Naturwissenschaftliche Kulturdeutung

Naturwissenschaftliche Kulturdeutung

Beitragvon ostfriese » Mo 17. Dez 2007, 22:55

Zu diesem Thread veranlasste mich der Evolutionsbiologe und Anthropologe David S. Wilson mit folgendem Artikel:

http://www.skeptic.com/eskeptic/07-07-04.html

Er rechnet ab mit Dawkins, dem er vorwirft, seine Hypothesen vom armchair aus zu verteidigen, ohne sich um die aktuelle Datenlage zu scheren.

Zugleich erweckt auch Wilson bei mir den Eindruck eines am eigenen Modell klebenden Denk-Rambos, der sich am liebsten genau jene Fragen stellt, die seine Theorie beantworten kann.

Verstehen wir Religion besser als infektiöses Mem und schädliches Nebenprodukt kindlichen Autoritätsglaubens oder als von der Gruppenselektion begünstigte, sozial funktionale Adaption?

Oder verstehen wir sie mit keinem der beiden evolutionstheoretischen (also naturwissenschaftlichen) Modelle?

Wilson drängt auf eine korrekte Beschreibung der Fakten über Religionen, weil wir nur damit auf die Lösung realer Probleme hoffen können. Aber besteht auch nur die geringste Aussicht, dass evolutionsbiologische Einsichten zur Lösung politischer Konflikte beitragen?

Gedankenexperiment: Angenommen, der Kampf der Kulturen tritt in die nukleare Phase und endet mit der Marginalisierung des Menschengeschlechts oder gar seiner Ausrottung: Ist unser globalgesellschaftlicher Super-Organismus dann an seiner überspezialisierten Intelligenz zugrunde gegangen, welche den Bau von Atomwaffen ermöglichte? Oder war es die Ignoranz der Massen, die als Fünfjährige am Steuer von Schmidt-Salomons Jumbo saßen? Kaperten die memetischen Viren "Religion" und "Irrationalität" unsere Gehirne und gaben ihre Wirte dem Tod anheim?

Wären wir mit irgendeiner dieser Deutungen zufrieden? Ist eine dieser Interpretationen besser als die anderen, und woran messen wir das?

Könnte es sein, dass im kulturellen Bereich alle naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche viel zu kurz greifen und dem Ziel einer adäquaten Abbildung der Realität nicht mal annähernd gerecht werden?

Mit anderen Worten: Können wir Geschichte verstehen ohne Kenntnisse über historische Persönlichkeiten und singuläre Ereignisse?
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Re: Naturwissenschaftliche Kulturdeutung

Beitragvon Klaus » Di 18. Dez 2007, 10:30

Mit David S. Wilson habe ich so meine Probleme. Wenn ich seine Publikationen anschaue und dort über die Evolution der Religion lese, unter heftiger Kritik, von Dawkins Memetik, das wäre ja noch in Ordnung, wenn er nicht soviel Metaphysik, für meinen Geschmack, in seine sozial-biologischen Haltungen einbringen würde.
Sollte die Menschheit in einem letzten nuklearen Konflikt zu grunde gehen, so ist sie nicht an ihrer Intelligenz gescheitert, sondern an ihrer Dummheit und Unfähigkeit kulturelle Konflikte gewaltfrei zu lösen.
Dawkins Memetik muss kritisch gesehen werden, aber Wilson scheint mir nicht der Mann zu sein, der das rein fachlich kann, auf politischer Ebene schon. Die Wissenschaften sind ein tool, keine politische Ideologie, wie die Religionen sie oftmals darstellen. Trotzdem wedren sie, die Wissenschaften gern dazu mißbraucht.
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Re: Naturwissenschaftliche Kulturdeutung

Beitragvon PoppersFan » Di 18. Dez 2007, 18:36

ostfriese hat geschrieben:Könnte es sein, dass im kulturellen Bereich alle naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche viel zu kurz greifen und dem Ziel einer adäquaten Abbildung der Realität nicht mal annähernd gerecht werden?

Ich würde sagen ja, diese Versuche sind viel zu ambitioniert und überstrapazieren die Möglichkeiten der Naturwissenschaft. Mich erinnern solche Sachen immer an das Programm des Reduktionismus: die Soziologie auf die Psychologie, die Psychologie auf die Biologie, die Biologie auf die Chemie und diese auf die Physik zurückführen. Am Ende steht man dann vor dem berühmten Problem, wie man das britische Bruttoinlandsprodukt aus der Thermodynamik errechnen soll...

ostfriese hat geschrieben:Mit anderen Worten: Können wir Geschichte verstehen ohne Kenntnisse über historische Persönlichkeiten und singuläre Ereignisse?

Mein Liebling Popper nennt sowas "Historizismus" und hat ein Büchlein darüber geschrieben: Das Elend des Historizismus. Man kann sich denken was drinsteht. Verallgemeinernde Theorien bzw. Prophezeiungen über den Lauf der Geschichte beruhen auf einem Missverständnis der wissenschaftlichen Methode (der Geschichte sowieso) und haben schweren Schaden angerichtet. Prominentestes Beispiel ist der Marxismus mit der angeblich wissenschaftlich errechneten Ankunft des Sozialismus, aber auch die Lehren vom letztlichen Sieg der überlegenen Rasse oder vom Untergang des Abendlandes gehören in dieses Fach. (Wurde die einstige Wiederkunft Christi auf Erden eigentlich schon mal wissenschaftlich bewiesen?)
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