Vorteil kontra Wahrheit

Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Sa 10. Jan 2009, 06:25

In diesem Thema dreht es sich um Naturalismus und Religion. Ich nehme an, dass Naturalismus im Großen und Ganzen der Wahrheit entspricht und religiöse Ideen, die sich teilweise gegenseitig widersprechen stehen hierbei für den Vorteil. Ich möchte das aber begründen, denn es wird sicher genug Menschen geben die anderer Meinung sind. Religion ist hierbei stellvertretend für das Pokern zwischen Wahrheit und Vorteil.

Es gibt Situationen, in denen man sich entscheiden muss. Genau um solche und nur solche Situationen geht es mir. Situationen in denen Wahrheit und Vorteil der gleichen Entscheidung entsprechen spielen hier keine Rolle, da die Konkurrenz beider Prinzipien geklärt werden soll. Man muss sich also in Situationen entscheiden, ob man eindeutig die Wahrheit verkündet und dazu den Nachteil akzeptiert oder ob man sich zu einer Täuschung entschließt. Kann man in diesem bereits sehr allgemein verfassten Zusammenhang bereits Aussagen treffen und Argumente finden, die einer Entscheidungsfindung dienen könnten ohne sagen zu müssen für was man sich generell entscheiden würde?

In Religionen gibt es die unterschiedlichsten Behauptungen was real ist bzw. wie man die Realität auffassen soll. Es gibt z.B. im alten Testament die Behauptung, dass lange Haare stark machen können (Rastafari). Ich behaupte, dass wenn die Schwelle eindeutig ist und wenn es einen eindeutigen Vorteil gibt, sich die Menschen in meiner beschriebenen Entscheidungsfindung eher für die Täuschung entscheiden. Und ich behaupte, dass Religion deshalb existiert, weil Vorteilsstreben existenziell entscheidender für das Leben ist, als Wahrheitsstreben. Menschen sind durch Religionen bündelbar, weil sie ein Zweckbündnis sind, mindestens das. Es muss aber nicht nur ein Zweckbündnis sein. Die Liebe zur Glaubensgruppe wird zusätzlich im Christentum gefordert. Das Täuschungssystem ist immer ein Vorteilssystem, sonst wäre es sinnlos. Naturalismus bietet keine Täuschung, keine Strategien irgend einer Art der überlegenheit durch Täuschung zu erzielen. Deshalb ist der Naturalismus prinzipiell schwächer, weil man Stärke nicht durch Wahrheit, sondern durch Vorteil erreicht, es sei denn die Wahrheit bringt einen Vorteil.
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Ich möchte nicht klären ob Religion der Täuschung dient, denn entweder man hat das erkannt und verkündet, dass man das erkannt hat oder man täuscht darüber hinweg, dass man erkannt hat, dass Religion der Täuschung dient. Wer nicht erkannt hat, dass Religion der Täuschung dient, wird das folglich nie begreifen. Eine Diskussion darüber ob Religion der Täuschung dient wäre folglich sinnlos. Es wäre vorprogrammiert, dass man aneinander Vorbei redet und bereits jeder alles begriffen hat.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Do 15. Jan 2009, 14:06

"Der Ursprung unsres Begriffs "Erkenntniss". - Ich nehme diese Erklärung von der Gasse; ich hörte jemanden aus dem Volke sagen "er hat mich erkannt" -: dabei fragte ich mich: was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss? was will es, wenn es "Erkenntniss" will? Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt werden. Und wir Philosophen - haben wir unter Erkenntniss eigentlich mehr verstanden? Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, Alles und jedes, in dem wir uns zu Hause wissen: - wie? ist unser Bedürfniss nach Erkennen nicht eben dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls sein?... Dieser Philosoph wähnte die Welt "erkannt", als er sie auf die "Idee" zurückgeführt hatte: ach, war es nicht deshalb, weil ihm die "Idee" so bekannt, so gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der "Idee" fürchtete? - Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man sehe sich doch ihre Principien und Welträthsel-Lösungen darauf an! Wenn sie Etwas an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden, das uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins oder unsre Logik oder unser Wollen und Begehren, wie glücklich sind sie sofort! Denn was bekannt ist, ist "erkannt": darin stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen, zum Mindesten sei das Bekannte leicht ererkennbar als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der "inneren Welt", von den "Thatsachen des Bewusstseins" auszugehen, weil sie die uns bekanntere Welt sei! Irrthum der Irrthümer! Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu "erkennen", das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als "ausser uns" zu sehn... Die grosse Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente - unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte - ruht gerade darauf, dass sie das Fremde als Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu wollen..." (F.W.N - Die Fröhliche Wissenschaft - Wir Furchtlosen)


"Wissenschaft als Vorurtheil. - Es folgt aus den Gesetzen der Rangordnung, dass Gelehrte, insofern sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen grossen Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen dürfen: zudem reicht ihr Muth und ebenso ihr Blick nicht bis dahin, - vor Allem, ihr Bedürfniss, das sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wünschen, es möchte so und so beschaffen sein, ihr Fürchten und Hoffen kommt zu bald schon zur Ruhe, zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und einen Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit ziehen heisst, jene endliche Versöhnung von, "Egoismus und Altruismus", von der er fabelt, das macht Unsereinem beinahe Ekel: - eine Menschheit mit solchen Spencer'schen Perspektiven als letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung, der Vernichtung werth! Aber schon dass Etwas als höchste Hoffnung von ihm empfunden werden muss, was Anderen bloss als widerliche Möglichkeit gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht hätte... Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr Aquivalent und Maass haben soll, an eine "Welt der Wahrheit", der man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte - wie? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer Rechenknechts-Uebung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen lassen? Man soll es vor Allem nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden wollen: das fordert der gute Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor Allem, was über euren Horizont geht! Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in eurem Sinne (- ihr meint eigentlich mechanistisch?) geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivetät, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es umgekehrt nicht recht wahrscheinlich, dass sich gerade das Oberflächlichste und Aeusserlichste vom Dasein - sein Scheinbarstes, seine Haut und Versinnlichung - am Ersten fassen liesse? vielleicht sogar allein fassen liesse? Eine "wissenschaftliche" Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der dümmsten, das heisst sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern in's Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell sinnlose Welt! Gesetzt, man schätzte den Werth einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne - wie absurd wäre eine solche "wissenschaftliche" Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr "Musik" ist!..." (F.W.N - La gaya scienza - Wir Furchtlosen)

"Die Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glauben. - Wie viel einer Glauben nöthig hat, um zu gedeihen, wie viel "Festes", an dem er nicht gerüttelt haben will, weil er sich daran hält, - ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder, deutlicher geredet, seiner Schwäche). Christenthum haben, wie mir scheint, im alten Europa auch heute noch die Meisten nöthig: desshalb findet es auch immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein, - gesetzt, er hätte ihn nöthig, so würde er ihn auch immer wieder für "wahr" halten, - gemäss jenem berühmten "Beweise der Kraft", von dem die Bibel redet. Metaphysik haben Einige noch nöthig; aber auch jenes ungestüme Verlangen nach Gewissheit, welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wollen (während man es wegen der Hitze dieses Verlangens mit der Begründung der Sicherheit leichter und lässlicher nimmt): auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz, jener Instinkt der Schwäche, welcher Religionen, Metaphysiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber - conservirt. In der That dampft um alle diese positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen Verdüsterung, Etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht vor neuer Enttäuschung - oder aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte Laune, Entrüstungs-Anarchismus und was es alles für Symptome oder Maskeraden des Schwächegefühls giebt. Selbst die Heftigkeit, mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen in ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel in die Vaterländerei (so heisse ich das, was man in Frankreich chauvinisme, in Deutschland "deutsch" nennt) oder in ästhetische Winkel-Bekenntnisse nach Art des Pariser naturalisme (der von der Natur nur den Theil hervorzieht und entblösst, welcher Ekel zugleich und Erstaunen macht - man heisst diesen Theil heute gern la verité vraie -) oder in Nihilismus nach Petersburger Muster (das heisst in den Glauben an den Unglauben, bis zum Martyrium dafür) zeigt immer vorerst das Bedürfniss nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt... Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dringlichsten nöthig, wo es an Willen fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen. Woraus vielleicht abzunehmen wäre, dass die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christenthum ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches Um-sich-greifen zumal, in einer ungeheuren Erkrankung des Willens gehabt haben möchten. Und so ist es in Wahrheit gewesen: beide Religionen fanden ein durch Willens-Erkrankung in's Unsinnige aufgethürmtes, bis zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem "du sollst" vor, beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten der Willens-Erschlaffung und boten damit Unzähligen einen Halt, eine neue Möglichkeit zu wollen, einen Genuss am Wollen. Der Fanatismus ist nämlich die einzige Willensstärken, zu der auch die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können, als eine Art Hypnotisirung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zu Gunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie) eines einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes, der nunmehr dominirt - der Christ heisst ihn seinen Glauben. Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen werden muss, wird er "gläubig"; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence." (F.W.N - La gaya scienza - Wir Furchtlosen)


Ich verstehe immer noch nicht, wie so viele von euch sich immer so sicher mit ihrem Begriff von Wahrheit fühlen und sich mit ihm vom Glauben abgrenzen - "Nichts ist wahr! Alles ist erlaubt!"


Edit: Ich werde die nächste Zeit aufgrund eines Umzuges allemal vorerst nicht verfügbar sein, also beachtet mich einfach nicht: so ist es am vorteilhaftesten für euch.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Mark » Do 15. Jan 2009, 14:57

Die Vorstellungen von Wahrheit hängen stark mit den eigenen Fähigkeiten zusammen. Und wenn ich gezwungen wäre mit meinen Vorstellungen hinter meinen Fähigkeiten zurückzubleiben, dann ist für mich die Definition von "kleingeistig" nicht besser zu umschreiben !
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Jarl Gullkrølla » Do 15. Jan 2009, 17:49

Tja, und da ich als Drache auf dem Hort der Wahrheit sitze und sonst niemanden heranlasse, wirst du wohl auch niemals erfahren was die Alternativen sind (Nietzsche schrieb in seinem Leben nämlich nicht mehr als diese drei von mir angebrachten Texte); wirst nie erfahren, weswegen Nietzsche ein anderer Nihilist ist als die Materialisten es mit ihrem ewigen "Nichts als" sind; wirst nie erfahren, weswegen man nicht ständig vom Werk auf den Autor schließen sollte (Was geht uns Nietzsche an? Was geht uns an ob er verzweifelt war?); ...
Ach Gott wie ist es schön Hort-Drache zu sein!

Edit: Was, das Gesagte zurücknehmen indem du es ungeschehen machst anstatt so mutig zu sien dich zu widerlegen? Nun ja, eben ein "Nietzsche-Fan" - bis ins Herz drangen die Worte wohl nicht.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Mark » Do 15. Jan 2009, 18:16

Jarl Gullkrølla hat geschrieben:Tja, und da ich als Drache auf dem Hort der Wahrheit sitze und sonst niemanden heranlasse, wirst du wohl auch niemals erfahren was die Alternativen sind (Nietzsche schrieb in seinem Leben nämlich nicht mehr als diese drei von mir angebrachten Texte); wirst nie erfahren, weswegen Nietzsche ein anderer Nihilist ist als die Materialisten es mit ihrem ewigen "Nichts als" sind; wirst nie erfahren, weswegen man nicht ständig vom Werk auf den Autor schließen sollte (Was geht uns Nietzsche an? Was geht uns an ob er verzweifelt war?); ...
Ach Gott wie ist es schön Hort-Drache zu sein!

Edit: Was, das Gesagte zurücknehmen indem du es ungeschehen machst anstatt so mutig zu sien dich zu widerlegen? Nun ja, eben ein "Nietzsche-Fan" - bis ins Herz drangen die Worte wohl nicht.


Ich werde so blöd sein und Nietzsche zum Nenner ernennen ? Was er gemacht hat muss jeder machen, aber lesen kann man es nicht. Man muss es schon machen.
Wenn man kann.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Do 15. Jan 2009, 19:42

Ich glaube nicht an alles was Nietzsche geschrieben hat. Er hat sicherlich auch Texte geschrieben an die er selbst nicht geglaubt hat.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Pia Hut » Do 15. Jan 2009, 19:46

Also ich kann nicht behaupten, dass ich bei den Antworten jetzt wirklich verstanden habe, worauf das hinaus laufen soll, dafür habe ich offenbar zu wenig Erfahrung mit diesem Forum. Daher will ich mich erst mal nur auf xander1 beziehen, der das Thema begann.

Ich habe gerade zu dem älteren Thread (Vorteil oder Nachteil), den trazy aufgemacht hatte, etwas gepostet. Im Prinzip greifen beide Themen eng ineinander.

„Es gibt Situationen, in denen man sich entscheiden muss. Genau um solche und nur solche Situationen geht es mir. Situationen in denen Wahrheit und Vorteil der gleichen Entscheidung entsprechen spielen hier keine Rolle, da die Konkurrenz beider Prinzipien geklärt werden soll. Man muss sich also in Situationen entscheiden, ob man eindeutig die Wahrheit verkündet und dazu den Nachteil akzeptiert oder ob man sich zu einer Täuschung entschließt.“

Hier zunächst ganz kurz: Du abstrahierst hier von jeder bestimmten Gesellschaftsform und behauptest damit das Problem als ein allgemein menschliches oder allgemein gesellschaftliches.

Meine erste Gegenthese wäre: Nur in einer „Konkurrenz“-Gesellschaft in der es von Interessengegensätzen nur so wimmelt, wird es für das Individuum von praktischem Vorteil, die Wahrheit zu opfern, um über diese Gegensätze zugunsten des eigenen (kurzsichtig gefassten) Interesses hinwegzutäuschen. Gehst du notwendig davon aus, dass das nicht anders sein könne?

Diese „Situationen“ um die es dir geht, bedürften da einer näheren Bestimmung. Oder sprechen wir über ein Menschenbild im Allgemeinen?
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Pfeifer » Do 15. Jan 2009, 21:22

xander1 hat geschrieben:Es gibt Situationen, in denen man sich entscheiden muss. Genau um solche und nur solche Situationen geht es mir. Situationen in denen Wahrheit und Vorteil der gleichen Entscheidung entsprechen spielen hier keine Rolle, da die Konkurrenz beider Prinzipien geklärt werden soll. Man muss sich also in Situationen entscheiden, ob man eindeutig die Wahrheit verkündet und dazu den Nachteil akzeptiert oder ob man sich zu einer Täuschung entschließt. [...]

In Religionen gibt es die unterschiedlichsten Behauptungen was real ist bzw. wie man die Realität auffassen soll. [...] Ich behaupte, dass wenn die Schwelle eindeutig ist und wenn es einen eindeutigen Vorteil gibt, sich die Menschen in meiner beschriebenen Entscheidungsfindung eher für die Täuschung entscheiden. Und ich behaupte, dass Religion deshalb existiert, weil Vorteilsstreben existenziell entscheidender für das Leben ist, als Wahrheitsstreben. [...] Naturalismus bietet keine Täuschung, keine Strategien irgend einer Art der überlegenheit durch Täuschung zu erzielen. Deshalb ist der Naturalismus prinzipiell schwächer, weil man Stärke nicht durch Wahrheit, sondern durch Vorteil erreicht, es sei denn die Wahrheit bringt einen Vorteil.


Jede Entscheidung dient dem persönlichen Vorteil. Entscheidet man z. B. im Sinne eines Anderen, tut man es, weil man dadurch einen persönlichen, emotionalen Vorteil direkt hat oder für einen späteren Zeitpunkt erwartet - evtl auch verknüpft mit durch die Entscheidung ausgelösten neuen Umständen. Es geht dabei auschließlich um Emotionen der angenehmeren Natur - demnach also um vorteilhafte.

Anhänger von Religionen erwarten einen emotionalen Vorteil für sich selbst! Womit dieser Vorteil verknüpft ist - z. B. direktes Erleben der Gnade Gottes, Lob durch den Sektenführer, Hoffen auf ein Aufsteigen in der Hierarchie theologischer Institutionen oder auch ein Hoffen auf ein Leben nach dem Tod (das wiederum auch dem Diesseits ein wenig den Stress nehmen kann) - bleibt dabei stets im Verborgenen, es sei denn, der Bevorteilte kann sagen, weshalb er sich in der Weise, entschieden hat, wie er es tat. Ob es sich dann bei dieser Aussage um einen Täuschungsversuch handelt, kann nicht hinreichend bewiesen werden. Ob eine Täuschung einen Vorteil bringt, kann zudem nur ein Individuum selbst entscheiden - auch, ob dieser Vorteil die Täuschung (von wievielen?) wert war.

Ob Vorteilsstreben existenziell entscheidender ist, als Wahrheitsstreben, bezweifel ich. Ich denke eher, dass beides im steten, womöglich gleichberechtigten Zusammenspiel versucht, dem Menschen die Realität so plausibel und dabei angenehm wie möglich zu machen. Religionen bieten den Menschen dabei eine plausible Wahrheit, die zudem noch einen großen Vorteil bringt. Nur, weil es nicht dem Streben nach deiner Wahrheit entspricht, lieber xander1, bedeutet das nicht, dass die Menschen nicht nach ihrer persönlichen Wahrheit streben können, die sie selbst verstehen können müssen. Du selbst weißt vermutlich, wie schwierig es ist, naturalistische Theorien zu durchdringen und deine Zweifel dabei gründlich genug abzuarbeiten, sodass die Sicherheit auf grundsolidem Fundament stehen kann. Letztlich haben Religiöse ihre Wahrheit einfach nicht so derbe ausdifferenziert. ("Selig sind die geistig Armen". Sie geben sich eben mit weniger zufrieden.)

In meinen Augen ist der Naturalismus dadurch also nicht schwächer, denn ich persönlich habe einen großen Vorteil dadurch, dass ich die Welt ohne Brille sehe (und dass ich das tue, nehme ich für mich einfach mal arrogant in Anspruch). Ich persönlich fühle mich nach langem Kampf mit meinen Überzeugungen mittlerweile so stark, dass ich davon überzeugt bin, dem Papst seinen Glauben an den real existierenden Gott nehmen und den Gaza-Krieg in weniger als drei Tagen friedlich beenden zu können. (Selbstüberschätzung war schon seit jeher eine meiner ungewollten Eigenschaften, aber das heißt ja nix :^^:).

Die Tatsache, dass Wahrheit einen Vorteil bringt, wird sich ganz sicher weiter und weiter verbreiten. Momentan bieten Religionen jedoch mehr Sicherheit, als das naturalistische Weltbild - ihre Botschaft ist sehr einfach zu verstehen, ihre Strukturen sind gesellschaftlich anerkannt, somit leicht zugänglich und schließlich war Kirche schon immer, basta.

Früher oder später, und das war schon immer so, wird sich die Wahrheit dann durchsetzen. Und das schließlich zum Vorteil aller - davon bin ich überzeugt. :yes:
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Fr 16. Jan 2009, 19:17

Pia Hut hat geschrieben:Hier zunächst ganz kurz: Du abstrahierst hier von jeder bestimmten Gesellschaftsform und behauptest damit das Problem als ein allgemein menschliches oder allgemein gesellschaftliches.

Bestätigst du das nicht mit deiner Gegenthese?
Pia Hut hat geschrieben:Meine erste Gegenthese wäre: Nur in einer „Konkurrenz“-Gesellschaft in der es von Interessengegensätzen nur so wimmelt, wird es für das Individuum von praktischem Vorteil, die Wahrheit zu opfern, um über diese Gegensätze zugunsten des eigenen (kurzsichtig gefassten) Interesses hinwegzutäuschen. Gehst du notwendig davon aus, dass das nicht anders sein könne?

Das ist der Punkt. Das meine ich als Thema oder würde es zum Thema machen wollen. Aber ich gebe dir jetzt schon Recht.
Pia Hut hat geschrieben:Diese „Situationen“ um die es dir geht, bedürften da einer näheren Bestimmung. Oder sprechen wir über ein Menschenbild im Allgemeinen?

Du hast mit deiner Gegenthese eine genauere Bestimmung abgegeben. Darauf würde ich hinauswollen.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Pia Hut » Sa 17. Jan 2009, 14:42

Hallo xander1, ich denke ich verstehe jetzt besser, wo du gedanklich dran bist. Aber ich weiß auch noch keinen genauen Einstieg. Ich werde mal bei einigen Gedanken von Pfeifer weiter machen.

Jede Entscheidung dient dem persönlichen Vorteil. Entscheidet man z. B. im Sinne eines Anderen, tut man es, weil man dadurch einen persönlichen, emotionalen Vorteil direkt hat oder für einen späteren Zeitpunkt erwartet – evtl. auch verknüpft mit durch die Entscheidung ausgelösten neuen Umständen. Es geht dabei ausschließlich um Emotionen der angenehmeren Natur - demnach also um vorteilhafte.


Ich finde den Gedanken sehr wichtig, sich klar zu machen, dass es so was wie Selbstlosigkeit gar nicht gibt und das ist keineswegs schlimm (aber dazu ein anderes Mal) Kinder die in unserer Gesellschaft aufwachsen, werden jedoch heute noch dazu aufgefordert nicht egoistisch zu handeln, es wird immer noch versucht zur „Selbstlosigkeit“ zu erziehen, oder täusche ich mich da. Was hat das mit Wahrheit zu tun – ich würde sagen, das ist eine Aufforderung zum Selbstbetrug, wenn man diesen Pfad erst einschlägt, hat man den der Wahrheit schon verlassen und nicht zum eigenen Vorteil.

Ich bin zwar nicht gerade ein Nietzsche-Fan, aber zu einigen Themen hatte er es echt „drauf“, daher bringe ich ihn hier auch noch mal rein:

An die Lehrer der Selbstlosigkeit

An die Lehrer der Selbstlosigkeit. — Man nennt die Tugenden eines Menschen gut, nicht in Hinsicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn selber haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von ihnen für uns und die Gesellschaft voraussetzen: — man ist von jeher im Lobe der Tugenden sehr wenig "selbstlos", sehr wenig "unegoistisch" gewesen! Sonst nämlich hätte man sehen müssen, dass die Tugenden (wie Fleiß, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern meistens schädlich sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu den andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend!) — so bist du ihr Opfer! Aber der Nachbar lobt eben deshalb deine Tugend! Man lobt den Fleißigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit und Frische seines Geistes mit diesem Fleiße schädigt; man ehrt und bedauert den Jüngling, welcher sich "zu Schanden gearbeitet hat", weil man urteilt: "Für das ganze Große der Gesellschaft ist auch der Verlust des besten Einzelnen nur ein kleines Opfer! Schlimm, dass das Opfer Not tut! Viel schlimmer freilich, wenn der Einzelne anders denken und seine Erhaltung und Entwickelung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste der Gesellschaft!" Und so bedauert man diesen Jüngling, nicht um seiner selber willen, sondern weil ein ergebenes und gegen sich rücksichtsloses Werkzeug — ein sogenannter "braver Mensch" — durch diesen Tod der Gesellschaft verloren gegangen ist. Vielleicht erwägt man noch, ob es im Interesse der Gesellschaft nützlicher gewesen sein würde, wenn er minder rücksichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger erhalten hätte, — ja man gesteht sich wohl einen Vorteil davon zu, schlägt aber jenen anderen Vorteil, dass ein Opfer gebracht und die Gesinnung des Opfertiers sich wieder einmal augenscheinlich bestätigt hat, für höher und nachhaltiger an. Es ist also einmal die Werkzeug-Natur in den Tugenden, die eigentlich gelobt wird, wenn die Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde in jeder Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesamt-Vorteil des Individuums sich nicht in Schranken halten lässt, kurz: die Unvernunft in der Tugend, vermöge deren das Einzelwesen sich zur Funktion des Ganzen umwandeln lässt. Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem, — das Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten Obhut über sich selber nehmen. — Freilich: zur Erziehung und zur Einverleibung tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von Wirkungen der Tugend heraus, welche Tugend und Privat-Vorteil als verschwistert erscheinen lassen, — und es gibt in der Tat eine solche Geschwisterschaft! Der blindwütende Fleiß zum Beispiel, diese typische Tugend eines Werkzeuges, wird dargestellt als der Weg zu Reichtum und Ehre und als das heilsamste Gift gegen die Langeweile und die Leidenschaften: aber man verschweigt seine Gefahr, seine höchste Gefährlichkeit. Die Erziehung verfährt durchweg so: sie sucht den Einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vorteilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, wider seinen letzten Vorteil, aber "zum allgemeinen Besten" in ihm und über ihn herrscht. Wie oft sehe ich es, dass der blindwütende Fleiß zwar Reichtümer und Ehre schafft, aber zugleich den Organen die Feinheit nimmt, vermöge deren es einen Genuss an Reichtum und Ehren geben könnte, ebenso, dass jenes Hauptmittel gegen die Langeweile und die Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist widerspänstig gegen neue Reize macht. (Das fleissigste aller Zeitalter — unser Zeitalter — weiß aus seinem vielen Fleiße und Gelde Nichts zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiß: es gehört eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu erwerben! — Nun, wir werden unsere "Enkel" haben!) Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des Einzelnen eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachteil im Sinne des höchsten privaten Zieles, — wahrscheinlich irgend eine geistig-sinnliche Verkümmerung oder gar der frühzeitige Untergang: man erwäge der Reihe nach von diesem Gesichtspunkte aus die Tugend des Gehorsams, der Keuschheit, der Pietät, der Gerechtigkeit. Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften — also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt, — dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der "Nächste" lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vorteile hat! Dächte der Nächste selber "selbstlos", so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor Allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, dass er dieselbe nicht gut nennte! — Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Prinzipe! Das, womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sie aus ihrem Kriterium des Moralischen! Der Satz, "du sollst dir selber entsagen und dich zum Opfer bringen" dürfte, um seiner eigenen Moral nicht zuwiderzugehen, nur von einem Wesen dekretiert werden, welches damit selber seinem Vorteil entsagte und vielleicht in der verlangten Aufopferung der Einzelnen seinen eigenen Untergang herbeiführte. Sobald aber der Nächste (oder die Gesellschaft) den Altruismus um des Nutzens willen anempfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz "du sollst den Vorteil auch auf Unkosten alles Anderen suchen" zur Anwendung gebracht, also in Einem Athem ein "Du sollst" und "Du sollst nicht" gepredigt!
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Pfeifer » Sa 17. Jan 2009, 21:49

Pia Hut hat geschrieben:Ich finde den Gedanken sehr wichtig, sich klar zu machen, dass es so was wie Selbstlosigkeit gar nicht gibt und das ist keineswegs schlimm (aber dazu ein anderes Mal) Kinder die in unserer Gesellschaft aufwachsen, werden jedoch heute noch dazu aufgefordert nicht egoistisch zu handeln, es wird immer noch versucht zur „Selbstlosigkeit“ zu erziehen, oder täusche ich mich da.


Ja, da täuschst du dich:

Egoismus und Selbstlosigkeit sind zwar an sich Gegensätze, aber beide haben ihren moralisch-emotionalen Vorteil. Der Unterschied besteht meines Erachtens vor allem darin, dass egoistisches Handeln dem handelnden Subjekt eben auch einen weltlichen, also einen für jeden Außenstehenden klar sichtbaren Vorteil bringt. Selbstlosigkeit dagegen bringt ausschließlich den Vorteil, etwas moralisch Gutes getan zu haben - und somit einen rein persönlich-emotionalen Vorteil.

Ich halte es für gut, dass Kindern Selbstlosigkeit anerzogen werden soll, denn Egoismus bringt lediglich dem handelnden Subjekt weltliche und geistige Vorteile, den Übrigen jedoch offenbare weltliche und vermeintliche geistige Nachteile. Selbstlosigkeit bringt dagegen allen Beteiligten ausschließlich Vorteile.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Pia Hut » So 18. Jan 2009, 14:30

Hallo Pfeifer
lass mir noch etwas Zeit den Gedanken zu entwickeln, bevor du ihn als Täuschung abtust. Für dich hörte sich dass wahrscheinlich so an, als wollte ich Kindern sagen, sie sollen nur an sich selber denken und nicht an andere. Aber das ist wahrlich nicht meine Intention. Ein bisschen schwer tue ich mich noch mit den Begrifflichkeiten - wenn ich Egoismus und Selbstlosigkeit benutze, dann hört sich das klar nach Gegensätzen an.

Ich will aber eher darauf hinaus, dass sich das eigene Interesse und die Interessen anderer Menschen nicht unbedingt gegensätzlich verhalten müssen, wenn es so scheint als würden sie das tun, dann liegt das meist an äußeren (gesellschaftlichen) Umständen.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Mo 19. Jan 2009, 19:24

Also ich will jetzt ungerne ein Lehrer der Selbstlosigkeit sein, aber wir brauchen Selbstlosigkeit als Menschen, bzw. als Tierart und nicht bloß als Gefühl der Befriedigung.

Auf einem Schiff, das kentert, gibt es doch diesen Spruch: Frauen und Kinder zuerst. Es heißt nicht auf einem Schiff wer Nietzsche heißt darf zuerst. Ist Nietzsche mit seinem Text nicht indirekt ein Prediger des Egoismusses? Man könnte umgekehrt ähnlich argumentieren, was denn der besonders egoistische Egoist mit seinem Egoismus für Nachteile erfahren wird. Man könnte vielleicht den ganzen Nietzsche-Text verkehren. Wer sagt denn bitteschön, dass man sich selbst aufopfern soll.

Ist es nicht etwa richtig, dass es in unserem Finanzsystem die unterschiedlichsten Sozial-Ausgleiche gibt: Zwischen den Bundesländern, im Steuersystem, im Sozialsystem. Ich frage nach der Richtigkeit. Ich frage also nach einer Richtigkeit von Altruismus. Gleichzeitig sollen die Bundesländer konkurrieren und das obwohl es einen Finanz-Ausgleich gibt. Damit man also konkurrieren kann und das System daher funktioniert, muss es einen Ausgleich geben. Das erinnert mich an das Kartenspiel Master und Sklave.

Wir konkurrieren international mit Ländern, in denen Menschen hungern müssen. Gleichzeitig fließen Spendengelder. Ist das nicht irgendwie verrückt?

Was ist eigentlich mit den Vegetariern? Vegetarier erfahren doch kein Dank von den Tieren. Im Sinne von Nietzsche ist das doch sinnlose Aufopferung oder wie ist das zu betrachten? Befriedigt das nur ein Gefühl oder ist das eine Vernunftsentscheidung?
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon ganimed » Mo 19. Jan 2009, 21:49

xander1 hat geschrieben:Was ist eigentlich mit den Vegetariern? Vegetarier erfahren doch kein Dank von den Tieren. Im Sinne von Nietzsche ist das doch sinnlose Aufopferung oder wie ist das zu betrachten? Befriedigt das nur ein Gefühl oder ist das eine Vernunftsentscheidung?

Gutes Beispiel. Das merke ich mir für meine nächste Diskussion zum Thema "eigentlich ist alles nur Egoismus". Denn zumindest mir scheint recht logisch, dass der Vegetarier das natürlich nur wegen seinen Gefühlen macht.

@Pia Hut: ein schöner Text vom alten Nietzsche. Für mich eine ganz neue Erfahrung. Ich hielt bisher die Texte von Kant oder Nietzsche für viel zu angestaubt zum Lesen. Aber da habe ich mich wohl deutlich verschätzt. Vielen Dank für dieses erhellende Gegenbeispiel.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Di 20. Jan 2009, 21:19

ganimed hat geschrieben:Denn zumindest mir scheint recht logisch, dass der Vegetarier das natürlich nur wegen seinen Gefühlen macht.

Na und genau das stelle ich in Frage, ob Vegetarier das wirklich nur wegen dem Gefühl machen. Ich denke sie machen es aus Überzeugung, also aus dem Verstand heraus. Da liegt ein wenig Pazifismus im Hintergrund wie mir scheint. Ich denke das hat wirklich etwas mit dem Weltbild zu tun, sozusagen, dass Vegetarismus, wenn man das so nennt, sowas wie eine Ideologie ist, an die Menschen glauben. Genauso gut könnte man Glauben, dass Tiere dem Menschen in jeder Hinsicht zu dienen haben. Also Gefühl ja, aber es steckt noch weitaus mehr dahinter.
ganimed hat geschrieben:Nietzsche

In nicht wenigen Punkten stimme ich mit Nietzsches Meinung nicht überein, aber ich finde den Mann einfach großartig. Seine Texte sind oft eine Befreiung für mich und sein Stil ist auch sehr gut, nur bekomme ich mit der Zeit Kopfschmerzen von seinen Texten, weil sie nicht einfach sind.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon ganimed » Di 20. Jan 2009, 21:36

Stimmt, beim Vegetarier kann es neben dem direkten Gefühl auch Idealismus sein. Aber selbst beim Idealismus ist sein Handeln dann egoistisch. Es gibt ihm ein besseres Gefühl, gemäß dem eigenen Idealismus zu handeln als anders zu handeln. Und das ist dann der eigentliche Grund.

Ganz real betrachtet wird ja, nur weil eine einzelne Person Vegetarier ist, nirgendwo auch nur ein Schwein weniger geschlachtet. Die Schlachthöfe kennen den betreffenden Vegetarier ja gar nicht. Die persönliche Entscheidung kein Fleisch zu essen, rettet also wohl kaum ein Tier, würde ich argumentieren. Es müssen deshalb egoistische Gründe sein. Der Vegetarier beruhigt sein Gewissen, lebt in Übereinstimmung mit seiner Überzeugung und fühlt sich entsprechend viel besser dabei.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Di 20. Jan 2009, 21:47

@ganimed: Ich bestreite, dass man von Egoismus sprechen kann, weil man ein besseres Gefühl bekommt, dann wäre nämlich alles Egoismus, denn jede Art Handeln entsteht aus Belohnungserlebnissen oder fehlenden Bestrafungserlebnissen oder planvollem Handeln.

Zu deiner Argumentation gegen Vegetariern will ich nur nicht gegenargumentieren, weil wir vom Eigentlichen abkommen. Dennoch möchte ich dazu entgegensteuern indem ich sage, dass Vegetarier ein sehr viel ausgebauteres Weltbild haben, gegen die deine Argumente nicht ausreichen würden. Ich möchte also lediglich sagen, dass sie eine Überzeugung haben, die in ihrem Konzept stimmig ist also sinnvoll in ihrem Verständnis. Ich denke es hat auch viel mit dem Schuldgefühl und Gewissen zu tun. Ist es wirklich egoistisch ein gutes Gewissen haben zu wollen?

Sind wir nur deshalb keine Verbrecher, weil wir aus Egoismus kein schlechtes Gewissen haben wollen?
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon ganimed » Di 20. Jan 2009, 22:45

xander1 hat geschrieben:Ich bestreite, dass man von Egoismus sprechen kann, weil man ein besseres Gefühl bekommt, dann wäre nämlich alles Egoismus, denn jede Art Handeln entsteht aus Belohnungserlebnissen oder fehlenden Bestrafungserlebnissen oder planvollem Handeln.

Aber genau das würde ich behaupten: Es ist nämlich alles Egoismus. Und das war ja genau die Aussage von Nietzsche, dass es keine Selbstlosigkeit gäbe. Mir scheint du argumentierst jetzt um eine Ecke zuviel im Kreis, nach dem Motto: "Nietzsche kann nicht recht gehabt haben, weil es gibt Vegetarismus, und der kann nicht egoistisch sein, sonst hätte Nietsche ja doch recht"

xander1 hat geschrieben:Dennoch möchte ich dazu entgegensteuern indem ich sage, dass Vegetarier ein sehr viel ausgebauteres Weltbild haben, gegen die deine Argumente nicht ausreichen würden.

Ich habe nichts gegen den Vegetarismus sagen wollen. Ich wollte nur feststellen, dass die Motivation dahinter letztendlich Egoismus ist (wie bei allen Dingen).

xander1 hat geschrieben:Sind wir nur deshalb keine Verbrecher, weil wir aus Egoismus kein schlechtes Gewissen haben wollen?

So ungefähr. Außer einem schlechten Gewissen verursachte das Verbrechen natürlich noch ein paar mehr Nachteile, die wir vermeiden wollen. Aber die Richtung scheint mir zu stimmen.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon AgentProvocateur » Di 20. Jan 2009, 23:20

ganimed hat geschrieben:
xander1 hat geschrieben:Ich bestreite, dass man von Egoismus sprechen kann, weil man ein besseres Gefühl bekommt, dann wäre nämlich alles Egoismus, denn jede Art Handeln entsteht aus Belohnungserlebnissen oder fehlenden Bestrafungserlebnissen oder planvollem Handeln.

Aber genau das würde ich behaupten: Es ist nämlich alles Egoismus. Und das war ja genau die Aussage von Nietzsche, dass es keine Selbstlosigkeit gäbe.

Es gibt verschiedene Definitionen von Egoismus. Ein solches Verständnis, wie Du es zu haben scheinst, nämlich, dass alles, was Menschen tun, egoistisch sei, halte ich für sinnlos, denn ein Begriff ergibt mAn keinen Sinn, wenn es nicht eine Abgrenzung zu etwas anderem gibt.

Meiner Meinung nach kann man durchaus mehr oder weniger selbstlos handeln. Zum Beispiel jemand, der einen anderen aus einem brennenden Haus rettet und dabei sein Leben aufs Spiel setzt, handelt wohl selbstloser, als ein anderer, der sich in derselben Situation schnell verdrückt.

Der Retter mag dabei selber auch eine Befriedigung aus seiner Tat ziehen, bzw. er mag, falls er anders handeln würde, sich dies selber vorwerfen. Der Unterschied zwischen selbstlosem Handeln und egoistischem Handeln ist also nicht binär, man kann vielleicht keine eindeutige Grenze ziehen. Aber dennoch ist es doch möglich, dies zu unterscheiden.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon ganimed » Di 20. Jan 2009, 23:43

AgentProvocateur hat geschrieben:Es gibt verschiedene Definitionen von Egoismus. Ein solches Verständnis, wie Du es zu haben scheinst, nämlich, dass alles, was Menschen tun, egoistisch sei, halte ich für sinnlos, denn ein Begriff ergibt mAn keinen Sinn, wenn es nicht eine Abgrenzung zu etwas anderem gibt.

Ich stimme zu. Es macht eigentlich wenig Sinn, einen Begriff so konsequent anzuwenden, dass er alles umfasst. Ich gebe zu, dass man den Begriff "Egoismus" im Alltag sicher anders verwendet, als ich das hier tue. Ich müsste wohl eher formulieren: "Nur letztendlich ist alles Egoismus"

AgentProvocateur hat geschrieben:Zum Beispiel jemand, der einen anderen aus einem brennenden Haus rettet und dabei sein Leben aufs Spiel setzt, handelt wohl selbstloser, als ein anderer, der sich in derselben Situation schnell verdrückt.

Dieses Beispiel scheint mir aber ein guter Anlass, nicht einfach auf die Feststellung, dass alles (letztendlich) nur Egoismus ist, zu verzichten.
Mich stört nämlich hier die naheliegende Bewertung der beiden: der Retter ist toll, der Flüchtende ist mies.
Ich finde, man sollte den Retter nur deshalb loben, weil er ein Leben gerettet hat. Nicht, weil er selbstlos ist. Das ist er nämlich nicht. Jeder hat eben so "seine" Gründe für das Handeln. Der Retter war mutig, vielleicht aber auch nur zu dumm die Gefahr zu sehen, oder was auch immer. Und der Flüchtende ist eben ängstlicher, oder hatte vielleicht richtigerweise die Rettung als zu gefährlich eingeschätzt, oder was auch immer. Hätte ja auch sein können, dass der Retter und der Gerettete umgekommen wären. Ist immer eine Frage des Abwägens. Es ist vorstellbar, dass "objektiv" gesehen der Retter falsch handelte und der Flüchtende richtig.

Angebliche Selbstlosigkeit in einer Gesellschaft immer und unhinterfragt zu loben ist, das scheint mir auch in Nietzsches Text zum Ausdruck zu kommen, eigentlich relativ unsinnig. Man muss für ein gerechtes Urteil wohl immer hinter die angebliche Selbstlosigkeit auf die eigentlichen Motive schauen.
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