Die Lehre des Materialismus

Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Myron » Sa 6. Dez 2008, 19:21

Ich bin zufällig auf ein altes Buch gestoßen, worin die Lehren des Christentums den Lehren des Materialismus direkt gegenübergestellt werden, was sehr hilfreich ist:

Löffler, Karl. Christentum und Materialismus, Geist und Stoff: Eine Darstellung der Naturforschung und des Kulturlebens in ihren neuesten Ergebnissen. 3. Aufl. Leipzig, 1866.
(Download bei GoogleBooks (pdf): http://tinyurl.com/6qwb39)

Der Autor wendet sich vor allem gegen die Hauptvertreter des Materialismus im deutschen "Materialismus-Streit" in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die heutzutage leider kaum noch bekannt sind:

* Jakob Moleschott: "Kreislauf des Lebens" (GoogleBooks: http://tinyurl.com/6cqf5n)
* Ludwig Büchner (Bruder des Schriftstellers Georg Büchner: "Dantons Tod"): "Kraft und Stoff" (GoogleBooks: http://tinyurl.com/5jz7mg)
* Carl Vogt: "Köhlerglaube und Wissenschaft" (GoogleBooks: http://tinyurl.com/65usqo)
* Heinrich Czolbe: "Neue Darstellung des Sensualismus" (GoogleBooks: http://tinyurl.com/6kyqq8)


Hier ein Auszug aus Löfflers Buch, den Materialismus betreffend:

"LEHRE DES MATERIALISMUS:
"Es existiert wirklich nichts als der sinnliche Stoff. Das Weltall ist eine zufällige Zusammenwirkung einer unendlichen Menge von ewigen Atomen, welche sich bewusst- und willenlos nach ihrer Naturnotwendigkeit bewegen.
'Die Erscheinungsweisen der Dinge sind nichts weiter als Produkte der verschiedenen und mannigfaltigen, zufälligen und notwendigen Kombinationen stofflicher Bewegungen untereinander' (Büchner, Kraft und Stoff). Die Materie ist unerschaffbar, wie sie unzerstörbar ist (Vogt). Die anscheinende Zweckmäßigkeit der Natur ist nichts anderes als die notwendige Folge des Begegnens natürlicher Stoffe und Kräfte. Es hängt von einem Zufall ab, ob die Naturwesen ihr Dasein erreichen oder nicht. Der Einheits- und Zweckmäßigkeitsbegriff ist eine abstrakte, in die Natur hineingetragene Einbildung. Es herrscht der Zufall, welcher Elend und Freude schafft (Vogt). Die Bewegung der grundstofflichen Verbindung und Trennung, Aufnahme und Ausscheidung: das ist der Inbegriff aller Tätigkeiten auf Erden (Moleschotts 'Kreislauf').
Die Materie allein ist göttlich, ewig, unendlich, unerschaffen und unvernichtbar—der Urquell alles Seins—; sie ist alles in allem: Anfang, Ende, Schöpfer und Geschaffenes des bewusstlosen Alls. Natur, Welt, Geist, Gott liegen handgreiflich vor uns in Kraft und Stoff.—Einen Weltenschöpfer gibt es nicht, da er weder vor noch nach dem Schöpfungsakt, noch auch momentan existierend gedacht werden kann.—Die Welt ist nicht erschaffen, sondern in ihren Urstoffen anfangslos. Die Natur hat alles aus sich selbst hervorgebracht (Büchner).—Rein nur durch physikalische und chemische Kräfte, ohne organische Substanz, ohne bewussten Schöpfer, ja ohne irgendeine leitende Idee entstand das Weltall (Vogt). Unser ganzes Leben, das Leben sämtlicher Organismen, das ganze tellurische und kosmische Leben, ist auf den Grundsatz gebaut, dass die Materie ewig dieselbe bleibt, ihre Form aber wechselt (Vogt). Das Weltall ist nicht geschaffen, sondern im Verlauf undenkbarer Äonen durch Selbstentwicklung der ewigen, bewusstlosen Stoffatome, teils zufällig, teils durch die ewige Naturnotwendigkeit entstanden. Die schaffende Allmacht ist die Verwandtschaft des Stoffs (Moleschott). Dagegen behauptet Czolbe: 'Das ganze Weltall ist ewig nach Stoff, Form und Bewegung. Es kann wesentlich nichts entstehen und nichts untergehen. Die mechanische Weltordnung ist ewig und unveränderlich.'
Die Natur kennt weder Absichten noch Zwecke. Unser reflektierender Verstand ist die einzige Ursache der scheinbaren Zweckmäßigkeit, welche weiter nichts ist als die notwendige Folge des Begegnens natürlicher Stoffe und Kräfte (Büchner).—Der Naturlauf ist nur das Spiel und Walten natürlicher Kräfte. Die Unabänderlichkeit der Naturgesetze ist ganz unabhängig von einer höheren Vernunft, bald anscheinend zweckmäßig, dann aber gänzlich blind und ein Widerspruch mit allen Gesetzen der Moral und Vernunft (Moleschott). Die Naturgesetze sind rohe, unbeugsame Gewalten, welche weder Moral noch Gemütlichkeit kennen (Vogt). Der Stoff baut die Welt durch die Wechselwirkung seiner Atome plan- und absichtslos. Alles, was ist und wird, ist nichts anderes als selbsttätige Bewegung des Stoffes. Das natürliche Wunder des Kreislaufs liegt in der Ewigkeit des Stoffes. Es gibt keine göttliche Weltregierung (Moleschott).
Es existiert kein Gott. Aller Gottesglaube ist nichts anderes als ein Erzeugnis der menschlichen Einbildung.—'Was man Gott nennt, ist die Selbstobjektivierung und Selbstidealisierung des Menschen, d.i. der sich selbst anschauende Mensch. Der außer- und übermenschliche Gott ist nichts als das außer- und übermenschliche Selbst—das seinen Schranken entrückte, über sein objektives Wesen gestellte subjektive Wesen des Menschen'—eine leere Einbildung (Feuerbach). Die höchste Idee ist der Kreislauf des Lebens, das ist das ewige Kreisen des Stoffes durch die verschiedenen Gestalten der Natur, von der Erde bis herauf zum Menschen und wieder zur Erde zurück (Moleschott, Kreislauf). Jedes Atom trägt den Urgrund seines Schaffens, seiner Kraft und Bewegung von Ewigkeit her in sich selbst. Die Bewegung des Stoffes folgt allein den Gesetzen, welche in ihm selber tätig sind, und die Erscheinungsweisen der Dinge sind nichts weiter als Produkte der verschiedenen zufälligen oder notwendigen Kombinationen stofflicher Bewegungen untereinander (Büchner). Der heilige Geist ist unsere Vernunft, unser Verstand (Büchner nach Thomas Münzer).
(...) Der Mensch ist nach seinem körperlichen, wie nach seinem geistigen Wesen, ein rein chemisches Produkt der Materie (Büchner, Kraft und Stoff). Sein Wesen ist die Summe der Zusammenwirkung der Atome seines Leibes mit der Außenwelt—ein reines Erzeugnis des körperlichen Stoffwechsels, der sich planlos von selbst in Anregung setzt und stetig bis zur Auflösung bewegt. Unsinn ist es zu glauben, dass eine höhere Macht dem Fötus Seele und Geist einbläst (Büchner). Der Bergmann, der einst nach phosphorsaurem Kalk gräbt, sucht mehr als Gold; er gräbt nach Weizen, nach Menschen. Er hebt den Schatz des Geistes (denn ohne Phosphor kein Gedanke), den der Bauer in Umlauf setzt, dem Rad der Zeitläufe keine echte Triebkraft erteilend (Moleschott, Kreislauf). Der Geist ist nichts als die Tätigkeit des Hirns. Das sinnliche Dasein des Menschen ist sein alleiniges Leben. Was der Mensch isst, das ist er. Wo kein Fleisch ist, da ist kein Geist.—Der Geist ist ein ideelles Produkt, ohne jede reale Basis, eine Kraftwirkung einer gewissen Kombination materieller Stoffe, ähnlich wie das Fortrücken eines Stundenzeigers an einem mechanischen Uhrwerk (Büchner). Die Seele ist eine zeitweilige Eigenschaft des Hirns, ein Ergebnis seiner Entwicklung; sie hat keine selbstständige Existenz. Die Denktätigkeit ist abhängig von der Zusammenwürfelung der Hirnsubstanz; der Gedanke eine Bewegung, Umsetzung, Absonderung des Hirnstoffs, ähnlich wie die Bewegung eines Muskels und die Absonderung einer Drüse. Alles Denken, Wollen und Tun des Menschen ist nichts anderes als das Ergebnis der physischen Grundlage der jeweiligen Ernährung und Umsetzung der Hirnsubstanz (Vogt).—Die Seelentätigkeit ist ein Produkt einer eigentümlichen Zusammensetzung der Materie—ein Effekt vieler Stoffe, der zur Einheit erwachsene Komplex vieler Kräfte (Büchner). Der Leib ist ein Ergebnis der chemischen und physikalischen Zusammenwirkung zufällig verbundener Stoffatome. Er ist zwar ein mit den feinsten Organen ausgerüstetes Ganzes, welches man sich nicht vollkommener in seiner Art denken kann(!), aber diese Zweckmäßigkeit ist durch Zufall entstanden (Büchner). Weil die Stoffe in dieser bestimmten Form des Hirns zusammengewürfelt sind, müssen sie notwendig denken, ebenso wie die schwingende Saite notwendig tönt. Summa: Wie alles Wirkliche, so ist auch der Mensch seinem Wesen nach nichts anderes als eine von den Naturstoffen zufällig erzeugte empfindende, vorstellende, denkende Maschine. Der Gegensatz von Geist und Natur existiert bloß in der Einbildung. Die Geisteskräfte sind ewige Eigenschaften des Stoffes; sämtliche Geistestätigkeiten sind nichts anderes als Hirntätigkeiten. Die verwickelte organische Komplikation kraftgebender Stoffe im Tierleib ist eine Gesamtsumme von Wirkungen, welche zu einer Einheit verbunden, von uns Geist, Seele, Gedanke genannt wird. 'Der Mensch ist nichts weiter als ein aus den verschiedenartigsten Atomen in künstlicher Form mechanisch zusammengefügtes Mosaikbild.' (Czolbe).
Wie die ganze Welt, so hat auch der Mensch in Wirklichkeit keinen Zweck des Daseins in sich selbst.—Weder in den ewigen Atomen noch in der Notwendigkeit, noch im Zufall liegt eine Zweckvorstellung. Es liegt vielmehr in der Natur alles Entstehenden, dass es mit Notwendigkeit wieder zugrunde gehe. Die Wanderungen und Wandlungen, welche der Stoff im Sein des Alls durchläuft, sind ohne Ziel und Ende. Auflösung und Zeugung, Zerfall und Neugestaltung reichen sich allerorten in einer ewigen Kette die Hand. In dem Brot, das wir essen, in der Luft, die wir atmen, ziehen wir den Stoff an uns, der die Leiber unserer Vorfahren vor tausend und tausend Jahren gebildet hat. Diese Wandlung der Grundstoffe, deren Menge und Qualität an sich stets dieselbe und für alle Zeiten unveränderlich bleibt, das ist das Leben der Welt. Ob die Menschheit wieder zurücksinken wird in ihr Nichts, wer mag das wissen? (Büchner) Der Mensch ist ein verschwindendes Erzeugnis im Kreislauf des Lebens. Er ist die Summe aller stofflichen Zusammenwirkungen, die seinen Leib erzeugen. Sein Wille ist eine notwendige Folge dieser Ursachen, gebunden an das Naturgesetz wie die Pflanze an ihren Boden. Sein Bewusstsein ist nichts als eine Eigenschaft des Stoffes; es besteht aus den stofflichen Bewegungen, die im Gehirn als Empfindung wahrgenommen werden. Das Bewusstsein der Mitgliedschaft im ewigen Kreislauf der Natur ist die höchst, beglückendste Weisheit, zu welcher sich der Mensch erheben kann. Je klarer wir uns bewusst sind, dass wir durch richtige Paarung von Kohlensäure, Ammoniak und Salzen von Dammsäure und Wasser an der höchsten Entwicklung der Menschen arbeiten, desto mehr wird auch das Ringen und Schaffen veredelt, mit dem wir das Rollen der Elemente auf dem kürzesten Wege innerhalb des Kreislaufs zu bannen suchen (Moleschott, Kreislauf des Lebens).
(...) Zwischen dem Menschen und dem Tier besteht kein wesentlicher Unterschied. Der Mensch ist nur ein glücklich organisiertes Tier.
(...) Das geistige Leben des Individuums wird mit dem Tode des Leibes absolut, vollständig und für ewig vernichtet. Der Geist ist nichts, sobald sich der Leib in seine Atome auflöst. Die Materie ist allein ewig. Der Mensch stirbt mit Auflösung seines leiblichen Substrates absolut auf Nimmerwiederkehr. Der leibliche Tod ist Vernichtung seines ganzen Wesens und Lebens. Die Idee des ewigen Lebens, der Gedanke des Nichtsterbenkönnens ist der abschreckendste, den die Phantasie ersinnen konnte, unendlich abschreckender und das innerste Gefühl unendlich mehr abstoßend als der Gedanke an eine ewige Vernichtung (Büchner). Der einzelne Mensch ist ein verschwimmender, wenn auch notwendiger Teil des Ganze, der sich wieder in das Ganze auflösen muss; das ist die erhabene Schöpfung, die nichts veralten, nichts vermodern lässt, dass Luft und Pflanzen, Tiere und Menschen sich überall die Hände reichen, sich immerwährend reinigen, verjüngen, entwickeln, veredeln, dass jedes Einzelwesen nur der Gattung zum Opfer fällt; dass der Tod nichts ist als die Unsterblichkeit des Kreislaufs (Moleschott). Eine selbstständige Existenz und eine individuelle Unsterblichkeit der Seele gibt es nicht. Die Seele ist ein Produkt der Entwicklung des Gehirns, wie die Muskeltätigkeit ein Produkt der Muskelentwicklung, die Absonderung ein Produkt der Drüsenentwicklung ist.—Die Seele ist kein materielles, vom Körper trennbares Prinzip, sondern nur ein Kollektivname für verschiedene Funktionen, die dem Zentralnervensystem, dem Hirn, ausschließlich zukommen. Stirbt der Körper, so hat damit auch die Seele ein vollständiges Ende (Vogt). Mirabeau sagte auf seinem Sterbebett: 'Ich gehe in das Nichts!'—Danton, als man ihm vor dem Revolutionstribunal nach Stand und Wohnung fragte, rief aus: 'Meine Wohnung wird bald das Nichts sein.'"

"SUMMA DES MATERIALISTISCHEN DOGMAS:
Fassen wir die Glaubenslehren, welche der neueste Materialismus für das 'Ergebnis aller Wissenschaftsforschung', als die Summe aller Weisheit ausgibt, in gedrängter Kürze und Übersichtlichkeit zusammen, so kann man sich in der Tat des Staunens kaum enthalten, dass Vernunftwesen in solche Widersprüche mit Gott, Welt und der gesunden Vernunft verfallen können.
Die Heroen des Materialismus bekennen sich allen Ernstes zu dem Glauben an die Schöpferkraft der uranfänglich blinden Materie, zu dem vernunftlosen Mechanismus des Weltalls, und verkünden dieses ihr Glaubensbekenntnis mit einer Dreistigkeit, als hätten sie den Stein der Weisen endlich entdeckt, ja hie und da mit einem Fanatismus, der die Miene der Märtyrer annimmt. Es gibt für den Materialisten nur körperliche Substanzen; die Materie ist ihm alles in allem. Er leugnet unbedingt alles Übersinnliche im Gebiet der menschlichen Erkenntnis (Büchner), jede leitende Idee in der Schöpfung der Welt (Vogt), ja selbst den Sinn für die Wahrnehmung des Geistigen—die Vernunft (Moleschott). Der Mensch ist die Summe seiner leiblichen Sinne; er weiß nichts, als was durch das Tor seiner Sinne eingeht. Was nicht sinnlich wahrnehmbar ist, das ist nicht vorhanden. Auf diese Grundvoraussetzungen stützen sich alle Lehren, Schlüsse und Folgerungen der materialistischen Anschauung. 'Stoff und Kraft, Stoffkombination, Stoffwechsel, Kreislauf, Zufall, Notwendigkeit': das sind die 'Marmorsäulen der Wahrheit', das sind die stummen und blinden Götzen, die man anstaunt. In diese dürren Begriffskästen muss die ganze unendlich reiche Lebensfülle des Weltalls hineinpassen; das sind die einzigen Faktoren alles physischen und geistigen Lebens, aller Kunst, Wissenschaft, Religion und Sittlichkeit!
'Es gibt keinen persönlichen lebendigen Gott!' Statt dieser einen ewigen, vernünftigen Wesensursache des Alls glaubt der Materialist an Myriaden Götzen, an zahllose, vernunftlose, an sich selbst tote Automaten, die er Atome nennt, die durch ihre teils zufällige, teil notwendige Kombination alles Leben schaffen; die aus der Vielheit die Einheit erzeugen sollen, aus dem Zufall die Zweckmäßigkeit, aus der Unvernunft die Vernunft, aus der Materie den Geist, aus dem geistigen Nichts das geistige Etwas, aus dem sinnlichem Stoff den Sinn, aus der Bewusstlosigkeit das Denken, aus dem Chaos der Unordnung den mathematischen Verstand, der die Sternensysteme ordnet, aus dem Hirnstoff den Geist, der sie berechnet—kurz aus dem Tod das Leben!—Überall, wo die Tatsachen des geistigen Lebens durchaus nicht wegzuleugnen sind, schreibt der Materialist den Atomen der Materie, trotzdem, dass er 'nichts weiß, als was durch das Tor der Sinne eingeht', geistige, göttliche Eigenschaften zu: Ewigkeit, Unendlichkeit, Schöpferkraft, welche nicht bloß die Formen der Weltdinge, sondern sogar das Denken, die Vernunft, das Selbstbewusstsein, den Willen erzeugt. (Als ob die Idee der Ewigkeit und Absolutheit auch durch das Tor der leiblichen Sinne eingehen könnte!)—So kommt ihm das Göttliche, welches er zur Vordertür hinausjagt, zur Hintertür doch immer wieder herein, freilich nur ein Zerrbild statt des Urbildes.
Herr Büchner, der z.B. in der 3. Aufl. von Kraft und Stoff im Vergleich zur ersten schon bedeutend bescheidener auftritt, indem er überall dem Unsinn der ersten Auflage die Spitze abzubrechen sucht, will zwar 'das Dasein der Idee' nicht mehr leugnen und gibt zu, dass sie ihrem Wesen nach 'immateriell' sei; gleichwohl aber soll sie einzig und allein aus der Materie entspringen. Er schließt vom Naturprozess 'selbstverständlich jedes schaffende, bildende Prinzip' aus. 'Die organischen Gattungstypen sind ein teils zufälliges, teils notwendiges Produkt aus der allmählichen, langsamen, unbewussten Arbeit der Natur selber.' Deutlicher kann es doch nicht gesagt werden, dass aus der Bewusstlosigkeit, aus dem Tod das Leben entstehe.—
'Die Natur mit ihren physikalischen, mechanischen und chemischen Kräften, ist Bildnerin des Organismus. Die Lebensorganismen sind nichts anderes als komplizierte Maschinen. Das Atmen ist eine Kohlenverbrennung, das Verdauen eine Gärung, die Empfindung ein elektrisches Spiel der Nervenfasern.'
Nach Myriaden vergeblicher Versuche, nach undenklichen Äonen, soll aus unendlich vielen Möglichkeiten, aus der unendlichen Masse der ewigen Stoffatome endlich durch einen glücklichen Zufall die jetzige Weltform als eine unter den unendlich vielen Möglichkeiten entstanden sein! Sie ist ein einheitlicher, in seinen feinsten Teilen ineinander greifender Mechanismus—ein Perpetuum mobile einziger Art, ein 'Meisterwerk des schöpferischen Gedankens', zusammengesetzt aus unendlich vielen, an sich bewusstlosen Atomen, die keine Spur von Zweckvorstellung haben, die aber gleichwohl die jetzige Weltordnung in ihrer äußersten mathematischen Genauigkeit, teils zufällig, teils notwendig erzeugten!—Was die Annahme eines solchen Schöpfungswunders der Materie für Anspruch auf Wissenschaftlichkeit habe, das wird sich deutlich aus den folgenden Abschnitten ergeben.
Der Materialismus spricht dem Menschen gerade das ab, was die Blüte seines geistigen Lebens bedingt, und stellt ihn wesentlich auf die Stufe der Tierheit. Die Wesenhaftigkeit, Gottesverwandtschaft und Persönlichkeit des Menschengeistes ist ihm ein leerer Wahn; der Sinn für das Göttliche, für die sittliche Weltordnung, das Abhängigkeitsgefühl vom höchsten Wesen, die Freiheit in Gott, ist Selbsttäuschung. Das Selbstbewusstsein, der Wille, wie alles Denken, ist Erzeugnis des Hirnstoffes. Die Materie mittels des phosphorsauren Hirnfettes sondert nach Vogt Gedanken, Begriffe, Willenstätigkeiten ab wie die Tiere den Urin. Ohne Phosphor gibt es nach Moleschott keinen Gedanken. Der Mensch ist ein Naturerzeugnis, eine Potenzierung des Affengeschlechts, eine denkende Maschine, die für ewig zu wirken aufhört, sobald die Teile des stofflichen Lebens auseinanderfallen. Obgleich nach Büchner zur Begründung der materialistischen Hypothese vieles erst noch zu entdecken ist, so steht immerhin für den erleuchteten Stoffgläubigen so viel als 'Wissenschaftsergebnis' fest, dass das Walten des einen lebendigen Gottes, des Schöpfers, Regierers und Gesetzgebers des Weltalls, unter die abgeschmackten Märchen gehöre, dass das Triebwerk des Weltalls ganz von selbst, ganz von ungefähr, ohne Vernunft, ohne Plan, Zweck und Ziel entstanden (oder nach Czolbe, gar nie entstanden) sei, dass das Wesen des persönlichen Ich nur auf einer glücklichen Kombination des Hirnstoffs beruhe und mit dem Tode für immer vernichtet werde, dass die sittliche Freiheit und Verantwortlichkeit nur noch als irrtum beschränkter Köpfe gelten können.—Das ist das Entwicklungsstadium des neuesten Materialismus."
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon folgsam » So 7. Dez 2008, 05:39

Vielen Dank, Myron!

Soviel hat sich bei den 'Argumenten' der Gegenseite ja nicht getan (und auch nicht wirklich substantielles bei den Materialisten).


Und was schreibt er zum Idealismus?
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Myron » So 7. Dez 2008, 06:56

folgsam hat geschrieben:Soviel hat sich bei den 'Argumenten' der Gegenseite ja nicht getan (und auch nicht wirklich substantielles bei den Materialisten).


Der Witz ist, dass die ganze ideologische Auseinandersetzung in Deutschland (und darüber hinaus in ganz Europa), die das Thema Materialismus/Naturalismus versus Theismus/Supernaturalismus betrifft, im vorletzten Jahrhundert schon einmal öffentlich ausgetragen wurde.
Insbesondere Ludwig Büchners "Kraft und Stoff" schlug zu seiner Zeit ebenso wie eine Bombe ein wie Dawkins' "Gotteswahn".

"'Kraft und Stoff' war mit 21 deutschen Auflagen innerhalb von nur fünfzig Jahren und zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen ein für seine Zeit ungewöhnlich erfolgreiches Buch mit Bestseller-Qualitäten, dessen Autor daraufhin allerdings schon 1855 die Lehrbefugnis in Tübingen entzogen wurde; er musste als praktischer Arzt nach Darmstadt zurückkehren."
(http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_B%C3%BCchner)

"Die popularphilosophische Abhandlung stellt das Hauptwerk des sog. naturwissenschaftlichen Materialismus dar. (...) Das Werk hatte zahlreiche Auflagen und seine naturphilosophischen Thesen fanden Eingang in das Denken weiter Bevölkerungskreise."

(Volpi, Franco u. Julian Nida-Rümelin, Hrsg. Lexikon der philosophischen Werke. Stuttgart: Kröner, 1988. S. 379)

Tja, damals setzte man noch seine ganze berufliche Karriere aufs Spiel, wenn man sich als Materialist/Naturalist outete.
Aber immerhin musste Büchner nicht mehr direkt um sein Leben fürchten wie noch La Mettrie und andere Materialisten/Naturalisten der vorherigen Generation.

Damals beeilten sich die Theisten, Anti-Büchner- bzw. Anti-Materialismus-Bücher zu schreiben und auf den Markt zu bringen.
Die gottlose "Materialistenbande" mit den Herren Büchner, Moleschott, Vogt und Czolbe an der Spitze war ihnen natürlich ein Gräuel, das es umgehend mit aller Entschiedenheit und Heftigkeit zu bekämpfen galt.
Denn schließlich hatten es jene Herrschaften gewagt, die "allerheiligsten Wahrheiten" zu leugnen.

Ein Zitat aus einem von mir "hervorgegoogelten" Buch (GoogleBooks ist übrigens klasse!):

"Wer nicht bloß leidendlich den einzelnen Zeitrichtungen folgt, sondern selbst denkend die Wahrheit sucht, dem wird kaum irgendeine Erscheinung unserer Zeit so bedeutend entgegentreten, so sehr die Aufmerksamkeit und das Nachdenken in Anspruch nehmen als das, was man schon gewohnt ist, den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaften zu nennen. Diese Lehre, wenn sie überhaupt diesen Namen verdient, greift so tief in die wichtigsten, ja heiligsten Überzeugungen der Menschheit ein, stellt in ihren Konsequenzen so vollständig die Grundlagen unseres sittlichen und religiösen Lebens in Frage, dass es keiner Entschuldigung bedarf, wenn man dieselben zum Gegenstand einer ernsten Prüfung macht und auch das größere Publikum auffordert, an dieser Prüfung teilzunehmen.
Kurz ausgesprochen lässt sich dieser Materialismus in die zwei Sätze zusammenfassen: 'Es gibt keinen Geist als selbstständige Substanz und keinen Gott als geistige außerweltliche Persönlichkeit."


(M. J. Schleiden: Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, sein Wesen und seine Geschichte. Leipig, 1863. Download: http://tinyurl.com/5jxpw6)


P.S.: Den Haupttext von Büchners "Kraft und Stoff" kann man hier in modernen Lettern downloaden: http://www.anthrowiki.info/ftp/biblioth ... _Stoff.pdf
(Anmerkung: Die von den Materialisten/Naturalisten des 19. Jahrhunderts vertretene mechanistische Physik ist aus heutiger Sicht freilich veraltet und weitgehend überholt. Das kann man ihnen aber nachträglich nicht zum Vorwurf machen, da sie sich durchaus an den besten physikalischen Erkenntnissen ihrer Zeit orientierten, so wie wir heutigen Materialisten/Naturalisten uns am Stand der Physik im Jahre 2008 orientieren. Dafür, dass die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik im 19. Jahrhundert noch nicht existierten, kann man unsere ideologischen Vorfahren wohl kaum verantwortlich machen. Man möge ihnen also manche Aussagen nachsehen, die aus heutiger Sicht primitiv anmuten oder gar falsch sind!)
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon folgsam » So 7. Dez 2008, 07:08

Hoffen wir, dass den Bewegungen dieser Generation mehr nachhaltigkeit beschieden ist.


Ich denke, es könnte glücken.
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Myron » So 7. Dez 2008, 07:45

folgsam hat geschrieben:Hoffen wir, dass den Bewegungen dieser Generation mehr nachhaltigkeit beschieden ist.


Mir geht es darum, dass wir Naturalisten/Materialisten wieder ein geschichtliches Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir Teil einer großen, 2500 Jahre währenden geschichtlichen Bewegung sind, die im alten Griechenland ihren Anfang genommen hat und älter ist als das Christentum oder der Islam:

"Der Materialismus ist so alt als die Philosophie, aber nicht älter."

(Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus)

"Die Welt besteht aus Atomen."—Mit diesem Satz beginnt die Geschichte des Materialismus.
(Siehe: http://plato.stanford.edu/entries/atomism-ancient)

P.S.:
Man verzeihe mir meine saloppe praktische Gleichsetzung von Naturalismus und Materialismus. Ich weiß, dass man unendlich lange darüber streiten kann, inwieweit der Naturalismus materialistisch ist oder nicht bzw. sein soll oder nicht.

"Naturalism has always been associated with two related projects, both of which have roots in antiquity. The first project is that of trying to conduct all of one's philosophical theorizing in accord with the methods and results of the natural sciences. The second is that of trying to understand the world as much as possible in terms compatible with materialist assumptions."

"Der Naturalismus ist immer mit zwei verwandten Unternehmungen verbunden gewesen, welche beide in der Antike wurzeln. Die erste Unternehmung besteht in dem Bestreben, alles philosophische Theoretisieren im Einklang mit den Verfahren und den Ergebnissen der Naturwissenschaften zu betreiben. Die zweite besteht in dem Bestreben, die Welt so weit wie möglich in einer Weise aufzufassen, die mit materialistischen Annahmen vereinbar ist."
[© meine Übers.]

(Rea, Michael C. World Without Design: The Ontological Consequences of Naturalism. Oxford: Oxford University Press, 2002. p. 22+)

Ich denke, Rea hat völlig recht: Der Naturalismus ist traditionellerweise sowohl materialistisch als szientistisch ausgerichtet.
(Leider trägt die Bright'sche Auffassung des Naturalismus diesem Umstand nicht gebührend Rechnung. Brights Central gibt zwar die Bezeichnung "Naturalismus" vor, aber überlässt es den einzelnen Brights, diese auszudeuten. Böse ausgedrückt, könnte man sagen, dass die Brights den Naturalismus vertreten, ohne sich damit historisch oder systematisch näher zu beschäftigen.)
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Myron » So 7. Dez 2008, 08:27

Myron hat geschrieben:Mir geht es darum, dass wir Naturalisten/Materialisten wieder ein geschichtliches Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir Teil einer großen, 2500 Jahre währenden geschichtlichen Bewegung sind, die im alten Griechenland ihren Anfang genommen hat und älter ist als das Christentum oder der Islams.


Kurzum: Es ist in meinen Augen wünschenswert, dass die alten Atheisten/Naturalisten/Materialisten vor lauter Begeisterung über die neuen Atheisten/Naturalisten/Materialisten nicht vergessen werden.
Ohne sie gäbe es keine Brights, und wir sollten uns ein Beispiel an dem Mut jener Männer nehmen, die es aus Idealismus wagten, ihre Stimme in Zeiten zu erheben, in denen man als bekennender Atheist/Naturalist/Materialist wirklich gefährlich lebte (so wie heute wieder, wenn man öffentlich als Islamkritiker auftritt).
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon gerhard » So 7. Dez 2008, 08:38

folgsam hat geschrieben:Hoffen wir, dass den Bewegungen dieser Generation mehr nachhaltigkeit beschieden ist.


Bedarf es dazu neben der Auswertung weiterführenden Wissen um die natürliche Weltbeschreibung
und einer Aufkärung auf der Seite der sog. "Glaubensvorstellungen" nicht auch neuer EIN-sicht?

Auch die völlige Trennung von Glauben und Wissen, die außerhalb heutigen Kreationismus die allgemeine Theologie bestimmt, hat uns nicht wirklich weiter gebracht.

Um ein gegeneitig "sinn"loses weiter so zu vermeiden, ist uns weiteres Wissen gegeben:

-Über den alten Materialismus hinaus erkennen wir in der evolutionsbiologischen Beschreibung allen Lebens eine Kreativität und Intelligenz, die "dem kosmischen Geschehen selbst" innewohnt. Diesem kreativen Geschehen wird oft ein ganz natürlicher "Sinn" eine Logik zugeschrieben. Die evolutionsbiologische Beschreibung ist somit zu einer vernünftigen einheitlichen All-Erklärung von Werden, Sein und Sinn geworden.

-Über den vor-gesetzten Monotheismus, Christus hinaus ist auch in Sachen Kultur Klarheit gewachsen. Wir wissen, dass es am Anfang nicht um geheimnisvoll-wundersame Konstrukteuere ging und keine schwärmenden Prediger waren, sondern der bereits nach antiker Wissenschaft sinnvoll-vernünfige Fluss allen Lebens (der Logos) als "Wort" eines selbst Unsagbaren verstanden wurde.

Während vormals
vielfältig geheimnisvolle Göttergestalten alter Mythen für den Weltbau zu ständig,
griechische Bildung, beispielsweise Stoa, die natürliche Weltordnung (Logos) selbst vergötterte,
hieraus auch höhre Lebensbestimmung und Norm ableitete,
oder Epikur den Sinn hedonisisch nur in eigener Lustbefriedigung suchte...

wurde in einer Reform (vom Mythos zum Logos) die monistische nachgewiesene sinnvolle Logik im Fluss allen natürlichen Lebens, anknüpfend an den Anfang des Monotheismus, als Sinngebung bzw. Wort dessen verstanden, über den es sonst nichts zu sagen gab. Auch die Lust, der Lebenstrieb bzw. eigene Sinn diente damit einer natürlich-kreativen=schöpferischen Sinngebung, Logik.

(Hieraus entstand nach Geistesauseinandersetzung mit alten Vorstellungen genau die Wende, die in der Geschichte des Mannes mit Sandalen und Bart verdichtet ist, auf kreative Weise, ankünpfend an bekannte Kultvorstellungen und Bilder der Welt vermittelt wurde.)

Wir bräuchten heute nur die weiterführende Naturlehre mit dem Kulturwissen zu verbinden und Weihnachten kann kommen:

Wo nicht im Kerzenschein alte Götter als ID aufgewärmt und in Gegenerschaft zum natürlichen Wissen gestellt werden,
sondern der natürliche-kreative Sinn allen Seins als zeitgemäße gemeinsame schöpferische Sinngebung wieder zur Welt kommt. Und mündig mit kultgeladener emotionaler Kraft in kreatives (u.A. ökologisches, nachhaltiges, weltökonomisches) Verhalten umgesetzt wird.

Bright Christmas


(Die Mission ist Philosophie: Suche nach dem gemeinsamen Sinn aller Materie und seine kulturgerechte Umsetzung. Denn der natürliche Sinn unserer Gene lässt sich zwar einfach beschreiben. Doch die Umsetzung ist, wie wir auch in der aktuellen Weltgeschichte sehen, so einfach gar nicht.)
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon ganimed » So 7. Dez 2008, 18:13

@myron: vielen Dank für diese umfangreiche Erhellung der historischen Dimension. Finde ich auch, dass man sich gar nicht oft genug klar machen kann, wie viele der heutigen Argumente früher alle schonmal da waren. Fast alles, was wir heute denken, haben andere vor uns auch schon gedacht.

Nur einer einzigen Textstelle von dir, der möchte ich Kontra geben. (Eigentlich völlig unausgewogen, diesen einen Satz jetzt herauszustellen, aber so ist das wohl mit solchen Meckereseln wie mir, wir achten immer nur auf das eine Haar in der Suppe):
Ohne sie gäbe es keine Brights, und wir sollten uns ein Beispiel an dem Mut jener Männer nehmen, die es aus Idealismus wagten, ihre Stimme in Zeiten zu erheben, in denen man als bekennender Atheist/Naturalist/Materialist wirklich gefährlich lebte (so wie heute wieder, wenn man öffentlich als Islamkritiker auftritt).

Ich störe mich an diesem Satz. Heldenverehrung von Idealisten? Nein danke.

Wenn jemand zu einer festen Überzeugung gekommen ist, dann kann er sie sicher auch äußern. Ich begrüße das im Nachhinein. Aber Mut ist kein Beispiel, dem man folgen sollte. Entweder man ist selber schon mutig, dann macht man es sowieso, oder man ist es nicht, und dann lässt man es besser. Wenn das Engagement viel Ärger ergibt, dann muss man sich das vorher gut überlegen. Jeder nach seiner Facon. Die einen sind eben sehr mutig (oder dumm oder leichtsinnig oder naiv oder lebensmüde oder was auch immer) und die anderen schweigen lieber. Ich ziehe aber vor jedem den Hut, der bereits vor hundert oder mehr Jahren Materialist war, egal ob laut oder leise. Bei der heutigen Sachlage und den verfügbaren Büchern und Einflüssen, ist das mittlerweile sicher keine so große Kunst mehr. Ich würde aber gerne denken, dass Materialismus eben keine Ideologie ist, zumindest es heute angesichts aller Belege und Hinweise nicht mehr ist. Sondern eine eher nüchterne, fast schon fatalistische Feststellung: "Och, schade, sieht so aus als gäbe es leider sonst nichts."
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Myron » So 7. Dez 2008, 21:46

Im Folgenden präsentiere ich die drei bekanntesten Definitionen des Materialismus/Physikalismus in der zeitgenössischen Analytischen Philosophie.
(Da dabei der Fachbegriff "Supervenienz" eine maßgebliche Rolle spielt, verweise ich zunächst auf einen Artikel dazu: http://plato.stanford.edu/entries/supervenience)

1.)

"We can define a positive fact in W as one that holds in every world that contains W as a proper part; a positive property is one that if instantiated in a world W, is also instantiated by the corresponding individual in all worlds that contain W as a proper part." (p. 40)

"[W]e can formulate precisely the widely held doctrine of materialism (or physicalism), which is generally taken to hold that everything in the world is physical, or that there is nothing over and above the physical, or that the physical facts in a certain sense exhaust all the facts about the world. In our language, materialism is true if all the positive facts about the world are globally logically supervenient on the physical facts. This captures the intuitive notion that if materialism is true, then once God fixed the physical facts about the world, all the facts were fixed.
(Or at least, all the positive facts were fixed. The restriction to positive facts is needed to ensure that worlds with extra ectoplasmic facts do not count against materialism in our world. Negative existential facts such as 'There are no angels' are not strictly logically supervenient on the physical, but their nonsupervenience is quite compatible with materialism. In a sense, to fix the negative facts, God had to do more than fix the physical facts; he also had to declare, 'That's all.' If we wanted, we could add a second-order 'That's all' fact to the supervenience base in the definition of materialism, in which case the positive-fact constraint could be removed.)
According to this definition, materialism is true if all the positive facts about our world are entailed by the physical facts. That is, materialism is true if for any logically possible world W that is physically indiscernible from our world, all the positive facts true of our world are true of W. This is equivalent in turn to the thesis that any world that is physically indiscernible from our world contains a copy of our world as a (proper or improper) part, which seems an intuitively correct definition."
(p. 41+)

"Wir können eine positive Tatsache in Welt W als eine definieren, die in jeder Welt besteht, die W als einen echten Teil enthält. Eine positive Eigenschaft ist eine, die, wenn sie in einer Welt W exemplifiziert ist, auch von dem entsprechenden Individuum in allen Welten exemplifiziert wird, die W als einen echten Teil enthalten.

Wir können die von vielen vertretene Lehre des Materialismus (oder Physikalismus) präzise formulieren, welche allgemein als darin bestehend aufgefasst wird, dass alles in der Welt physisch sei, oder dass es nichts über das Physische hinaus gebe, oder dass die physischen Tatsachen in einem gewissen Sinne alle Tatsachen der Welt ausmachen. Mit unseren Worten ausgedrückt, der Materialismus ist wahr, wenn alle positiven Tatsachen der Welt im globalen logischen Sinne auf den physischen Tatsachen supervenieren. Dies gibt die intuitive Vorstellung wieder, dass wenn der Materialismus wahr ist, alle [positiven] Tatsachen festgelegt sind, sobald Gott die physischen Tatsachen der Welt festgelegt hat.
Dieser Definition gemäß ist der Materialismus wahr, wenn sich alle positiven Tatsachen unserer Welt (logisch) aus den physischen Tatsachen ergeben. Das heißt, der Materialismus ist wahr, wenn für jede logisch mögliche Welt W, die von unserer Welt physisch ununterscheidbar ist, gilt, dass alle in unserer Welt bestehenden positiven Tatsachen auch in W bestehen. Dies entspricht wiederum der These, dass jede von der unsrigen Welt physisch ununterscheidbare Welt eine Kopie [ein Duplikat] unserer Welt als einen (echten oder unechten) Teil enthält, was eine intuitiv richtige Definition zu sein scheint."

[© meine Übers.]

(Chalmers, David J. The Conscious Mind: In Search of a Fundamental Theory. New York: Oxford University Press, 1996.)

2.)

"Physicalism is not simply the doctrine that the world has lots of physical nature. That is not controversial: nearly everyone agrees, for instance, that objects have mass, charge, and density, and that there are gravitational and electrical force fields. The physicalists' distinctive doctrine is, as they variously say it, that the world is entirely physical in nature, that it is nothing but, or nothing over and above, the physical world, and that a full inventory of the instantiated physical properties and relations would be a full inventory simpliciter." (p. 9)

"[P]hysicalism's distinctive claim is that the physical nature of our world determines the nature of our world without remainder, and we address that question via theses that say, in one form or another, that variation in the nature of a world independently of variation in the physical nature of that world is impossible. And to address this kind of question, we need to look at supervenience theses expressed in terms of quantifications over worlds, rather than in terms of quantifications over individuals in worlds. We need, that is, to look at global supervenience theses." (p. 10)

"[P]hysicalism's claim is not that every world that is a physical duplicate of our world is a duplicate simpliciter of our world. Physicalists typically grant that there is a possible world physically exactly like ours but which contains as an addition a lot of mental life sustained in non-material stuff. Physicalism is rather the claim that if you duplicate our world in all physical respects and stop right there, you duplicate it in all respects; it says that

(B) Any world which is a minimal physical duplicate of our world is a duplicate simpliciter of our world

where a minimal physical duplicate is what you get if you 'stop right there'. (Writers of recipes and construction manuals typically rely on an intuitive understanding of an implicitly included 'stop' clause in their recipes; otherwise they would face the impossible task of listing all the things you should not do.) Thus, a minimal physical duplicate of our world is a world that (a) is exactly like our world in every physical respect (instantiated property for instantiated property, law for law, relation for relation), and (b) contains nothing else in the sense of nothing more by way of kinds of particulars than it must to satisfy (a). Clause (b) is a 'no gratuitous additions' or 'stop' clause."
(pp. 12-3)

"Der Physikalismus ist nicht einfach die Lehre, dass die Welt in vielerlei Hinsicht physisch beschaffen ist. Das ist unstrittig. Fast jeder stimmt beispielsweise zu, dass Objekte Masse, Ladung und Dichte besitzen, und dass es Schwerkraftfelder sowie elektrische Kraftfelder gibt. Die charakteristische Lehre der Physikalisten ist, dass die Welt ihrem Wesen nach gänzlich physisch beschaffen ist, dass sie nichts als oder nichts über die physische Welt hinaus ist, und dass eine vollständige Bestandsliste der exemplifizierten physischen Eigenschaften und Beziehungen eine vollständige Bestandsliste schlechthin ist.

Die charakteristische Behauptung des Physikalismus ist, dass die physische Beschaffenheit unserer Welt die Beschaffenheit der Welt restlos bestimmt; und wir gehen diese Sache über Thesen an, die in der einen oder anderen Form besagen, dass von Veränderungen der physischen Beschaffenheit der Welt unabhängige Veränderungen der Beschaffenheit der Welt unmöglich sind. Und um diesen Punkt aufzugreifen, müssen wir den Blick auf Supervenienz-Thesen richten, in denen über Welten quantifiziert wird und nicht über Individuen in Welten. Das heißt, wie müssen uns globalen Supervenienz-Thesen zuwenden.

Die Behauptung des Physikalismus besteht nicht darin, dass jedes physische Duplikat unserer Welt schlechthin ein Duplikat unserer Welt ist. Die Physikalisten gestehen typischerweise zu, dass es eine mögliche Welt gibt, die der unsrigen physisch vollkommen gleicht, aber zusätzlich eine Menge geistiges Leben enthält, das in nichtmateriellem Zeug west. Der Physikalismus besteht vielmehr in der Behauptung, dass wenn man unsere Welt in jeder physischen Hinsicht dupliziert und es dabei belässt, man sie in jeder Hinsicht dupliziert. Er sagt:

(B) Jede Welt, die ein minimales physisches Duplikat unserer Welt ist, ist ein Duplikat unserer Welt schlechthin.

Dabei ist ein minimales physisches Duplikat dasjenige, das man erhält, wenn man 'es dabei belässt'.
(Die Verfasser von Rezepten und Bauanleitungen verlassen sich auf ein intuitives Erfassen dessen, dass ihre Rezepte implizit eine 'Stop'-Klausel beinhalten. Ansonsten stünden sie vor der unmöglichen Aufgabe, all dasjenige aufzulisten, das nicht getan werden soll.)
Ein minimales physisches Duplikat unserer Welt ist also eine Welt, die (a) unserer Welt in jeder physischen Hinsicht vollkommen gleicht (exemplifizierte Eigenschaft für exemplifizierte Eigenschaft, Gesetz für Gesetz, Beziehung für Beziehung), und (b) nichts anderes enthält, d.h. nichts weiter als diejenigen Arten und Einzeldinge, die sie enthalten muss, um (a) zu erfüllen. Satz (b) ist eine 'Keine unnötigen Zusätze'- oder 'Stop'-Klausel."

[© meine Übers.]

(Jackson, Frank. From Metaphysics to Ethics: A Defence of Conceptual Analysis. Oxford: Oxford University Press, 1998.)

3.)

"Let us say that a property is alien to a world iff (1) it is not instantiated by any inhabitant of that world, and (2) it is not analysable as a conjunction of, or as a structural property constructed out of, natural properties all of which are instantiated by inhabitants of that world. (...)

Now we can proceed at last to formulate Materialism as a restricted and contingent supervenience thesis:
Among worlds where no natural properties alien to our world are instantiated, no two differ without differing physically; any two such worlds that are exactly alike physically are duplicates."


"Sagen wir, dass eine Eigenschaft einer Welt genau dann fremd ist, wenn (1) sie von keinem Bewohner dieser Welt exemplifiziert wird, und (2) sie nicht als eine Konjunktion natürlicher Eigenschaften, die alle von Bewohnern dieser Welt exemplifiziert werden, oder als eine aus solchen konstruierte strukturelle Eigenschaft analysierbar ist. (...)

Nun können wir den letzten Schritt machen und den Materialismus als eine eingeschränkte und kontingente Supervenienz-These formulieren:
Unter Welten, wo keine natürlichen Eigenschaften exemplifiziert sind, die unserer Welt fremd sind, unterscheiden sich keine zwei, ohne sich physisch zu unterscheiden; zwei beliebige solche Welten, die sich physisch vollkommen gleichen, sind Duplikate."

[© meine Übers.]

(Lewis, David. "New Work for a Theory of Universals." in David Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, 8-55. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. p. 37)
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Myron » Mo 8. Dez 2008, 02:04

David Lewis bringt den Kern des Supervenienz-Materialismus/Physikalismus auf den Punkt:

"No difference without physical difference. Or, contraposing: physical duplicates are duplicates simpliciter. A fortiori, no mental difference without physical difference; physical duplicates are mental duplicates."

"Kein Unterschied ohne physischen Unterschied. Oder, kontrapositorisch ausgedrückt: Physische Duplikate sind Duplikate schlechthin. Erst recht gilt: kein psychischer Unterschied ohne physischen Unterschied; physische Duplikate sind psychische Duplikate."
[© meine Übers.]

(Lewis, David. "New Work for a Theory of Universals." in David Lewis, Papers in Metaphysics and Epistemology, 8-55. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. p. 34)

In meinen Augen ist das Nichtphysische aber nicht nur im Sinne des Supervenienzbegriffs vom Physischen abhängig:

Das Nichtphysische ist in unserer wirklichen Welt (mindestens) in dreierlei Hinsicht vom Physischen abhängig:

1) Das Nichtphysische ist vom Physischen daseinsabhängig, d.h. wenn es nichts Physisches gäbe, dann könnte es nichts Nichtphysisches geben. (Das heißt, wenn alles Physische aus der Welt entfernt werden würde, dann bliebe eine völlig leere Welt bzw. nichts übrig.)

2) Das Nichtphysische ist vom Physischen wandlungsabhängig, d.h. wenn sich die physischen Bedingungen nicht wandeln, dann können sich die nichtphysischen Bedingungen nicht wandeln. Mit anderen Worten, wenn sich die nichtphysischen Bedingungen wandeln, dann müssen sich auch die physischen Bedingungen wandeln. (= Supervenienz)

3) Das Nichtphysische ist vom Physischen entstehungsabhängig, d.h. das Nichtphysische kann nur aus dem Physischen entstehen. Das Physische ist die notwendige Entstehungsgrundlage alles Nichtphysischen.
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon stine » Di 9. Dez 2008, 15:18

Das klingt ja alles sehr logisch, lieber Myron und ich möchte das auch nicht in Frage stellen.
Zu denken gibt mir lediglich, dass wir die Welt so sehen, wie wir gelernt haben sie zu sehen. Und nichts anderes.
Unser ganzes Denken und die Logik dahinter, ist das Ergebnis des Weiterdenkens an der Stelle, die unsere Vordenker hinterlassen haben. Und das auch nur zum Teil. Zum Teil sind wir ja auch gar nicht entscheidend weiter gekommen.

Wenn nun bei aller materiellen Logik das tiefere Menschsein auf der Strecke bleibt, dann fehlt doch was?
Und was könnte das sein?
Versteh mich nicht falsch, ich möchte nicht auf etwas bestimmtes abzielen, sondern mir fehlt bei aller materiellen Logik das Gefühl ein Mensch zu sein. Und ob die Physe vor der Psyche kommt, ist auch nur ein logisches Konstrukt unserer begrenzten Denkweise.

Ein Naturalist setzt voraus, dass alles Sein materiellen Ursprungs ist. Ich sehe das noch nicht so klar.
Für mich könnte es durchaus auch sein, dass alles was ist, sein wollte.

LG stine
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon ganimed » Di 9. Dez 2008, 18:41

stine hat geschrieben:Ein Naturalist setzt voraus, dass alles Sein materiellen Ursprungs ist. Ich sehe das noch nicht so klar.
Für mich könnte es durchaus auch sein, dass alles was ist, sein wollte.

Den letzten Satz verstehe ich nicht. Alles was ist, wollte sein? Kannst du hier Beispiele nennen, was darunter zu verstehen ist?

Zurück zu deinen Zweifeln am materiellen Ursprung allen Seins. Nenne doch bitte mal ein paar Gegenbeispiel, ein einziges würde mir schon reichen. Was ist denn ohne von materiellem Ursprung zu sein?
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon stine » Di 9. Dez 2008, 19:24

Wenn ich das erklären könnte...
Meine Gedanken gehen in die Richtung, dass ein Wille den Weg macht. Eine Idee Form annimmt. Sich das Leben Bahn bricht. usw.
Wir wissen doch nicht, was der Ursprung des Lebens war. Wir vermuten, es waren Aminosäuren und ein Blitzschlag.
Vielleicht war es aber auch ganz anders...
Vielleicht war hier auf der Erde für das "Sein" der richtige Boden... :/

LG stine
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon ganimed » Di 9. Dez 2008, 19:42

Ich kann ja verstehen, dass purer Materialismus irgendwie ein wenig trocken und trostlos wirken kann. Aminosäuren und Blitzschlag, das war schon alles? Ach ja, Donner kam sicher auch dazu.

Ich war gespannt, was du an Gegenargumenten gegen Materialismus vorbringst. Mir scheint, du hast dieses ungute, unbestimmte Gefühl, dass der Materialismus irgendwie keine 'schöne' Erklärung ist. Aber deswegen diese Erklärung über Bord werfen? Und als Alternative gibt es nur unbegründete Hoffnungsschimmer? Vielleicht war ja auch alles viel schöner, viel menschlicher, viel spiritueller?

Da bleibe ich doch lieber bei der lapidaren Geschichte mit dem Aminoblitz. Ohne ein paar Fakten oder plausible Gegenargument sehe ich da weit und breit keine Alternative. Manchmal (oder meistens) täuscht einen die Intuition eben, gerade in solchen Fragen.
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Falk » Fr 12. Dez 2008, 12:26

ganimed hat geschrieben:Ach ja, Donner kam sicher auch dazu.

Dualist! :erschreckt: Donner gab es natürlich keinen, da niemand zugegen war, der einen Donner hätte hören können. Und ohne Hörer kein Geräusch, sondern nur Schall.

@stine
Du nennst bloß Metaphern, kannst aber selbst gar nicht sagen, was sie bedeuten. Das ist etwa so, wie wenn jemand verliebt ist, es aber nicht in Worte fassen kann. Davon aber auf eine Ebene "tieferen Menschseins" zu schließen, ist schlicht ein Fehlschluss. Nur weil uns Gefühle so vorkommen, wie sie uns vorkommen - so unbeschreiblich, unfassbar - heißt das nicht, dass sie nicht naturwissenschaftlich erklärt werden könnten. Du scheinst da gefangen in deinen dualistischen Intuitionen - davor solltest du dich aber selbst warnen, Intuitionen sind unzuverlässig. Nur weil einem irgendwas irgendwie vorkommt, muss es nicht so sein, egal wie "drückend", wie intensiv das Gefühl nun ist.

@Myron
Danke für die Links! Den Büchner werde ich mal anlesen!
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Pablo » Mi 17. Dez 2008, 20:44

Hallo an alle,

bin relativ neu hier und weder Atheist noch Gläubiger. Was für mich zählt, sind Fakten

ganimed hat geschrieben:Ich war gespannt, was du an Gegenargumenten gegen Materialismus vorbringst. Mir scheint, du hast dieses ungute, unbestimmte Gefühl, dass der Materialismus irgendwie keine 'schöne' Erklärung ist. Aber deswegen diese Erklärung über Bord werfen? Und als Alternative gibt es nur unbegründete Hoffnungsschimmer? Vielleicht war ja auch alles viel schöner, viel menschlicher, viel spiritueller?
Da bleibe ich doch lieber bei der lapidaren Geschichte mit dem Aminoblitz. Ohne ein paar Fakten oder plausible Gegenargument sehe ich da weit und breit keine Alternative. Manchmal (oder meistens) täuscht einen die Intuition eben, gerade in solchen Fragen.


Nun ja, an das Miller-Urey Expermiment kann man schon glauben, aber der Biochemiker ROBERT SHAPIRO hat sich in seinem Buch "Schöpfung und Zufall" einmal die Ergebnisse etwas genauer angesehen. Anschließend hat er der weit verbreiteten Meinung, dass hier die "Lebensbausteine" gefunden wurden, energisch wiedersprochen. Die einzelnen Zahlenwerte will ich mir jetzt sparen, sondern nur sein Resüme kurz wiedergeben:

"Wie wir gesehen haben, weist das Reaktionsprodukt keine Ähnlichkeiten mit dem tatsächlichen Gehalt eines Bakteriums auf, eines ausgeklügelten, oragnisierten Gebildes, das sich aus großen Molekülen zusammensetzt. Selbst wenn diese großen Moleküle in ihre Bestandteile zerlegt würden, würde sich das ergebende Gemisch von der Zusammensetzung her nur teilweise mit dem Millerischen Experiment überlappen. Das Miller-Urey-Produkt hat dagegen eine viel größere Ähnlichkeit mit einem natürlichen Gegenstand - einer Meteoritenart."

SHAPIRO ist mehr als gründlich vorgegangen und sein Ergebnisse sind sehr recht ernüchternd:

"Wir haben festgestellt, dass sich selbst replizierende Systeme, die zur Darwinschen Evolution in der Lage sind, offenbar zu komplex sind, als dass sie plötzlich aus einer Ursuppe hätte entstehen können. Das gilt sowohl für Nukleinsäure-Systeme als auch für hypothetische genetische Systeme auf Proteinbasis. Wir brauchen daher ein anderes evolutionäres Prinzip, das uns die Kluft zwischen Gemischen einfacher natürlicher Chemikalien und dem ersten wirksamen Replikator überbrücken hilft. Dieses Prinzip ist noch nicht im Einzelnen beschrieben oder vorgeführt worden, doch es wird vorausgesetzt und mit Namen wie »chemische Evolution« und »Selbstorganisation von Materie« benannt. Das Bestehen des Prinzips wird in der Philosophie des dialektischen Materialismus als selbstverständlich angenommen."

Die Wahrscheinlichkeiten für die zufällige Entstehung eines Replikators, bestehend aus lediglich 600 Atomen, hat er auch noch ausgerechnet.

"Wir wollen unseren Affen tippen lassen: »to be or not to be: that is the question«, was 40 Zeichen hat. Die Chance sinkt dann auf 1 zu 4540 oder etwa 1 zu 1066. Diese Zahl ist Zehnmillionenmahl größer als die der Versuche, die maximal für das zufällige Entstehen eines Replikators auf der Früherde zu Verfügung stehen. Da haben wir es. Wenn die Chance, dass durch Zufall ein Replikator in einer Ursuppe entsteht, geringer ist als die, zufällig auf einer Schreibmaschine »to be or not to be: that is the question« zu tippen, vergessen wir das Ganze am besten. Der Replikator hätte etwa 600 Atome. Die Chance, dass Charlie (der Affe) richtig eine Passage von 600 Zeichen tippt (etwa doppelt soviel wie dieser Abschnitt), ist 1 zu 10 992." (ROBERT SHAPIRO)

Angesichts dieser Wahrscheinlichkeiten und Versuchsergebnisse besteht die Grundlage des materialisitischen Weltbildes letzlich doch auch aus vielen nicht bewiesenen Glaubenssätzen.

Viele Grüße

Pablo
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon Myron » Mi 17. Dez 2008, 20:57

Pablo hat geschrieben:Angesichts dieser Wahrscheinlichkeiten und Versuchsergebnisse besteht die Grundlage des materialisitischen Weltbildes letzlich doch auch aus vielen nicht bewiesenen Glaubenssätzen.


Es stimmt, dass die Naturwissenschaft den Prozess der Lebensentstehung noch nicht lückenlos erklären kann.
(Siehe: viewtopic.php?p=42513#p42513)
Nichtsdestoweniger gibt es keinen einzigen vernünftigen Grund, deshalb anzunehmen, dass irgendwelche immateriellen Faktoren an der Erschaffung der Lebensbausteine beteiligt waren.
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon El Schwalmo » Do 18. Dez 2008, 12:38

Myron hat geschrieben:Es stimmt, dass die Naturwissenschaft den Prozess der Lebensentstehung noch nicht lückenlos erklären kann.
(Siehe: http://www.forum.brights-deutschland.de ... 513#p42513)
Nichtsdestoweniger gibt es keinen einzigen vernünftigen Grund, deshalb anzunehmen, dass irgendwelche immateriellen Faktoren an der Erschaffung der Lebensbausteine beteiligt waren.

das hängt meiner Meinung nach davon ab, was man unter 'vernünftig' versteht.

Sober hat Paleys Argument analysiert und als Analogieschluss und als Induktion verworfen, nicht aber als 'inference to the best explanation'. Er ging davon aus, dass zu Humes Zeiten Paleys Argument durchaus vertretbar war, aber nicht mehr seit Darwin.

Man kann 'seit Darwin' nun weiter fassen und das als 'naturalistische Mechanismen, wie Leben enstehen kann' bezeichnen. Die Formulierung 'nicht lückenlos erklären kann' scheint mir bestenfalls ein sehr blauäugiger Euphemismus zu sein, wenn man in Arbeiten wie

Griesemer, James (2008) 'Origins of Life Studies' in: Ruse, M.; (ed.) 'The Oxford Handbook of Philosophy of Biology' Oxford; mult., Oxford University Press S. 263-290


schaut. Man könnte nun von Seite der Supranaturalisten auf die Idee kommen, eine 'Systematik der Lücke' zu entwerfen und zeigen, dass Erklärungsmöglichkeiten systematisch abbrechen. Nach der von Sober dargestellten Logik wäre Supranaturalismus dann zumindest nicht mehr unvernünftig, allerdings nur als abduktiver Schluss.
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon folgsam » Do 18. Dez 2008, 12:44

Es gibt plausible Modelle die durchaus falsifiziert werden können. Bis das nicht gemacht ist: abwarten.
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Re: Die Lehre des Materialismus

Beitragvon El Schwalmo » Do 18. Dez 2008, 13:27

folgsam hat geschrieben:Es gibt plausible Modelle die durchaus falsifiziert werden können. Bis das nicht gemacht ist: abwarten.

das ist ein interessanter Gesichtspunkt. Sind diese Modelle so plausibel, dass die, die sie bezweifeln, begründungspflichtig sind, oder sind wir gefordert?

Welche 'plausiblen Modelle' kennst Du? Neulich hat Matzke auf Pandas Thumb dafür plädiert, dass man derartige Modelle habe. Das, was er konkret schilderte, sah für mich nicht so unheimlich plausibel aus, wenn ich bedenke, was ich von Seiten der Evolutionskritiker als Einwände kenne.

Falls Dich solche Einwände interessieren, hier findest Du eine Art 'Kompendium':

Binder, H.; Scherer, S.; Imming, P. (2006) 'Was ist über die Entstehung des Lebens bekannt?' Religion-Staat-Gesellschaft 7 (2):389-416


Eine Darstellung eines neueren Stands findest Du beispielsweise in

Penny, D. (2005) 'An interpretive review of the origin of life research' Biology and Philosophy 20:633-71
URL: <http://awcmee.massey.ac.nz/people/dpenny/pdf/Penny_2005b.pdf>, letzter Zugriff: 6.12.2008


Griesemer, den ich oben erwähnte, bezieht sich öfter auf diesen Artikel.
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