudonaturalismus.)
Der starke Naturalist begnügt sich in Bezug auf das Transzendente, Außerraumzeitliche nicht mit dem Agnostizismus: Er verneint dessen Dasein ausdrücklich. (Der starke N. geht logischerweise mit dem schwachen N. einher, da nichtexistente übernatürliche Dinge ja nichts innerhalb der Raumzeitwelt bewirken können.)

Hier sind allerdings zwei Unterscheidungen anzuführen:
Mit "übernatürliche Realität" kann entweder (a) "konkret-hyperphysische = spirituelle Realität" oder "abstrakt-hyperphysische Realität" gemeint sein. Es ist hilfreich, wenn man sagt, dass sowohl (a) als auch (b) nichtnatürliche Realitätsbereiche seien, während nur (a) ein übernatürlicher Realitätsbereich sei. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird allerdings zwischen "nichtnatürlich" und "übernatürlich" nicht sauber unterschieden. Für den philosophischen Sprachgebrauch ist diese Unterscheidung aber durchaus nicht belanglos.
Denn ein Nonnaturalist, der zwar an eine abstrakte "platonische" Realitätssphäre, aber nicht an ein konkretes Geister-/Seelenreich glaubt, ist von wesentlich anderer Gesinnung als ein Supernaturalist.
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Re: Der Kern des Naturalismus

Beitragvon Myron » Mi 15. Apr 2009, 06:10

Da in den Brights-Prinzipien offenkundig nicht zwischen "übernatürlich" und "nichtnatürlich" unterschieden wird, stellt sich mir die Frage, ob abstrakte Objekte von Brights Central zu den übernatürlichen Elementen gezählt werden oder nicht.
Wenn ja, dann können Platonisten, d.i. Realisten in Bezug auf Abstrakta, keine Brights werden, sondern nur Nominalisten.

http://plato.stanford.edu/entries/platonism

http://plato.stanford.edu/entries/nomin ... etaphysics

Ein Vollblut-Naturalist muss sich wohl oder übel auch zum Nominalismus bekennen (*, weil er sonst vielleicht kein Supernaturalist, aber doch ein Nonnaturalist ist.

(* Zumindest in Bezug auf Universalien, d.h. auf Eigenschaften und Beziehungen, kann er jedoch wie David Armstrong einen moderaten, immanenten Realismus vertreten.)
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