Vorteil kontra Wahrheit

Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon AgentProvocateur » Mi 21. Jan 2009, 00:00

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Zum Beispiel jemand, der einen anderen aus einem brennenden Haus rettet und dabei sein Leben aufs Spiel setzt, handelt wohl selbstloser, als ein anderer, der sich in derselben Situation schnell verdrückt.

Dieses Beispiel scheint mir aber ein guter Anlass, nicht einfach auf die Feststellung, dass alles (letztendlich) nur Egoismus ist, zu verzichten.
Mich stört nämlich hier die naheliegende Bewertung der beiden: der Retter ist toll, der Flüchtende ist mies.
Ich finde, man sollte den Retter nur deshalb loben, weil er ein Leben gerettet hat. Nicht, weil er selbstlos ist. Das ist er nämlich nicht. Jeder hat eben so "seine" Gründe für das Handeln. Der Retter war mutig, vielleicht aber auch nur zu dumm die Gefahr zu sehen, oder was auch immer. Und der Flüchtende ist eben ängstlicher, oder hatte vielleicht richtigerweise die Rettung als zu gefährlich eingeschätzt, oder was auch immer. Hätte ja auch sein können, dass der Retter und der Gerettete umgekommen wären. Ist immer eine Frage des Abwägens. Es ist vorstellbar, dass "objektiv" gesehen der Retter falsch handelte und der Flüchtende richtig.

Es war nur ein Beispiel. In dem Beispiel handelt der Betreffende nur dann selbstlos, wenn er sich der Gefahr bewusst war.

Und was im Nachhinein besser gewesen wäre, ist für die Beurteilung der Tat mE irrelevant, denn man kann eine Situation nun mal nur mit dem gegenwärtigen Wissen und Gewissen beurteilen.

ganimed hat geschrieben:Angebliche Selbstlosigkeit in einer Gesellschaft immer und unhinterfragt zu loben ist, das scheint mir auch in Nietzsches Text zum Ausdruck zu kommen, eigentlich relativ unsinnig. Man muss für ein gerechtes Urteil wohl immer hinter die angebliche Selbstlosigkeit auf die eigentlichen Motive schauen.

Ach so, darum geht es Dir. Ich sehe das anders, für mich ist Egoismus nicht per se negativ zu beurteilen und nicht jede Selbstlosigkeit per se gut. Ein gewisses Maß an Egoismus ist mE notwendig und nichts Schlechtes. War mir auch bisher nicht bewusst, dass es ein solches Lob der Selbstlosigkeit gibt, wie Du zu meinen scheinst.

Nur denke ich eben schon, dass man unterscheiden kann zwischen (mehr oder weniger) egoistischem Handeln und (mehr oder weniger) selbstlosem Handeln. Das muss man ja erst mal gar nicht werten.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Do 22. Jan 2009, 17:03

@ganimed:

Also du unterscheidest in letztendlichem Egoismus und nicht letztendlichem Egoismus und nicht letztendlichem Altruismus. Ich frage mich ob so eine Kategorisierung Sinn macht. Außer dem Gefühl, dass deiner Meinung nach alles zum Egoismus macht, erkenne ich nicht bei dir, dass du auch dem Verstand ein Maß zuweist für Selbstlosigkeit und Egoismus.

Kann es nicht auch gefühlsmäßigen letztendlichen Egoismus und gleichzeitig verstandesgemäßem Altruismus in einem geben? Das Beispiel mit dem Retter aus dem brennenden Haus wäre dafür doch ideal?

Nach deiner Auffassung nach wäre ein Freund von dir egoistisch, wenn er dir etwas schenkt. Wer möchte da dein Freund sein, wenn du so eine Auffassung vom Leben hast? Ist es für Freundschaften nicht notwendig nicht zu egoistisch zu sein?

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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon ganimed » Do 22. Jan 2009, 20:11

xander1 hat geschrieben:Ist es für Freundschaften nicht notwendig nicht zu egoistisch zu sein?

Das wäre eine interessante Frage: was ist eigentlich für eine Freundschaft essentiell notwendig? Ich meine ja nur eins: dass man sich gegenseitig mag. Mehr eigentlich nicht, oder? Wenn ich nun Egoismus überhaupt nicht mag und gleichzeitig alle für egoistisch halte, dann, da hast du wohl recht, werde ich wohl eher keine Freunde finden. Zum Glück für mich, ist es mit meiner Abneigung dem Egoismus gegenüber nicht weit her.

xander1 hat geschrieben:Kann es nicht auch gefühlsmäßigen letztendlichen Egoismus und gleichzeitig verstandesgemäßem Altruismus in einem geben?

Eine Trennung zwischen Gefühl und Verstand halte ich an dieser Stelle für irreführend. Das wird ja in unserem Gehirn auch nicht auseinander gehalten und tritt ständig miteinander vermengt auf. Und Altruismus würde ich als etwas bezeichnen, bei dem der Egoismus dazu führt, dass ich mich für andere einsetze, weil mir das letztendlich am vorteilhaftesten erscheint. Insofern kann es Egoismus und Altruismus gleichzeitig geben, schließt sich nicht aus. Nur Selbstlosigkeit (also letztendliche Selbstlosigkeit), bei der ich etwas tue, was mir letztendlich keinerlei Vorteile bringt, die gibt es meiner Meinung nach nicht.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Sa 24. Jan 2009, 01:10

ganimed hat geschrieben:Eine Trennung zwischen Gefühl und Verstand halte ich an dieser Stelle für irreführend. Das wird ja in unserem Gehirn auch nicht auseinander gehalten und tritt ständig miteinander vermengt auf.


Verstand und Gefühl tritt zwar immer gemeinsam auf, aber es gibt in unserem Gehirn eine Trennung von Verstand und Gefühl. Der Kortex ist der Bereich in dem der Verstand wirkt. Es gibt Bereiche, die für Mathematik zuständig sind und es gibt Bereiche, die für spezielle Gefühle verantwortlich sind.

Wiegst du eigentlich alles auf, was du mit einem Freund teilst, was du ihm gibst, und was er dir gibt? Nach deiner These müsste es so ablaufen.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon ganimed » Sa 24. Jan 2009, 02:02

xander1 hat geschrieben:aber es gibt in unserem Gehirn eine Trennung von Verstand und Gefühl. Der Kortex ist der Bereich in dem der Verstand wirkt. Es gibt Bereiche, die für Mathematik zuständig sind und es gibt Bereiche, die für spezielle Gefühle verantwortlich sind.

All diese "Bereiche" sind aber über Millionen von Nervenverbindungen mit den anderen Bereichen verbunden. Unter Trennung verstehe ich da etwas anderes. Kein Bereich entscheidet für sich allein, isoliert und ohne die Einmischung anderer Bereiche über irgendwas wichtiges. Wäre jedenfalls meine Vermutung.

xander1 hat geschrieben:Wiegst du eigentlich alles auf, was du mit einem Freund teilst, was du ihm gibst, und was er dir gibt? Nach deiner These müsste es so ablaufen.

So ungefähr läuft das. Der Gegenentwurf wäre ja, eine Freundschaft zu idealisieren. Also auch dann noch ein Freund zu sein, wenn sich der "Freund" längst als unerträgliche Nervensäge erwiesen hat. Machst du das etwa so? Also ohne jemals abzuwägen: einmal Freund, immer Freund?
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Sa 24. Jan 2009, 11:42

Verstand und Gefühl sind 2 Instanzen, die immer gleichzeitig agieren. Warum entscheidet für dich das Gefühl ohne, dass der Verstand eine Rolle spielt. Wenn du hier am Computer sitzt: Denkst du da mehr oder fühlst du nur die ganze Zeit? Du kannst den Verstand nicht außen vor lassen und auch nicht sekundär eine Rolle zuweisen sondern gleichberechtigt mit den Gefühlen.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Pia Hut » Sa 24. Jan 2009, 16:53

xander 1 hat geschrieben:Also du unterscheidest in letztendlichem Egoismus und nicht letztendlichem Egoismus und nicht letztendlichem Altruismus. Ich frage mich ob so eine Kategorisierung Sinn macht. Außer dem Gefühl, dass deiner Meinung nach alles zum Egoismus macht, erkenne ich nicht bei dir, dass du auch dem Verstand ein Maß zuweist für Selbstlosigkeit und Egoismus.


Also ungefähr das Problem habe ich mit den Begrifspaaren Altrusimus und Egosimus auch, weil sie ja wirklich Gegensätze behaupten. Ich dachte mal die Formel „Altruismus als intelligenteren Egosimus“ könnte helfen. Aber logisch zufrieden werde ich damit nicht. Ich spreche jetzt mal vom Eigeninteresse, weil dies wertfreier verwendet wird, und man dabei eine bessere Chance hat nicht in die Falle eigener Vorurteile zu tappen. Und zwar an eurem Beispiel entlang.

xander 1 hat geschrieben:Nach deiner Auffassung nach wäre ein Freund von dir egoistisch, wenn er dir etwas schenkt. Wer möchte da dein Freund sein, wenn du so eine Auffassung vom Leben hast? Ist es für Freundschaften nicht notwendig nicht zu egoistisch zu sein?
Menschen die denken, es ist sowieso alles Egoismus und die immer Angst haben zu wenig egoistisch zu sein werden auch schlecht Freunde finden.


xander 1 hat geschrieben:Wiegst du eigentlich alles auf, was du mit einem Freund teilst, was du ihm gibst, und was er dir gibt? Nach deiner These müsste es so ablaufen.


ganimed hat geschrieben: So ungefähr läuft das. Der Gegenentwurf wäre ja, eine Freundschaft zu idealisieren. Also auch dann noch ein Freund zu sein, wenn sich der "Freund" längst als unerträgliche Nervensäge erwiesen hat. Machst du das etwa so? Also ohne jemals abzuwägen: einmal Freund, immer Freund?


Ich schenke einem Freund aus Eigeninteresse, weil es mich selbst erfreut, wenn er sich freut, aber das unterstellt vermutlich auch schon ein gewisses Bewusstsein einer wechselseitigen Zuneigung. Tut er es dann nicht, ist man enttäuscht, aber es sind meine Erwartung, die nicht erfüllt wurden, daher würde ich mich auch erstmal eine ganze Weile lang hüten ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Und insofern finde ich es auch wichtig für sich selbst festzuhalten, dass man natürlich auch aus Eigeninteresse agiert, wenn man behauptet, das habe ich nur für dich getan, folgt aus einer enttäuschten Erwartung nämlich auch sehr schnell die schlechte Meinung über den anderen. Das halte ich für logisch zwingend. Ich käme zunächst dazu, ihn besser verstehen zu wollen, dabei werden dann in der Regel eine Reihe von Missverständnissen deutlich, die der Unterschiedlichkeit der Individualität entspringen, Freundschaften entwickeln sich ja bekanntlich und können wachsen (natürlich auch kein linearer Vorgang, aber es reicht doch aus zu wissen, es braucht halt seine Zeit). Er bringt seine Freude z.B. anders zum Ausdruck oder ich habe wirklich keine Ahnung was ihn freut. Rausbekommen werde ich das auch nicht, wenn er die Freude nur vorheuchelt. Und für das Gefühl der Zuneigung nimmt Wahrheit für mich daher auch einen ganz zentralen Stellenwert ein, denn mit Menschen, bei denen man fast gezwungen ist sich zu verstellen, weil sie sonst ihre Enttäuschung dauernd an dir auslassen, wird das Zusammensein sehr schnell höchst frustig. Aber mit der Kategorie der Wahrheit und Gefühl …….. Doch halt mir fallen jetzt noch einige Stränge ein, aber ich gebe euch erst mal die Chance dazwischenzufunken.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Thomas Reiss » Do 29. Jan 2009, 00:58

Immer wenn ich mir die "Geburt der Religion" vorstellen will, denke ich an eine Gruppe von Steinzeitmenschen, die sehr neugierig und wissbegierig zwei Anwesende - einen Geschichtenerzähler und einen Philosophen oder Wissenschaftler über die Sonne befragen. Der Geschichtenerzähler wird vielleicht das Bild von dem Streitwagen zeichnen, dessen sichtbares Rad die Sonne sei, und der Wagenlenker würde jeden Tag den gleichen Weg am Himmel zurücklegen. Der Philosoph oder Wissenschaftler dagegen würde nach dem damaligen Wissensstand sagen : "Ich weiss nicht, was dieser helle Fleck am Himmel ist". Das Publikum wird den Geschiochtenerzähler wahrscheinlich bejubeln und den Philosophen ausbuhen - soviel zum anfänglichen Erfolg der Religion und zur Wahrheit,
was ja eigentlich für uns Menschen nur Wahrhaftigkeit bedeuten kann.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon ganimed » Do 29. Jan 2009, 20:04

@Thomas Reiss: ein interessantes Szenario, das mich auf die Frage bringt: wieso gibt es heute noch Religionen? Wo doch jeder inzwischen weiß (oder sagen wir wissen könnte), was die Sonne ist.

Ich würde die Geschichte abändern. Vor gar nicht so langer Zeit standen zwei Anwesende - ein Pfarrer und ein Physiker - vor einer Menschenhorde. Der Pfarrer erzählte von einem liebenden, gütigen Vater, der jedem Menschen alle Schuld vergibt, ihn nach dem Tod erlöst und zu sich holt, und dass man diesem Vater absolut vertrauen kann, egal was der Physiker gleich sagen würde. Dann sagte der Physiker: "Das stimmt alles nicht. Mit dem Tod ist alles zu Ende. Es hat alles keinen besonderen Sinn. Man darf niemandem trauen. Der Himmel besteht praktisch nur aus Vakuum, also aus nichts. Und..." und da lächelte er überlegen . "...das alles ist die reine Wahrheit!"
"Hm, die Wahrheit, hui, nicht schlecht", raunte die Horde da. Aber die meisten meinten dann doch: "trotzdem, ich nehme lieber das andere Paket."

Ich könnte mir vorstellen, dass auch in Zukunft die Wahrheit nicht einen solch hohen Stellenwert haben wird, dass man dafür alle Vorzüge des anderen Paketes sausen ließe. Ein Teil der Menschen gibt der Wahrheit den Vorzug, derzeit etwa ein Viertel in Deutschland, wenn ich diese Spiegel-Umfrage richtig in Erinnerung habe. Vielleicht werden es ja auch noch ein paar mehr mit der Zeit. Aber dass Atheisten wirklich die Mehrheit werden und die Religionen wirklich aussterben, das sehe ich nicht so recht.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon Pfeifer » Do 29. Jan 2009, 20:32

ganimed hat geschrieben:Aber dass Atheisten wirklich die Mehrheit werden und die Religionen wirklich aussterben, das sehe ich nicht so recht.


Ich versteh den Gegensatz zwischen Atheismus einerseits und Religion andererseits nicht. Religion ist doch nicht zwangsläufig an einen Gott gebunden.
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Re: Vorteil kontra Wahrheit

Beitragvon xander1 » Fr 30. Jan 2009, 13:47

@ganimed: Erzähl das mal Harald Lesch. Der wird lachen. Das ist ein Fernsehphysiker, der an Gott glaubt.
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