Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Di 15. Jun 2010, 10:55

smalonius hat geschrieben:Von meiner Warte aus: formalisiertes Wissen läßt sich als semantisches Netz und als regelbasiertes System darstellen. Also zum Beispiel:

das ist der zweite Schritt vor dem ersten. Wenn man fragt, was 'Wissen' ist, ist es Hose wie Jacke, ob und gegebenenfalls wie man das darstellen kann. Es ist natürlich ein Weg, aufgrund bestimmter Überlegungen den Begriff 'Wissen' umzudefinieren. Man kann sich aber fragen, ob das Sinn macht. Ist dann so wie in der Pflanzenmorphologie. Rosen haben dann 'Stacheln', weil 'Dornen' anders definiert sind. Ich sehe keinen Sinn darin, Begriffe aus der Alltagssprache in Fachterminologie zu übernehmen, wenn sich der Sinn massiv ändert.

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Mahners Werk heißt 'Biophilosphy', Mahner ist promovierter Biologe. Da scheint mir schon mehr auf dem Spiel zu stehen als eine Definition, die man als Werkzeug willkürlich definieren könnte.

Jetzt hast du versäumt zu sagen, was auf dem Spiel steht. ;-)

Das dahinter stehende Weltbild. Du zeigst gerade worauf es ankommt:

[ ... ]

smalonius hat geschrieben:Die Definition selbst scheint mir OK, wenn ich sie wohlwollend lese. Beim Nachsatz allerdings habe ich meine Zweifel. Das widerspricht meinem umgangssprachlichen Verständnis von "Wissen".

Eben. Das meinte ich oben.

smalonius hat geschrieben:Übrigens: daß "Nichtorganismen wie computer" prinzipiell nichts wissen können, ist geradezu albern, nachdem Wissen vorher als "wahrnehmen, erkennen und behalten" definiert wurde.

Das ist nur konsequent, denn in der Definition stand 'Tiere'. Mahner mit Fragen, was mit Computern nachbaubar ist, durchaus schon intensiver befasst

Kary, M.; Mahner, M. (2002) 'How Would You Know if You Synthesized a Thinking Thing?' Minds and Machines 12:61-86

Ohne Bezug auf den Artikel: Computer etwas wissen können, ist natürlich auch wieder abhängig von der Definition von 'Wissen'. Du kennst sicher auch Searles 'chinesisches Zimmer'.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Bionic » Di 15. Jun 2010, 11:03

Darf ich mal fragen, um was es hier genau geht? Das Thema hört sich ja intressant an, verstehen tu ich aber nur Bahnhof..
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Di 15. Jun 2010, 12:09

Myron vertritt die in der Philosophie übliche Definition, die allerdings besagt, dass es in den Naturwissenschaften kein 'Wissen' geben kann.

Daher plädiert Darwin Upheaval dafür, den Begriff 'Wissen' so zu verändern, dass auch das, was die Naturwissenschaften herausgefunden zu haben meinen, jeweils als 'Wissen' bezeichnet werden darf. Wenn sich der Stand der Erkenntnis geändert haben sollte und das, was gestern noch als 'Wissen' galt, heute falsch ist, hat sich eigentlich nichts geändert. 'Damals' war das Wissen, heute nicht mehr.

Nach der Definition, die Myron verwendet, hätte es sich nie um 'Wissen' gehandelt.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Di 15. Jun 2010, 15:42

Myron hat geschrieben:Was ich schade und—pardon!—fast schon ignorant finde, ist, dass du einfach nicht zur Kenntnis nehmen willst, was nicht ich, sondern kompetente Fallibilisten und sogar Popperianer schreiben:

"Why 'conjectural knowledge'? Why not just 'conjectures'?'
The answer is plain: 'conjecturally know' means more than 'conjecture' or 'guess' or 'believe'. Conjectural knowledge requires truth: the fallibilist accepts that 'I know that P' entails 'P is true', accepts that 'false knowledge' is a contradiction in terms."


(Musgrave, Alan. Common Sense, Science and Scepticism: A Historical Introduction to the Theory of Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press, 1993. pp. 299-300)


Ich sehe nicht, wie Dich das Zitat weiterbringt...

Das Wissen im Sinne der Naturwissenschaften ist Vermutungswissen; es ist ein kühnes Raten.


Popper, K.R. (1991) Auf der Suche nach einer besseren Welt. 6. Aufl., Piper, p. 52

Vermutungswissen ist definitionsgemäß ein Wissen, dessen Wahrheitswert nicht bekannt ist. Nach der üblichen Definition kann man dafür nicht den Begriff "Wissen" verwenden (true justified belief), sondern allenfalls "justified belief". Damit wäre die Bezeichnung "Vermutungswissen" ein Widerspruch in sich. Für Dich als Traditionalisten können wissenschaftliche Vermutungen also allenfalls ein Glaube und kein Wissen sein, denn wer nach herkömmlicher Lesart Vermutungen als Wissen zulässt, der kann den Unterschied zwischen Glauben und Wissen gleich aufgeben.

Nun beruhen fast alle wissenschaftlichen Revolutionen auf Vermutungen: Die meisten Theorien werden gedanklich konstruiert, nicht induktiv erschlossen. Wenn wissenschaftliches Wissen also kein Wissen ist, was ist es dann? Glaube, so wie die Religion ein Glaube ist?
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Di 15. Jun 2010, 16:22

darwin upheaval hat geschrieben:Wenn wissenschaftliches Wissen also kein Wissen ist, was ist es dann? Glaube, so wie die Religion ein Glaube ist?

gerechtfertigter Glaube.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon smalonius » Di 15. Jun 2010, 17:32

Myron hat geschrieben:…oder man behält sowohl den Materialismus als auch den traditionellen Wissensbegriff bei und bestreitet stattdessen, dass es mathematisches Wissen bzw. mathematische Tatsachen gibt:
[...]
4. If there are such things as mathematical objects, then they are abstract objects, i.e., nonspatiotemporal objects; for instance, if there is such a thing as the number 4, then it is an abstract object, not a physical or mental object. But

5. There are no such things as abstract objects.

Der Widerspruch läßt sich leicht lösen, wenn man die Zahl 4 als konkretes Objekt ansieht.

Ich sehe nichts abstraktes darin, 4 als eine Menge mit sovielen Elementen zu sehen: {||||} Eine Menge mit 4 Elementen kann man jederzeit in Raum und Zeit herstellen. Das ist etwas konkretes; und mit ganzen Zahlen und mit Brüchen klappt das sehr gut.

Schwieriger wird's bei reellen Zahlen. Da gibt es dann auch Leute wie Gregory Chaitin, die behaupten, daß es einen Großteil der reellen Zahlen, die man am Zahlenstrahl herausgreifen könnte, gar nicht gibt, weil sie aufgrund ihrer Natur nicht in der Wirklichkeit darstellbar sind.

Myron hat geschrieben:Und was die naturwissenschaftliche Bedeutung unwahrer mathematischer Theorien anbelangt, so haben die Fiktionalisten darauf durchaus Antworten anzubieten.
Siehe: http://plato.stanford.edu/entries/ficti ... #ObjFicRes

P.S.: Der mathematische Platonismus, d.i. der Glaube an geistunabhängige mathematische Abstrakta, die von uns nicht erschaffen, sondern entdeckt werden, ist mit dem Materialismus und dem Naturalismus zweifellos unvereinbar.

Die Mathematikgeschichte kennt Beispiele, in denen Zusammenhänge entdeckt wurden. Zum Beispiel, daß Wurzel 2 keine rationale Zahl ist. Oder daß 1 + 1/2 + 1/4 + 1/8 + ... konvergiert.

Imre Lakatos und Hilary Putnam nennen Mathematik quasi-empirisch. Putnam wird auch in deinem Link erwähnt. Er schrieb 1975 in What is Mathematical Truth ?
mathematical knowledge resembles empirical knowledge - that is, that the criterion of truth in mathematics just as much as in physics is success of our ideas in practice, and that mathematical knowledge is corrigible and not absolute.

http://peccatte.karefil.com/Quasi/Koets ... katos.html


darwin upheaval hat geschrieben:"Abstrakte Realität" ist eine Oxymoron, denn nur nur das [i]Konkrete ist real. [...] Und wenn der Fiktionalist allen ernstes behauptet, dass alle mathematischen Aussagen falsch seien und trotzdem ein nützliches formales Instrument bei der Rekonstruktion faktischen Wissens repräsentiere, das notwendigerweise wahr sei, dann weiß er ganz offensichtlich nicht, was er redet.

:up:

Das Argument geht noch weiter. Wenn mathematische Aussagen falsch sind, dann ist die Algorithmik auch falsch, und jedes Programm, das auf einem Computer läuft, ebenso. Was zur lustigen Situation führt, daß euer Browser und das Betriebssystem gerade auf "falschem" Wege die richtige Anzeige berechnen.

Um's auf die Spitze zu treiben: wenn mathematische Aussagen falsch sind, dann gilt das auch für Logik und für logische Schlüsse. Die Fiktionalisten sind also aufgrund "falscher" Argumentationsketten zu ihrem "richtigen" Schluß gekommen.

Konsequenterweise muß ein Fiktionalist den Fiktionalismus, genau wie Mathematik, als falsch ansehen. :pfeif: :mg:

Myron hat geschrieben:
smalonius hat geschrieben:Übrigens: daß "Nichtorganismen wie computer" prinzipiell nichts wissen können, ist geradezu albern, nachdem Wissen vorher als "wahrnehmen, erkennen und behalten" definiert wurde.
Wissen als Geisteszustand kann nicht von geistlosen Dingen besessen werden.

Ich hab das Zitat von Mahner/Bunge so ausgelegt, daß es ihrer Meinung nach keine intelligenten Maschinen geben kann.

Eine Maschine kann durchaus etwas lernen - und wenn man etwas gelernt hat, dann weiß man etwas. Ob es die Maschine "versteht" ist eine andere Baustelle.

Inzwischen gibt es wissenserzeugende Maschine, die automatisch schlußfolgern können. Vor nicht allzu langer Zeit, hat ein Roboter das Hefegenom analysiert. Er konnte einige neue Zuordnungen zwischen Enzymen und Genen finden.

Adam’s British designers, led by Ross King at Aberystwyth University in Wales, acknowledge that the robot’s discoveries have been "of a modest kind" thus far. Its proving ground as a scientist has been the genome of baker’s yeast, a popular laboratory species. [...]
Adam sought out gaps in the metabolism model, specifically orphan enzymes, which scientists think exist, but which haven’t been linked to any parent genes. After selecting a desirable orphan, Adam scoured the database for similar enzymes in other organisms, along with the corresponding genes. Using this information, it hypothesized that similar genes in the yeast genome may code for the orphan enzyme.

After analyzing the data and running follow-up experiments — it can design and initiate over a thousand new experiments each day — Adam had uncovered three genes that together coded for an orphan enzyme.
King’s group confirmed the novel findings by hand.[...]

http://www.wired.com/wiredscience/2009/ ... scientist/
Zuletzt geändert von smalonius am Di 15. Jun 2010, 18:17, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon smalonius » Di 15. Jun 2010, 18:15

El Schwalmo hat geschrieben:
smalonius hat geschrieben:Von meiner Warte aus: formalisiertes Wissen läßt sich als semantisches Netz und als regelbasiertes System darstellen. Also zum Beispiel:

- Ein Auto hat einen Treibstofftank.
- Ein Treibstofftank hat einen Füllstand.
- Wenn der Treibstofftank leer ist, dann fährt ein Auto nicht.
- Gar elump war der Pluckerwank

das ist der zweite Schritt vor dem ersten. Wenn man fragt, was 'Wissen' ist, ist es Hose wie Jacke, ob und gegebenenfalls wie man das darstellen kann.

Halt, halt, langsam. Ich wollte auf etwas anderes hinaus: nämlich daß eine Aussage, die keine Konsequenzen hat, sinnlos ist. "Mathematik ist entweder wahr oder falsch" ist eine rein rhetorische Frage, eine Antwort ändert überhaupt nichts an dem, was wir über Mathematik wissen.

"Mathematik ist falsch", "Wissen setzt die Wahrheit des Gewußten voraus", "alles Wahre existiert als körperliches Ding" - das sind zwar grammatisch gültige Sätze. Aber nur, weil uns die Grammatik nicht verbietet, inhaltlich unsinnige Sätze zu formulieren.

Noch so ein unsinniger Satz: "Wie klatscht man mit einer Hand?" (Die Antwort verrate ich hier nicht. :pfeif:)

Die Philosophie war da auch schon mal weiter. "Worüber man nichts sagen kann, davon muß man schweigen" oder so ähnlich heißt's bei Wittgenstein. Schade, daß die Philosophie sich so wenig daran hält.

El Schwalmo hat geschrieben:Ich sehe keinen Sinn darin, Begriffe aus der Alltagssprache in Fachterminologie zu übernehmen, wenn sich der Sinn massiv ändert.

Ja und nein. Wenn ich dir einen Sandsack von 50 kg aufschultere und du damit rumstehst, verrichtest du im physikalischen Sinn keine Arbeit. Könnte sein, daß du selbst das umgangssprachlich anders siehst. ;-)

El Schwalmo hat geschrieben:Kary, M.; Mahner, M. (2002) 'How Would You Know if You Synthesized a Thinking Thing?' Minds and Machines 12:61-86

Werd's beizeiten mal suchen. Mal sehen, ob sie Turings Ideen etwas hinzufügen können.
El Schwalmo hat geschrieben:Du kennst sicher auch Searles 'chinesisches Zimmer'.

Kenn ich. Schönes Argument. Aber falsch. :mg:
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 19:51

El Schwalmo hat geschrieben:Myron vertritt die in der Philosophie übliche Definition, die allerdings besagt, dass es in den Naturwissenschaften kein 'Wissen' geben kann.


Nein, das besagt sie nicht!

El Schwalmo hat geschrieben:Wenn sich der Stand der Erkenntnis geändert haben sollte und das, was gestern noch als 'Wissen' galt, heute falsch ist, hat sich eigentlich nichts geändert. 'Damals' war das Wissen, heute nicht mehr.
Nach der Definition, die Myron verwendet, hätte es sich nie um 'Wissen' gehandelt.


Richtig, da man—ich betone es zum x-ten Mal—nicht wissen kann, dass etwas der Fall ist, wenn es gar nicht der Fall ist.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Di 15. Jun 2010, 20:05

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Myron vertritt die in der Philosophie übliche Definition, die allerdings besagt, dass es in den Naturwissenschaften kein 'Wissen' geben kann.

Nein, das besagt sie nicht!

wenn ich die Erkenntnismethodik der Naturwissenschaften verstanden habe, gibt es nur vorläufiges 'Wissen'. Selbstverständlich kann es nach Deiner Definition 'Wissen' geben, nur wissen wir nicht, ob wir es haben. Daher macht Deine Definition von 'Wissen' in den Naturwissenschaften keinen Sinn. Das ist mein Punkt, und das ist der Punkt von Darwin Upheaval.

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Wenn sich der Stand der Erkenntnis geändert haben sollte und das, was gestern noch als 'Wissen' galt, heute falsch ist, hat sich eigentlich nichts geändert. 'Damals' war das Wissen, heute nicht mehr.
Nach der Definition, die Myron verwendet, hätte es sich nie um 'Wissen' gehandelt.

Richtig, da man—ich betone es zum x-ten Mal—nicht wissen kann, dass etwas der Fall ist, wenn es gar nicht der Fall ist.

Eben, aber der Punkt ist, wie man entscheiden kann, ob etwas der Fall ist.

Wie gesagt, wir reden auf unterschiedlichen Ebenen. Du als Philosoph, ich als Naturwissenschaftler. Allerdings maße ich mir nicht an, die Denke der Naturwissenschaften für Philosophen verbindlich zu machen, Du schreibst Naturwissenschaftlern auch nicht mehr vor, als sich darüber klar zu sein, was sie meinen, wenn Sie von 'Wissen' reden. Nicht ohne Grund verzichte ich auf den Begriff 'Wissen', sondern sage 'zeitkernige Geltung'. Das ist dann erreichbar, 'justified belief', 'true' ist ein Ideal, unerreichbar. Es sei denn, jemand zeigt mir, wie es erreicht werden kann.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 20:11

darwin upheaval hat geschrieben:Vermutungswissen ist definitionsgemäß ein Wissen, dessen Wahrheitswert nicht bekannt ist.


Genau deshalb könnte es sich ja als falscher Glaube herausstellen.

darwin upheaval hat geschrieben:Nach der üblichen Definition kann man dafür nicht den Begriff "Wissen" verwenden (true justified belief), sondern allenfalls "justified belief". Damit wäre die Bezeichnung "Vermutungswissen" ein Widerspruch in sich. Für Dich als Traditionalisten können wissenschaftliche Vermutungen also allenfalls ein Glaube und kein Wissen sein, denn wer nach herkömmlicher Lesart Vermutungen als Wissen zulässt, der kann den Unterschied zwischen Glauben und Wissen gleich aufgeben.


Glauben und Wissen schließen einander nicht aus, da Wissen eine Art Glauben ist.
Vermutungswissen ist folglich ein wissenschaftlich gerechtfertigter, sehr wahrscheinlicher Glaube, der relativ zu anderen "Glaubungen" als Wissen gelten darf, wobei "darf als Wissen gelten" und "ist Wissen" nicht bedeutungsgleich sind. Denn was in einem Jahrhundert als Wissen gilt, kann sich im nächsten Jahrhundert als falscher, irrtümlicher Glaube herausstellen. In diesem Fall sind die Wissenschaftler von den Gründen, die für die Wahrheit des betreffenden Glaubens sprachen, in die Irre geführt worden.

darwin upheaval hat geschrieben:Wenn wissenschaftliches Wissen also kein Wissen ist, was ist es dann? Glaube, so wie die Religion ein Glaube ist?


Ich sage doch nicht, dass in den Wissenschaften keine Wissensansprüche erhoben werden dürfen und nichts als Wissen gelehrt werden darf.

"Remember … that whether one has a specific piece of knowledge could be quite a different matter to whether one may properly claim to have it. Similarly, most epistemologists will advise us not to confuse what makes a belief knowledge with what rationally assures someone that her belief is knowledge. For example, it is possible—according to fallibilist epistemologists in general—for a person to have some fallible knowledge, even if she does not know infallibly which of her beliefs attain that status."

(http://www.iep.utm.edu/fallibil/#H9)
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Di 15. Jun 2010, 20:32

smalonius hat geschrieben:Halt, halt, langsam. Ich wollte auf etwas anderes hinaus: nämlich daß eine Aussage, die keine Konsequenzen hat, sinnlos ist.

vermutlich wirst Du ein Problem bekommen, falls Du definieren müsstest, was in diesem Sinn 'keine Konsequenzen haben' bedeuten könnte. Du hast sogar einen Koan zitiert. Der hatte offenbar eine Konsequenz.

smalonius hat geschrieben:Die Philosophie war da auch schon mal weiter. "Worüber man nichts sagen kann, davon muß man schweigen" oder so ähnlich heißt's bei Wittgenstein. Schade, daß die Philosophie sich so wenig daran hält.

Sagen wir so: Wittgenstein (der stolz von sich behauptete, die Werke anderer Philosophen, vor allem der Klassiker, nicht zu kennen), hat zu Beginn seines Schaffens eine Position vertreten, die Dir gefällt. Aber Wittgenstein ist nicht die Philosophie, und Wittgenstein selber war von seinem Ansatz später gar nicht mehr so überzeugt. Es hat einen sehr triftigen Grund, warum Stegmüller in seinen 'Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie' Wittgenstein zwei Kapitel widmet. Man kann das schade finden, aber auch als Fortschritt deuten.

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Ich sehe keinen Sinn darin, Begriffe aus der Alltagssprache in Fachterminologie zu übernehmen, wenn sich der Sinn massiv ändert.

Ja und nein. Wenn ich dir einen Sandsack von 50 kg aufschultere und du damit rumstehst, verrichtest du im physikalischen Sinn keine Arbeit. Könnte sein, daß du selbst das umgangssprachlich anders siehst. ;-)

Als Biologe sehe ich eher, dass man in Physiologie-Lehrbüchern isotonische und isometrische Kontraktion beschrieben findet. Beide Vorgänge verbrauchen sehr viel ATP. Kann sein, dass das nicht umgangssprachlich ist.

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Kary, M.; Mahner, M. (2002) 'How Would You Know if You Synthesized a Thinking Thing?' Minds and Machines 12:61-86

Werd's beizeiten mal suchen. Mal sehen, ob sie Turings Ideen etwas hinzufügen können.

Lies mal.

Ich bin Agnostiker. Ich weiß nicht, ob Maschinen denken können. Ich weiß nur, dass das, was wir Menschen als 'Denken' empfinden, mit den Maschinen, die ich kenne, nicht emulierbar ist. Das mag sich ändern, ich warte.

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Du kennst sicher auch Searles 'chinesisches Zimmer'.

Kenn ich. Schönes Argument. Aber falsch. :mg:

Wäre interessant, zu definieren, was daran 'falsch' ist. Aber über dieses Thema wurde auch schon sehr viel Tinte verspritzt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es über 10 Jahre her ist, seit ich mich das letzte Mal mit solchen Fragen befasste und nicht weiß, ob sich inzwischen etwas geändert hat.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 20:59

El Schwalmo hat geschrieben:wenn ich die Erkenntnismethodik der Naturwissenschaften verstanden habe, gibt es nur vorläufiges 'Wissen'. Selbstverständlich kann es nach Deiner Definition 'Wissen' geben, nur wissen wir nicht, ob wir es haben.


Der fallibilistischen Auffassung ist es nicht 100%ig sicher, dass das, was wir als Wissen gelten lassen, nicht doch bloß falscher Glaube ist. Das ist das epistemische Risiko der Fallibilisten, wovon ich bereits mehrmals gesprochen habe.

El Schwalmo hat geschrieben:Daher macht Deine Definition von 'Wissen' in den Naturwissenschaften keinen Sinn.


Der Knackpunkt ist—hallo Gebetsmühle!—, dass eine Definition, die den Wahrheitsaspekt ausblendet, überhaupt keinen Sinn macht—weder innerhalb noch außerhalb der Naturwissenschaften.

(Ach ja, sprecht besser nicht von meiner Definition, sondern von der fallibilistischen, infallibilistischen oder kontextualistischen Definition (Lewis, Dretske)! Denn ich selbst habe nichts Originelles zum erkenntnistheoretischen Diskurs beigetragen.)

El Schwalmo hat geschrieben:Eben, aber der Punkt ist, wie man entscheiden kann, ob etwas der Fall ist.


Stichwort "Erkenntnisquellen":
http://plato.stanford.edu/entries/epistemology/#SOU

El Schwalmo hat geschrieben:Wie gesagt, wir reden auf unterschiedlichen Ebenen. Du als Philosoph, ich als Naturwissenschaftler.


Natürlich steckt der Fallibilist in einer blöden Situation, die Zweifel an der Vertretbarkeit des Fallibilismus aufkommen lassen:

"Thus (given fallibilism), you are trapped in the situation of being able to reach, at best, the following conclusion: 'Because my evidence provides fallible justification for my belief, the belief is fallible knowledge if it is true.' At which point, most probably, you will wonder, 'Is it true? That’s what I still don’t know. (I have no other way of knowing it to be true.)' [my emph.] And so — right there and then — you are denying that your belief is knowledge, because you are denying that you know it to be true. The fallibility in your justification leaves you dissatisfied, as an inquirer into the truth of a particular belief, at the idea of allowing that it could be knowledge, even fallible knowledge."

(http://www.iep.utm.edu/fallibil/#H9)

Ihr müsst schon zugeben, dass der Satz

"Wir wissen, dass p (wahr ist), obwohl wir nicht wissen, ob p (wahr ist)."

sehr komisch klingt, oder nicht?! :/
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 21:29

smalonius hat geschrieben:Der Widerspruch läßt sich leicht lösen, wenn man die Zahl 4 als konkretes Objekt ansieht.
Ich sehe nichts abstraktes darin, 4 als eine Menge mit sovielen Elementen zu sehen: {||||} Eine Menge mit 4 Elementen kann man jederzeit in Raum und Zeit herstellen.


Erstens sind Mengen selbst abstrakte Objekte und zweitens kann man die Zahl 4 nicht mit einer Menge von 4 Elementen gleichsetzen, da es ja viele solche Mengen gibt. Mit welcher davon ist die Zahl 4 dann identisch? Darauf kann es nur eine völlig willkürliche und damit unbefriedigende Antwort geben.

smalonius hat geschrieben:Imre Lakatos und Hilary Putnam nennen Mathematik quasi-empirisch. Putnam wird auch in deinem Link erwähnt. Er schrieb 1975 in What is Mathematical Truth ?
"mathematical knowledge resembles empirical knowledge - that is, that the criterion of truth in mathematics just as much as in physics is success of our ideas in practice, and that mathematical knowledge is corrigible and not absolute."
http://peccatte.karefil.com/Quasi/Koets ... katos.html


Ich denke eher, dass wenn es mathematisches Wissen gibt, es sich auf notwendige und damit "unberichtigbare" Wahrheiten bezieht.

smalonius hat geschrieben:Das Argument geht noch weiter. Wenn mathematische Aussagen falsch sind, dann ist die Algorithmik auch falsch, und jedes Programm, das auf einem Computer läuft, ebenso.


Ist ein Algorithmus nicht eine formale Vorschrift, die als solche sowieso weder wahr noch falsch ist?

smalonius hat geschrieben:Um's auf die Spitze zu treiben: wenn mathematische Aussagen falsch sind, dann gilt das auch für Logik und für logische Schlüsse.


Natürlich müssen sich die Fiktionalisten auch mit Thema logische Wahrheit befassen.
(Siehe: http://plato.stanford.edu/entries/logical-truth)
Aber ob deine Schlussfolgerung richtig ist, ist für mich noch eine offene Frage.

smalonius hat geschrieben:Konsequenterweise muß ein Fiktionalist den Fiktionalismus, genau wie Mathematik, als falsch ansehen.


Das bezweifle ich.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Di 15. Jun 2010, 21:32

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:wenn ich die Erkenntnismethodik der Naturwissenschaften verstanden habe, gibt es nur vorläufiges 'Wissen'. Selbstverständlich kann es nach Deiner Definition 'Wissen' geben, nur wissen wir nicht, ob wir es haben.

Der fallibilistischen Auffassung ist es nicht 100%ig sicher, dass das, was wir als Wissen gelten lassen, nicht doch bloß falscher Glaube ist. Das ist das epistemische Risiko der Fallibilisten, wovon ich bereits mehrmals gesprochen habe.

eben. Daher plädiere ich dafür, den Begriff 'Wissen' im Bereich der Naturwissenschaften durch 'zeitkernige Geltung' zu ersetzen.

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Daher macht Deine Definition von 'Wissen' in den Naturwissenschaften keinen Sinn.

Der Knackpunkt ist—hallo Gebetsmühle!—, dass eine Definition, die den Wahrheitsaspekt ausblendet, überhaupt keinen Sinn macht—weder innerhalb noch außerhalb der Naturwissenschaften.

Ich drehe auch mal die Gebetsmühle: Was nutzt mir ein Wahrheitsaspekt, den ich nicht einlösen kann?

Myron hat geschrieben:(Ach ja, sprecht besser nicht von meiner Definition, sondern von der fallibilistischen, infallibilistischen oder kontextualistischen Definition (Lewis, Dretske)! Denn ich selbst habe nichts Originelles zum erkenntnistheoretischen Diskurs beigetragen.)

Ich weiß, und ich erkenne meine Ignoranz der Diskussion durchaus an. Ich richte mich nur nach 'JTB' und konstatiere, dass nach dieser Definition 'Wissen' in dem Bereich, der mir wichtig ist, nicht festgestellt werden kann. Im Gegensatz zu Darwin Upheaval verzichte ich einfach auf den Begriff 'Wissen' und überlasse den Philosophen, sich damit zu befassen, wie auch immer sie das für richtig halten. Ich gehe nicht davon aus, dass das, was die treiben, obsolet ist, nur weil auf meiner Baustelle damit wenig anzufangen ist.

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Eben, aber der Punkt ist, wie man entscheiden kann, ob etwas der Fall ist.


Stichwort "Erkenntnisquellen":
http://plato.stanford.edu/entries/epistemology/#SOU

Danke für den Link. Welche Erkenntnisquellen im Bereich der Naturwissenschaften genutzt werden können, ist mir vertraut. Andere interessieren mich nur am Rande.

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Wie gesagt, wir reden auf unterschiedlichen Ebenen. Du als Philosoph, ich als Naturwissenschaftler.

Ihr müsst schon zugeben, dass der Satz

"Wir wissen, dass p (wahr ist), obwohl wir nicht wissen, ob p (wahr ist)."

sehr komisch klingt, oder nicht?! :/

Deshalb formuliere ich ja: 'wir vertreten als zeitkernig gültig, dass p, obwohl wir nicht wissen, ob p (wahr ist)."
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 21:40

El Schwalmo hat geschrieben:Daher plädiere ich dafür, den Begriff 'Wissen' im Bereich der Naturwissenschaften durch 'zeitkernige Geltung' zu ersetzen.


Auch in der Theologie gilt dies und das…

El Schwalmo hat geschrieben:Ich drehe auch mal die Gebetsmühle: Was nutzt mir ein Wahrheitsaspekt, den ich nicht einlösen kann?


Tja, wie sagt Wittgenstein so schön:

"Es ist immer von Gnaden der Natur, wenn man etwas weiß."

(in Über Gewissheit, §505)

:^^:

El Schwalmo hat geschrieben:Welche Erkenntnisquellen im Bereich der Naturwissenschaften genutzt werden können, ist mir vertraut. Andere interessieren mich nur am Rande.


Die Naturwissenschaften sind Erfahrungswissenschaften, was eben bedeutet, dass die Sinneswahrnehmung ihre Haupterkenntnisquelle ist.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Di 15. Jun 2010, 21:52

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Daher plädiere ich dafür, den Begriff 'Wissen' im Bereich der Naturwissenschaften durch 'zeitkernige Geltung' zu ersetzen.

Auch in der Theologie gilt dies und das…

eben. Aber Du fällst voll auf den Bauch, wenn Du einem etwas beleseneren Theisten etwas als 'Wissen' verkaufen willst, das sich auf Empirie gründet.

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Ich drehe auch mal die Gebetsmühle: Was nutzt mir ein Wahrheitsaspekt, den ich nicht einlösen kann?


Tja, wie sagt Wittgenstein so schön:

"Es ist immer von Gnaden der Natur, wenn man etwas weiß."

(in Über Gewissheit, §505)

:^^:

Dazu bleibt nur zu sagen, dass wir nicht einmal wissen, ob uns die Natur gnädig war. Das ist mein Punkt.

Schau mal auf das Alter der Erde. Längere Zeit fand man mehr oder weniger identische Angaben in der Literatur, weil die Ergebnisse verschiedener Messungen übereinstimmten. Gerade fand man heraus, dass man dieses Datum 'etwas' korrigieren muss. Die Natur war also so gnädig, uns zu zeigen, dass sie uns früher weniger gnädig war. Nach JTB macht es keinen Sinn, zu sagen, man wisse, wie alt die Erde ist. Es ist aber vollkommen korrekt, zu sagen: 'das Alter x für die Erde wird zum Zeitpunkt y als z Jahre angesehen'. Ob z 'wahr' ist, who knows, und vor allem, what matters? Wir wissen es nicht, und das ist halt so, eingepreist im Erkenntniskonzept der Naturwissenschaften. Biologen tun sich hier noch leichter als Physiker.

Myron hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Welche Erkenntnisquellen im Bereich der Naturwissenschaften genutzt werden können, ist mir vertraut. Andere interessieren mich nur am Rande.


Die Naturwissenschaften sind Erfahrungswissenschaften, was eben bedeutet, dass die Sinneswahrnehmung ihre Haupterkenntnisquelle ist.

Vielen lieben Dank für diese prägnante Bestätigung meines Standpunkts,
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 22:50

Myron hat geschrieben:
smalonius hat geschrieben:Um's auf die Spitze zu treiben: wenn mathematische Aussagen falsch sind, dann gilt das auch für Logik und für logische Schlüsse.

Natürlich müssen sich die Fiktionalisten auch mit Thema logische Wahrheit befassen.
(Siehe: http://plato.stanford.edu/entries/logical-truth)
Aber ob deine Schlussfolgerung richtig ist, ist für mich noch eine offene Frage.


Der Fiktionalismus als eine Form des Nominalismus ist für Naturalisten besonders attraktiv, weil es sehr zweifelhaft ist, ob der Naturalismus mit dem Abstraktismus (Platonismus), dem Glauben an die Existenz/Realität abstrakter Entitäten, vereinbar ist. Und gerade mathematische Abstrakta erscheinen aus naturalistischer Sicht ontologisch "anrüchig".
Was ist nun mit logischen Aussagen wie "(p & q) –> p". Welche ontologischen Implikationen ergeben sich aus der Anerkennung der Wahrheit dieser Aussage? Zum Vergleich: Wenn "1 + 1 = 2" wahr ist, dann ist auch "2 existiert" wahr.
Die Aussagenlogik setzt zumindest die Existenz von Aussagen (Propositionen) voraus, und wenn diese abstrakte Objekte sind, dann hat der Nominalist in Bezug auf Abstrakta erneut ein Problem, wobei linguistische Abstrakta weniger problematisch erscheinen als mathematische Abstrakta. Aber ansonsten hat "(p & q) –> q" keine weiteren ontologischen Implikationen.

Ich möchte hier am Rande die sogenannte Freie Logik erwähnen, die für Fiktionalisten interessant ist, weil sie im Gegensatz zur klassischen Logik nicht voraussetzt, dass sich singuläre Termini, d.i. Eigennamen und Kennzeichnungen, auf einen existenten Gegenstand beziehen:

"Classical logic requires each singular term to denote an object in the domain of quantification—an “existing” object. Free logic does not. Free logic is therefore useful for analyzing discourse containing singular terms that either are empty (have no referent or refer to objects that do not exist) or might be."
(http://plato.stanford.edu/entries/logic-free)

Es steht für mich also keineswegs fest, dass ein Fiktionalist in Bezug auf mathematische Aussagen zugleich ein Fiktionalist in Bezug auf logische Aussagen sein muss.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Bionic » Di 15. Jun 2010, 23:54

El Schwalmo hat geschrieben:Myron vertritt die in der Philosophie übliche Definition, die allerdings besagt, dass es in den Naturwissenschaften kein 'Wissen' geben kann.

Das halte ich doch für etwas überheblich. Manche Überzeugungen können sich sicher noch verändern, aber einige Dinge sind ja schon ziemlich gut belegt.
Ich werd jetz aber mal ein bisschen gemein. Der Begriff "Wissen" ist ja gar nicht so eindeutig deffiniert, oder?
El Schwalmo hat geschrieben:Daher plädiert Darwin Upheaval dafür, den Begriff 'Wissen' so zu verändern, dass auch das, was die Naturwissenschaften herausgefunden zu haben meinen, jeweils als 'Wissen' bezeichnet werden darf. Wenn sich der Stand der Erkenntnis geändert haben sollte und das, was gestern noch als 'Wissen' galt, heute falsch ist, hat sich eigentlich nichts geändert. 'Damals' war das Wissen, heute nicht mehr.

Der Wissens-Begriff ist ja wie ich gerade, etwas zu meiner Überraschung festgestellt habe, gar nicht so leicht zu erklären.
Vieleicht sollten wir zuerst mal festlegen wie wir den Begriff hier deffinieren wollen.
Aber sicher eine intressante Diskusion.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mi 16. Jun 2010, 05:49

Bionic hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Myron vertritt die in der Philosophie übliche Definition, die allerdings besagt, dass es in den Naturwissenschaften kein 'Wissen' geben kann.

Das halte ich doch für etwas überheblich.

ich sehe nicht, dass das überheblich ist. Myron bestreitet sogar, dass das aus der von ihm verwendeten Definition folgt.

Bionic hat geschrieben:Manche Überzeugungen können sich sicher noch verändern, aber einige Dinge sind ja schon ziemlich gut belegt.
Ich werd jetz aber mal ein bisschen gemein. Der Begriff "Wissen" ist ja gar nicht so eindeutig deffiniert, oder?

Natürlich. Die Frage ist eher, wer die Deutungshoheit hat, oder ob es vielleicht in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Definitionen geben kann. Darwin Upheaval stellt die Naturwissenschaften ins Zentrum und erachtet von dieser Denkweise aus gesehen die von Myron verwendete Definition als obsolet, während ich 'nur' davon ausgehe, dass die Philosophie keine Deutungshoheit im Bereich der Naturwissenschaften hat, und mir weiter keine Gedanken über die Problematik mache. Allerdings verzichte ich auf den Begriff 'Wissen'. Darwin Upheaval scheint diesen Begriff zu benötigen, um die Überlegenheit des naturwissenschaftlichen Ansatzes gegenüber anderen Weltdeutungen herauszustellen. Das muss aber scheitern, wenn er 'Wissen' nicht in dem Sinn verwenden kann, wie es in JTE ausgedrückt wird.

Bionic hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:Daher plädiert Darwin Upheaval dafür, den Begriff 'Wissen' so zu verändern, dass auch das, was die Naturwissenschaften herausgefunden zu haben meinen, jeweils als 'Wissen' bezeichnet werden darf. Wenn sich der Stand der Erkenntnis geändert haben sollte und das, was gestern noch als 'Wissen' galt, heute falsch ist, hat sich eigentlich nichts geändert. 'Damals' war das Wissen, heute nicht mehr.

Der Wissens-Begriff ist ja wie ich gerade, etwas zu meiner Überraschung festgestellt habe, gar nicht so leicht zu erklären.
Vieleicht sollten wir zuerst mal festlegen wie wir den Begriff hier deffinieren wollen.
Aber sicher eine intressante Diskusion.

Aber nicht einmal in diese Forum neu. Ich habe derartige Fragen schon vor über 10 Jahren im UseNet längelang mit anderen Menschen durchdiskutiert, ohne Anspruch auf Originalität oder gar Neuheit zu erheben.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon smalonius » Mi 16. Jun 2010, 23:14

Myron hat geschrieben:Erstens sind Mengen selbst abstrakte Objekte und zweitens kann man die Zahl 4 nicht mit einer Menge von 4 Elementen gleichsetzen, da es ja viele solche Mengen gibt. Mit welcher davon ist die Zahl 4 dann identisch? Darauf kann es nur eine völlig willkürliche und damit unbefriedigende Antwort geben.

Was du gerade über die 4 gesagt hat, läßt sich genausogut über einen Baum sagen.

Erstens sind Bäume selbst abstrakte Objekte und zweitens kann man das Wort Baum nicht mit einer Menge von Blättern, Ästen und Wurzeln und einem Stamm gleichsetzen, da es ja viele solcher Mengen, darüberhinaus viele verschiedenen Baumarten gibt. Mit welcher davon ist das Wort Baum dann identisch? Darauf kann es nur eine völlig willkürliche und damit unbefriedigende Antwort geben.

Natürlich ist die Antwort auf die Frage, was ein Baum ist, nicht beliebig. Genausowenig sind Zahlen beliebig.

Eher schon ist "abstrakt" und "real" ein beliebiges Gegensatzpaar, da kann man die Brennschärfe eng oder weit stellen. Die 4 aber bleibt immer die 4, egal welches Objektiv man aufsetzt.

Myron hat geschrieben:Ist ein Algorithmus nicht eine formale Vorschrift, die als solche sowieso weder wahr noch falsch ist?

Ich verdrehe dir nochmal deine Worte im Mund. Falschzitat als Diskussionsmethode. :pfeif:
Ist ein Satz nicht eine grammatikalische Vorschrift, die als solche weder wahr noch falsch ist?

Sicher kann man sich sinnlose Algorithmen ausdenken, zum Beispiel: Ein Schritt vor, ein Schritt zurück. Das ist eine formale Vorschrift, aber eine nutzlose.

Wenn ich einen Sortier-Algorithmus baue und einen Fehler mache, dann sortiert er nicht. Dann ist er falsch.


Das Stichwort Algorithmus passt mir übrigens gut. In meiner obigen Liste der unterschiedlichen Wissensarten - Messergebnisse, Gleichungen, Modelle - habe ich Algorithmen (= methodisches Wissen) vergessen. Dabei ist Methodenwissen eigentlich die Trumpfkarte, um systematisch "Wissen" zu produzieren.

Algorithmen sind mathematisch beweisbar, manche wenigstens. Man kann sie nicht nur auf Zahlen, sondern auch auf die wirkliche Welt anwenden. Siehe obiges Roboter-Beispiel. Die Programmierer von "Adam" wußten etwas über die Welt, sonst hätten sie Adam nicht so programmieren können, daß die Maschine selbständig und hirnlos etwas Neues herausfindet.
Zuletzt geändert von smalonius am Mi 16. Jun 2010, 23:34, insgesamt 1-mal geändert.
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