Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 21. Jun 2010, 20:19

El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Wie kommst Du darauf, dass die Erde 4,5 - 0,15 Mrd. Jahre alt ist? Wo kann man die Zahl nachlesen? M.W. beträgt das allgemein akzeptierte Erdalter 4,55 +/- 0,05 Mrd. Jahre.

nun kannst Du mit Myron hübsch darüber diskutieren, ob Du gewusst hast, wie alt die Erde vor den Befunden, auf die ich angespielt habe, angeblich war. Du hast etwas gelernt und mit Anspruch auf Geltung vertreten, das inzwischen überholt ist. War das nun Wissen? Es gab sogar einen Zeitraum in der Wissenschaftsgeschichte, in der Du nicht das gewusst hast, was andere wussten. Und in fünf Jahren ändert sich das möglicherweise wieder. Ist doch schön, wenn man sich als Wissender fühlen kann, ohne dass das gleich wahr sein muss.


Natürlich. Das Beispiel zeigt nur einmal mehr, dass Wissen fehlbar ist, und dass es falsches Wissen gab bzw. gibt.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 21. Jun 2010, 20:25

El Schwalmo hat geschrieben:
smalonius hat geschrieben:2000 Jahre lang dachte man, daß sich Parallelen nicht schneiden. Bis es jemandem dämmerte, hey, da gibt es auch Gegenbeispiele: Parallelen schneiden sich. Damit hatte man die paradoxe Situation, daß

ich habe mich mit Mathematik nicht besonders beschäftigt. Falls ich einen groben Schnitzer mache, sorry.

Was meinst Du mit 'Parallelen schneiden sich'? Hat man erstmals Parallelen beobachtet, die sich schneiden? Oder hat man einfach anders modelliert? Warum schneiden die sich dann mal, und mal nicht?


Ich vermute, dass es darum geht, dass sich Parallelen "im Unendlichen schneiden". In der Praxis heißt das, Parallelen schneiden sich nie. Welcher Fall zutrifft, ist eine Frage des Standpunkts, d.h. der Wahrheitsgehalt ist kontextabhängig: Als Grenzwertbetrachtung (x-> unendlich) schneiden sich Parallelen, in der Praxis hingegen schneiden sie sich nie.

Falls ich smalonius falsch verstanden haben sollte, dann entschuldigt.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 21. Jun 2010, 20:29

darwin upheaval hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:War das nun Wissen? Es gab sogar einen Zeitraum in der Wissenschaftsgeschichte, in der Du nicht das gewusst hast, was andere wussten. Und in fünf Jahren ändert sich das möglicherweise wieder. Ist doch schön, wenn man sich als Wissender fühlen kann, ohne dass das gleich wahr sein muss.

Natürlich. Das Beispiel zeigt nur einmal mehr, dass Wissen fehlbar ist, und dass es falsches Wissen gab bzw. gibt.

warum?

Nach der von Myron verwendeten Definition hast Du nie gewusst, wie alt die Erde ist, und wenn (Myron kann sich gerne überlegen, woher er das wissen könnte) das aktuell angenommene Alter korrekt ist, dann hätten Smalonius und ich eine Zeitlang gewusst, während Du nicht gewusst hast. Nach Deiner Definition hast Du bis vor Kurzem genauso gewusst wie jetzt, obwohl Du nun weißt, dass Du etwas Falsches gewusst hast. Und in der Zwischenzeit meinte jeder, zu wissen, dass er auf dem aktuellen Stand sei.

Du kannst nur sagen: Nach der Definition von 'Wissen', die ich verwende, ist das Hose wie Jacke. Ein Argument gegen die von Myron verwendete Definition ist das nicht. Du hast nicht gezeigt, dass es falsches Wissen gibt, sondern nur, dass, wenn man 'Wissen' auf eine bestimmte Art und Weise verwendet, Du etwas Falsches gewusst hast. Deine Frage an Smalonius zeigt sogar, dass Du meintest, mehr zu wissen als er.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 21. Jun 2010, 20:37

El Schwalmo hat geschrieben:
smalonius hat geschrieben:Die Situation ist analog zu Newton und Einstein. Auch hier ist es so, daß Newton als Spezialfall für kleine Massen und kleine Geschwindigkeiten im Einsteinschen Modell enthalten ist.

Das muss nicht zutreffen. Wenn im einen Modell der Raum und die Zeit konstant sind, im anderen relativ, dann ist das kein Spezialfall mehr, wenn man so eine an sich seiende Welt beschreibt.


Unter subrelatistischen Bedingungen sind Raum und Zeit praktische für alle Bezugssysteme invariante Größen, das besagt auch die Relativitästheorie. Insofern hat smalonius schon recht: Newtons Mechanik ist ein Spezialfall. Dass sie unter extremen Bedingungen ihren Geltungsbereich verliert, ändert daran nichts.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 21. Jun 2010, 20:41

El Schwalmo hat geschrieben:Nach der von Myron verwendeten Definition hast Du nie gewusst, wie alt die Erde ist,


Irrtum, selbst Myron glaubte zu wissen. Aber dieses Wissen hat sich jetzt offenbar auf mysteriöse Weise ins Nirwana verabschiedet, ebenso wie das Wissen der Newtonschen Theorie. Nach Bunge hat sich allenfalls der Wahrheitswert des Wissens geändert. Aber wahrscheinlich nicht einmal das - es steht bislang nur Theorie1 gegen Theorie2.
Zuletzt geändert von darwin upheaval am Mo 21. Jun 2010, 20:46, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 21. Jun 2010, 20:46

darwin upheaval hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Das muss nicht zutreffen. Wenn im einen Modell der Raum und die Zeit konstant sind, im anderen relativ, dann ist das kein Spezialfall mehr, wenn man so eine an sich seiende Welt beschreibt.


Unter subrelatistischen

hmmmm?

darwin upheaval hat geschrieben:Bedingungen sind Raum und Zeit praktische für alle Bezugssysteme invariante Größen, das besagt auch die Relativitästheorie.

'Praktisch' ist, wie Myron so schön sagte, 'dicht vorbei'. Ist eine Frau, die eine befruchtete Eizelle im Eileiter mit sich führt, praktisch schwanger?

darwin upheaval hat geschrieben:Insofern hat smalonius schon recht: Newtons Mechanik ist ein Spezialfall. Dass sie unter extremen Bedingungen ihren Geltungsbereich verliert, ändert daran nichts.

Aber auch die Gegenseite hat Recht: Man hat auf diesen Spezialfall Weltbilder gebaut. Ist Kants Kategorienlehre nun ein Spezialfall?
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 21. Jun 2010, 20:50

darwin upheaval hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Nach der von Myron verwendeten Definition hast Du nie gewusst, wie alt die Erde ist,

Irrtum, selbst Myron glaubte zu wissen.

wie alt die Erde ist?

darwin upheaval hat geschrieben:Aber dieses Wissen hat sich jetzt offenbar auf mysteriöse Weise ins Nirwana verabschiedet, ebenso wie das Wissen der Newtonschen Theorie. Nach Bunge hat sich allenfalls der Wahrheitswert des Wissens geändert. Aber wahrscheinlich nicht einmal das - es steht bislang nur Theorie1 gegen Theorie2.

Leider hast Du gerade wieder ein Posting gelöscht.

Nicht nur Myron, auch wir müssen einen Preis bezahlen. Wenn wir 'Wissen' von Wahrheit entkoppeln (wir tun das aus Einsicht, nicht aus Jux und Dollerei), brauchen wir zu 'zeitkerniger Geltung' nicht mehr 'Wissen' sagen, wenn wir gegen Supranaturalisten zu Felde ziehen. Denn das ist dann nur noch der 'consensus omnium' (zumindest derer, die raffen, um was es geht, und die richtigen Konsequenzen daraus ziehen), der sich auch wieder ändern kann. So nach dem Motto: 'Okay, 150 Jahrmillionen sind nicht die pralle Menge, aber wir sind dem Ziel, 6000 Jahre, durchaus näher gekommen ...'.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 21. Jun 2010, 20:51

El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Bedingungen sind Raum und Zeit praktische für alle Bezugssysteme invariante Größen, das besagt auch die Relativitästheorie.

'Praktisch' ist, wie Myron so schön sagte, 'dicht vorbei'. Ist eine Frau, die eine befruchtete Eizelle im Eileiter mit sich führt, praktisch schwanger?


Nur übersiehst Du offenbar genauso wie Myron die Komplexität von Theorien. Aus Eurer Sicht besteht die Welt nur aus "schwarz" und "weiß". Allerdings ist die Welt etwas bunter und Theorien, die sich bewährt haben, sind zumindest partiell richtig. Ich dachte eigentlich, das wäre wenigstens zwischen uns unstrittig.

Ist ein Pfeil, der 2 Femtometer neben dem Zentrum einer Scheibe steckt, nicht mehr im Schwarzen?


El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Insofern hat smalonius schon recht: Newtons Mechanik ist ein Spezialfall. Dass sie unter extremen Bedingungen ihren Geltungsbereich verliert, ändert daran nichts.

Aber auch die Gegenseite hat Recht: Man hat auf diesen Spezialfall Weltbilder gebaut. Ist Kants Kategorienlehre nun ein Spezialfall?


Keine Ahnung, welche Kategorien?
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 21. Jun 2010, 20:58

darwin upheaval hat geschrieben:Nur übersiehst Du offenbar genauso wie Myron die Komplexität von Theorien. Aus Eurer Sicht besteht die Welt nur aus "schwarz" und "weiß".

was ist 'aus Eurer Sicht'? Ich vertrete Deinen Standpunkt, aber nicht aus der 'hedgehog-Perspektive'.

darwin upheaval hat geschrieben:Allerdings ist die Welt etwas bunter und Theorien, die sich bewährt haben, sind zumindest partiell richtig. Ich dachte eigentlich, das wäre wenigstens zwischen uns unstrittig.

Ist ein Pfeil, der 2 Femtometer neben dem Zentrum einer Scheibe steckt, nicht mehr im Schwarzen?

Was bedeutet 'Pfeil', wenn Du in Femtometern misst?

darwin upheaval hat geschrieben:Keine Ahnung, welche Kategorien?

Ups, Fehler meinerseits, ich dachte, Raum und Zeit würden in Kants Kategorienlehre auftauchen.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 21. Jun 2010, 20:59

El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Nach der von Myron verwendeten Definition hast Du nie gewusst, wie alt die Erde ist,

Irrtum, selbst Myron glaubte zu wissen.

wie alt die Erde ist?


Je nach Theorie 4,55 oder 4,4 Mrd. Jahre.

Du kannst es noch so oft probieren, Du findest in Bunges Begriffssystem keine Inkonsistenz. Du solltest Dich, da Du doch angeblich meiner Auffassung zuneigst, besser darauf beschränken, Myron zu zeigen, wo seine Definition problematisch wird.


El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Aber dieses Wissen hat sich jetzt offenbar auf mysteriöse Weise ins Nirwana verabschiedet, ebenso wie das Wissen der Newtonschen Theorie. Nach Bunge hat sich allenfalls der Wahrheitswert des Wissens geändert. Aber wahrscheinlich nicht einmal das - es steht bislang nur Theorie1 gegen Theorie2.

Leider hast Du gerade wieder ein Posting gelöscht.


Bitte welches Posting denn?


El Schwalmo hat geschrieben:Nicht nur Myron, auch wir müssen einen Preis bezahlen. Wenn wir 'Wissen' von Wahrheit entkoppeln (wir tun das aus Einsicht, nicht aus Jux und Dollerei), brauchen wir zu 'zeitkerniger Geltung' nicht mehr 'Wissen' sagen, wenn wir gegen Supranaturalisten zu Felde ziehen.


Müssen wir doch auch nicht. Es geht nur um wahres und falsches, vertrauenswürdiges oder illusionäres Wissen. Die Evolutionstheorie ist wohlbestätigt, der Kreationismus x-fach widerlegt. Das genügt doch.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 21. Jun 2010, 21:00

El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Nur übersiehst Du offenbar genauso wie Myron die Komplexität von Theorien. Aus Eurer Sicht besteht die Welt nur aus "schwarz" und "weiß".

was ist 'aus Eurer Sicht'? Ich vertrete Deinen Standpunkt, aber nicht aus der 'hedgehog-Perspektive'.


Wenn Du damit behaupten möchtest, der allwissende Fuchs zu sein, dann verzeih, dass ich lache.

Du hast allenfalls ein paar Autoren mehr gelesen. Nämlich genau die, die Myron angeschleppt hat. Die sind mir nun inzwischen ebenfalls hinreichend bekannt. Nur kann ich Autoritätsargumente und Konventionen immer noch von Argumenten unterscheiden.
Zuletzt geändert von darwin upheaval am Mo 21. Jun 2010, 21:14, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 21. Jun 2010, 21:11

El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Allerdings ist die Welt etwas bunter und Theorien, die sich bewährt haben, sind zumindest partiell richtig. Ich dachte eigentlich, das wäre wenigstens zwischen uns unstrittig.

Ist ein Pfeil, der 2 Femtometer neben dem Zentrum einer Scheibe steckt, nicht mehr im Schwarzen?

Was bedeutet 'Pfeil', wenn Du in Femtometern misst?


Möglicherweise eine riesen Bramme, die das Zentrum ganz klar verfehlt hat?

El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Keine Ahnung, welche Kategorien?

Ups, Fehler meinerseits, ich dachte, Raum und Zeit würden in Kants Kategorienlehre auftauchen.


Gelingt es mir heute noch, Dein Argument aus dem Versteck zu locken oder hast Du es aus der Schlaufuchs-Perspektive, in der Du Dich wähnst, wieder aus dem Auge verloren?

Also gut, man hat auf einen Spezialfall ein Weltbild gebaut. Ist deswegen der Spezialfall aus Sicht der umfassenderen Theorie kein Spezialfall mehr?
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 21. Jun 2010, 21:25

darwin upheaval hat geschrieben:Nochmal, Armstrong repetiert gebetsmühlenartig eine Konvention, bringt aber kein Argument.


Doch, er führt sehr wohl einen Grund für die Auffassung an, dass das Merkmal "Wahrheit" in den Wissensbegriff hineingehört.

"Descriptive definitions, like stipulative ones, spell out meaning, but they also aim to be adequate to existing usage. When philosophers offer definitions of, e.g., ‘know’ and ‘free’, they are not being stipulative: a lack of fit with existing usage is an objection to them."

(http://plato.stanford.edu/entries/definitions)

darwin upheaval hat geschrieben:Wenn es partiell falsche Theorien gibt, wie Newtons Mechanik, dann gibt es auch partiell falsches Wissen, wenn man den Naturwissenschaften überhaupt Wissen zugesteht.


Wie verhalten sich eigentlich die Begriffe "partielle Wahrheit/Falschheit" und "Wahrheitsähnlichkeit/-nähe" zueinander?
Unter einer partiell wahren/falschen Theorie verstehe ich zunächst eine Theorie, die teils aus wahren und teils aus falschen Sätzen besteht.

darwin upheaval hat geschrieben:Die binäre Logik taugt nicht, um ein so komplexes Aussagengebilde wie eine wissenschaftliche Theorie korrekt zu beschreiben. Es gibt eben nicht nur "wahre Theorien" und "falsche Theorien", sondern Theorien, die wahrer sind als andere.


Ich bin mir alles andere als sicher, ob es sinnvoll ist, Komparativformen von "wahr" und "falsch" zu verwenden.
Die Begriffe "Wahrheitsgehalt" und "Falschheitsgehalt" sind jedenfalls sehr problematisch, besonders im Hinblick auf die Frage, wie sich ein Maß dafür bestimmen lässt, das präzise Theorienvergleiche ermöglicht.
Der Ansatz Poppers ist übrigens fehlerhaft:

"[T]he account suffers the following fatal flaw: it entails that no false theory is closer to the truth than any other. This incommensurability result was proved independently by Pavel Tichý and David Miller (Miller 1974, and Tichý 1974)."

(http://plato.stanford.edu/entries/truthlikeness/#ConApp)

darwin upheaval hat geschrieben:…Daraus folgt wiederum, dass Armstrongs Wissensdefinition in den Naturwissenschaften unbrauchbar ist.


Das bestreite ich!

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Wenn die darwinistische Evolutionstheorie angegriffen wird, berufst du dich dann etwa nicht u.a. auf ein "general agreement" oder einen "nearly universal consent" unter den Biologen?

Selbstverständlich nicht! Wenn Du einem Kreationsten sagst, die Evolutionstheorie sei wahr, weil die Wissenschaftsgemeinde annimmt, dass sie wahr sei und weil so viele Menschen unmöglich irren können, dann lacht der Dich (zurecht) nur aus. Das Autoritätsargument wird als Fehlschluss eingestuft und war somit noch nie überzeugend.


Wenn die Kreationisten behaupten, die darwinistische Evolutionstheorie sei wissenschaftlich umstritten, dann ist es durchaus zulässig, auf die Tatsache zu verweisen, dass sie von so gut wie allen Biologen anerkannt wird.

Das ist sowohl ein argumentum ad numerum als auch ein argumentum ad verecundiam. Bei informellen Fehlschlüssen muss man übrigens differenzieren, denn was in einem Kontext zu Recht als Fehlschluss gilt, kann in einem anderen Kontext durchaus ein gutes Argument sein.

"You appeal to authority if you back up your reasoning by saying that it is supported by what some authority says on the subject. Most reasoning of this kind is not fallacious, and much of our knowledge comes from authorities. We should accept the reasoning if we have reason to believe that the authorities have good evidence for their views on the subject."
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 21. Jun 2010, 21:42

El Schwalmo hat geschrieben:In meinem Physik-Praktikum war eine der ersten Übungen das Erstellen einer Messreihe und eine statistische Untersuchung der Ergebnisse. Man kann so recht genau sagen, wo der 'wahre Wert' liegt, selbst wenn man ihn nicht kennt. Die Aussage 'x wiegt y', gemessen mit einer ungenauen Waage kann doch, genügend Messungen und Kenntnis möglicher Störungen vorausgesetzt, einen durchaus 'wahrheitsnahen' Wert ergeben (prüfbar besispielswiese mit einer empfindlicheren Waage oder auch vollkommen anderen Methoden). Mit dem Wert will ich arbeiten, ob er 'wahr' ist, interessiert mich nicht unbedingt.


Es gibt in der Tat keine absolut präzisen Messungen. Streng genommen muss bei der Angabe des Wertes einer gemessenen physikalischen Größe der Abweichungsbereich mit angegeben werden, z.B. "20kg +-100g".
Wenn man nicht wissen kann, dass etwas absolut genau 20,000…000…000…kg wiegt, so kann man doch wissen, dass sein Gewicht innerhalb des Intervalls [20-n kg;20+n kg] liegt. (Dazu muss man die klassische—schwach fallibilistische—Definition von "Wissen" nicht aufgeben, die die Wahrheitsbedingung nicht durch die Wahrheitsähnlichkeitsbedingung ersetzt.)
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 21. Jun 2010, 21:56

darwin upheaval hat geschrieben:…Trotzdem zeigt das Beispiel, dass Theorien so komplexe Aussagengebilde sind, dass man nicht einfach sagen kann, sie ist richtig oder falsch. Bei einzelnen Aussagen geht das, bei Theorien nicht. Und je allgemeiner eine Theorie ist, desto komplexer wird die (Test-) Situation.


Wenn man unter einer Theorie formal eine Satzmenge versteht, dann ist eine Theorie wahr im Sinne von "ganz wahr", wenn der aus all ihren Einzelsätzen bestehende konjunktivische Gesamtsatz wahr ist. Und der ist nur dann wahr, wenn sämtliche Einzelsätze wahr sind. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist eine Theorie nicht wahr im Sinne von "ganz wahr", sondern nur teilweise wahr und damit auch teilweise falsch. Soweit kein Einwand meinerseits!
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 21. Jun 2010, 22:07

darwin upheaval hat geschrieben:Der Begriff der "Wahrheitsähnlichkeit" entspricht dem Konzept der partiellen Wahrheit (bzw. partiellen Falschheit). Denn eine "wahrheitsähnliche Theorie" ist immer in bestimmten Bereichen wahr und in anderen Bereichen falsch, wie könnte es anders sein?


Wir sollten wohl wirklich berücksichtigen, dass es einen Unterschied macht, ob die Prädikate "wahr", "wahrheitsähnlich" und "partiell wahr" einzelnen Sätzen oder ganzen Theorien, d.i. Mengen zusammenhängender Sätze, zugesprochen werden.

darwin upheaval hat geschrieben:Um den Wahrheitswert einer Theorie approximativ zu bestimmen, könnte man z. B. aus der Theorie n abhängige Modelle generieren {M1, M2, M3,... Mn}, mit denen die Systeme 1, 2, 3,..., n beschrieben werden. Würde man die Modelle formalisieren, könnte man von jedem Modell die Axiome {A11, A12, A13,..., Ann} sowie die Folgerungen {F11, F12, F13,..., Fnn} aufschreiben. Jeder dieser Folgeaussagen wird dann, nach der empirischen Überprüfung, ein Wahrheitswert (0 oder 1) zugewiesen. Die Gesamtheit der Wahrheitswerte ließe sich dann in einer Matrix darstellen und auszählen...


Also einfach gesagt: Je mehr zutreffende Vorhersagen sich aus einer empirischen Theorie ableiten lassen, desto näher liegt ihr Wahrheitswert bei 1. (?)
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 21. Jun 2010, 22:12

darwin upheaval hat geschrieben:Wenn man Philosphie und Naturwissenschaft als inkommensurable "Sprachbilder" versteht, dann interessiert es selbstverständlich niemanden, der in den Naturwissenschaften arbeitet, was die Philosophie vertritt (und vice versa).


Du meinst sicher "Sprachspiele" und nicht "Sprachbilder".
Diese Inkommensurabilitätsthese weise ich jedenfalls zurück.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 21. Jun 2010, 22:22

El Schwalmo hat geschrieben:Die Frage, die zwischen Dir und Myron strittig ist, ist der Zusammenhang zwischen den philosophischen Grundlagen der Biologie und Disziplinen wie Ontologie, Epistemologie und so weiter.


Die Wissenschaftstheorie der Biologie und der Naturwissenschaft allgemein ist eine philosophische Disziplin, die nicht zufällig im Englischen "philosophy of science" heißt. Die Diskussion zwischen Darwin und mir ist folglich eine innerphilosophische Diskussion!
Der starke Fallibilismus (siehe das Niiniluoto-Zitat weiter oben!), den Darwin vertritt, ist ein philosophischer Standpunkt!

El Schwalmo hat geschrieben:Myron ist eher ein 'fox', aber in dem Bereich, in dem Du Dich besonders gut auskennst, muss er sich noch ein wenig informieren.


Ich bin als philosophischer Geist Spezialist fürs Generelle. :^^:
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 21. Jun 2010, 22:44

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Die Frage, die zwischen Dir und Myron strittig ist, ist der Zusammenhang zwischen den philosophischen Grundlagen der Biologie und Disziplinen wie Ontologie, Epistemologie und so weiter.

Die Wissenschaftstheorie der Biologie und der Naturwissenschaft allgemein ist eine philosophische Disziplin, die nicht zufällig im Englischen "philosophy of science" heißt. Die Diskussion zwischen Darwin und mir ist folglich eine innerphilosophische Diskussion!

natürlich, und deshalb habe ich Dich ja auch als 'fox' bezeichnet. Darwin Upheaval (Darwin ist längst tot) hat einen restringierteren Horizont und eine gewisse 'Bunker-Mentalität'. Er kann nicht Standpunkt gegen Standpunkt setzen, sondern muss immer checken, ob etwas seinen Standpunkt tangiert. Wenn man andeutet, dass eine Auffassung nicht generell gelten muss, sieht er sofort die Bedrohung eines Inkonsistenz-Vorwurfs.

Myron hat geschrieben:Der starke Fallibilismus (siehe das Niiniluoto-Zitat weiter oben!), den Darwin vertritt, ist ein philosophischer Standpunkt!

Unbestritten, aber es macht einen Unterschied, ob er diesen im Bereich der Naturwissenschaften oder generell vertritt.

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Myron ist eher ein 'fox', aber in dem Bereich, in dem Du Dich besonders gut auskennst, muss er sich noch ein wenig informieren.

Ich bin als philosophischer Geist Spezialist fürs Generelle. :^^:

Selbstredend. Aber wenn Du dann auf ein eher spezielles Gebiet vordringst, kann es sein, dass Du auf Platzhirsche triffst.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 21. Jun 2010, 22:50

darwin upheaval hat geschrieben:Du kannst es noch so oft probieren, Du findest in Bunges Begriffssystem keine Inkonsistenz.

ich vermute, dass Dir immer noch nicht klar ist, worum es geht. Selbst wenn auf unserer Baustelle der Begriff 'Wissen', genauer, die Verbindung von 'Wissen' und Wahrheit, keinen Sinn macht, heißt das noch lange nicht, dass das universell gelten muss. Nur das war mein Punkt.

darwin upheaval hat geschrieben:Du solltest Dich, da Du doch angeblich meiner Auffassung zuneigst, besser darauf beschränken, Myron zu zeigen, wo seine Definition problematisch wird.

Das habe ich schon getan, als Du in diesem Forum noch gar nicht aktiv warst. Auch in anderen Foren habe ich mich längelang gegen JTB gewendet. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich nicht auch sehe, wo Myron Recht hat.

El Schwalmo hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Leider hast Du gerade wieder ein Posting gelöscht.

Bitte welches Posting denn?

Das, in dessen letztem Satz etwas von 'Preis bezahlen' stand.

darwin upheaval hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Nicht nur Myron, auch wir müssen einen Preis bezahlen. Wenn wir 'Wissen' von Wahrheit entkoppeln (wir tun das aus Einsicht, nicht aus Jux und Dollerei), brauchen wir zu 'zeitkerniger Geltung' nicht mehr 'Wissen' sagen, wenn wir gegen Supranaturalisten zu Felde ziehen.

Müssen wir doch auch nicht. Es geht nur um wahres und falsches, vertrauenswürdiges oder illusionäres Wissen. Die Evolutionstheorie ist wohlbestätigt, der Kreationismus x-fach widerlegt. Das genügt doch.

Das, was Du gesnippt hast, enthält die Antwort.
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