Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichkeit

Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon mat-in » Sa 6. Aug 2011, 21:03

Ich kann nur sagen: Schule war scheiße. Alles was ich von da mitgenommen habe war sozialer Frust und fast kein Wissen... aber gut, gehen wir auf den Vergleich ein.

In unserer Gesellschaft ist helfen am ehesten eine Sache vor anderen gut da zu stehen oder sein Gewissen zu beruhigen. Niemand hilft des helfens wegen. Aber auch in anderen Gesellschaften kann ich keine Pflicht zu helfen erkennen. Weder moralisch noch aus biologischer Sicht. Ein besseres Beispiel als die Schule, eines das mit helfen zu tun hat:

Du kommst auf einer dunklen Landstraße an einem liegengebliebenen Wagen vorbei, um den 3 finstere Gestalten herumstehen und du bist allein im Auto. Natürlich bist du verpflichtet zu helfen, man könnte dich sogar wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen, wenn was schlimmes passiert ist und du einfach weiter fährst. Es verlangt aber auch niemand von dir, auf die Bremse zu latschen, das dein Wagen kaputt geht, die dunkle Landstraße zu überqueren und dich zu gefährden und dann auf die drei Gestalten zuzugehen die dort vielleicht auch einen drogendeal abhandeln statt den Wagen zu reparieren. Niemand wird dir einen Strick draus drehen, weiter zu fahren und polizei/rettung zu benachrichtigen. Auch dann hast du geholfen. Ohne dich unnötig in Gefahr zu bringen. Weder schwarz noch weiß.

Was ich aber sagen muß ist, daß ich nicht denke, das Leute wie die in Somalia "selbst Schuld" sind. wir fahren ja hin und sagen ihnen als frohe Botschat, das sie keine Kondome nutzen sollen... :erschreckt:
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ujmp » Sa 6. Aug 2011, 22:21

mat-in hat geschrieben:Was ich aber sagen muß ist, daß ich nicht denke, das Leute wie die in Somalia "selbst Schuld" sind. wir fahren ja hin und sagen ihnen als frohe Botschat, das sie keine Kondome nutzen sollen... :erschreckt:

Wenn du ihnen die Verantwortung für sich selbst absprichst, sagst du damit, dass sie zu dumm sind und deine Fürsorge benötigen- etwa nicht?
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Lumen » So 7. Aug 2011, 01:16

ganimed hat geschrieben:
Lumen hat geschrieben:Du kannst in deiner Freizeit aber nicht mal eben die Welt retten. ... Es wäre sinnvoller sich darauf zu verlegen, große Ketten mittels organisiertem Boykott zum handeln zu zwingen, als selbst immer wieder kleinste Tröpfchen auf heiße Steine zu träufeln.

Auch hier sehe ich dieselbe Ausweichstrategie. Statt konkret zu helfen einfach erstmal über die ganz großen Fragen lamentieren mit dem Fazit: die perfekte Lösung gibt es nicht, also drehe ich Däumchen.

Nur um das klarzustellen. Diese moralische Besserwisserei ist mir schon ein wenig unangenehm aber es hilft ja nichts. Ich gebe hier aber nur den Advocatus Diaboli. Selber bin ich mindestens ebenso moralisch verkommen und mache in Sachen Afrika nichts besonderes. Also gebt schon zu, dass ich in der Sache völlig recht habe und schon bin ich still :) Wenn wir alle schon nichts tun und diese grausigen Widersprüche zwischen Arm und Reich auf der angeblich globalisierten Welt existieren, dann will ich verdammt nochmal wenigstens, dass wir Reichen ein schlechtes Gewissen haben und zugeben, wie moralisch verkommen wir sind.


Weshalb sollten "wir Reichen" ein schlechtes Gewissen haben? Weil wir auf der verkehrten Hälfte der Welt geboren wurden? Weil ich durch meine Handlung in irgendeiner mir unbewussten Weise andere Menschen schade? Inwiefern ist das eigentlich möglich? Die Welt mag global sein, aber das heißt noch lange nicht, dass es eine nachvollziehbare Kausalkette von mir zu den armen Teufeln in der Sahelzone gibt. Es könnte eine systematische Verbindung von "Menschen wir mir" geben, aber inwiefern hänge ich da drin?

In vielen Gegenden wo große Not herrscht ist es leider auch so, dass Korruption und Bürgerkriege blühen, dass Menschen andere Erwartungen an den Staat und irgendwie schicksalsergebener zu sein scheinen. Erst vor kurzem sah ich eine Doku über Südafrika, wo die Armen mit dem ANC unzufrieden waren, weil städtische Infrastrukturen nicht gut funktionierten und —jetzt kommts— die zuvor installierten Toiletten noch keine Klohäuschen hatten. Dort wurde vor geraumer Zeit vorher halb-öffentliche Klos, nach "fast" westlichem Standard errichtet, mit Spühlung und so. Die Leute vor der Kamera haben buchstäblich darüber lamentiert, dass sie die Klos nicht so richtig nutzen könnten, weil die Häuschen (also der Sichtschutz) fehlten und zwar seit langem. Die kamen irgendwie nicht auf die Idee, sich selbst darum zu kümmern und gingen laut eigener Ausage dann lieber nur Nachts aufs Klo. Überall lag dort Schrott und Teile herum, und auch hinsichtlich Baumaterial sah es nicht wie eine leere Wüste aus, was ein Unterfangen wie Klohäuschen bauen praktisch unmöglich gemacht hätte. So wie es dort (Anekdote natürlich!) klang, hatten die einfach die Erwarungshaltung, dass da praktisch jeden Tag jemand kommen könnte, der das für sie erledigt. In der Art wie "Warum soll ich mich selbst um Klo-Sichtschutz kümmern wenn schon morgen der staatliche Monteur kommen könnte. Mit Nachts aufs Klo gehen oder sich provisorisch unter einer Decke verstecken gehts eben ja auch..." Nur ging das da schon Ewigkeiten.

Ich verstehe es nicht genau, aber es scheint so dass mehr oder weniger eingebildete Perspektivlosigkeit Leute in völlige Apathie verfallen lässt. Ich weiß nicht, warum es anderswo gelingt, dass Leute durchaus auch in kargen Landstrichen was zu Stande bringen, während an anderen Orten die Leute scheinbar den ganzen Tag zwischen Schrott und halb verfallenen Häusern abhängen und traurig in die Kamera blicken. Es kann mir irgendwie keiner glaubhaft erklären, warum es unmöglich sein soll, z.B. was für die Wasserversorgung zu tun. Wie schwer kann das wirklich sein? Wenn es da wirklich-wirklich kein Wasser gibt, dann ist da schon ein Fehler im Denken drin. Das ist natürlich keine triviale Aufgabe, vielleicht wird das Unterfangen auch von den bösen Reichen aus dem Norden und ihren ungefragte Gratis-Wasserlieferungen unterwandert, aber so richtig plausibel erscheint mir das auch nicht.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ujmp » So 7. Aug 2011, 07:25

Es ist vielleicht "erlernte Hilflosigkeit", aber vielleicht auch angeborene. Wenn letzteres zutrifft muss man -- aus reiner Menschlichkeit -- die Dinge für sie regeln.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » So 7. Aug 2011, 08:39

ujmp hat geschrieben:Man kann nicht alles regeln und deshalb kann man von Misständen nicht gleich auf unmoralisches Verhalten schließen. ... Es ist allein deshalb die schlimmste Hungerkastrophe, weil noch nie zuvor so viele Menschen dort gelebt haben.

Völlig richtig. Man kann nicht von den Missständen auf unmoralisches Verhalten schließen. Wie groß die Missstände sind, egal. Wie sehr die Afrikaner selbst Schuld sind, egal. Bei der moralischen Bewertung deiner Nichthilfe geht es nur um die Frage, wie viel deiner Ressourcen setzt du ein um den Versuch zu machen, Menschenleben zu retten. Deine Ausführungen, wie groß, grundsätzlich und selbstgemacht das Problem ist, können also nur Ausflüchte sein. Es sei denn, du wolltest darauf hinaus, dass eine direkte finanzielle Hilfe auf keinen Fall Menschenleben retten kann.

ujmp hat geschrieben:Die Menschen einfach nur satt machen, hilft da wenig, man produziert dadurch langfristig nur noch mehr Hungernde.

Das fnde ich ziemlich zynisch. Stell dir doch mal vor, du wärst ein Verhungernder und du bekämst eine Portion Ernussbutter und du müsstest nicht in einer Ecke deiner Lehmhütte verenden, sondern könntest noch viele weitere Jahre leben. Das, findest du, war wenig Hilfe? Damit stellst du dich aber recht deutlich außerhalb der allgemeinen Moral, die zumindest nach meinem Eindruck wenigstens ideell in unserer Gesellschaft herrscht.

mat-in hat geschrieben:Ein besseres Beispiel als die Schule, eines das mit helfen zu tun hat

Das ist daneben gegangen. Dein Beispiel hatte vor allem mit begründeter Angst um das eigene Wohlergehen zu tun. Man musste deshalb abwägen und konnte zurecht auf eine direkte Hilfe verzichten. Erklär mir mal, was dein Wohlergehen gefährdet, wenn du Geld an eine Hilfsorganisation überweist? Sicherer und einfacher kann ich mir Lebensrettung nicht vorstellen.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Arathas » So 7. Aug 2011, 12:12

ganimed hat geschrieben:Bei der moralischen Bewertung deiner Nichthilfe geht es nur um die Frage, wie viel deiner Ressourcen setzt du ein um den Versuch zu machen, Menschenleben zu retten.


Aber Menschen funktionieren nicht auf diese Weise. Stell dir vor, einer würde das wirklich machen und all sein übriges Geld spenden. Irgendwann denkt er sich vielleicht: Mensch, bin ich blöd. Wenn ich einfach aufhör zu arbeiten, füttert mich der Staat durch und ich hab genausoviel wie jetzt. Und es ist nicht moralisch verwerflich, nichts zu spenden, wenn man selbst nicht zuviel hat. Also kündige ich. Peng.

Oder der Familienvater, der einen stressigen Job hat und seinen dreiwöchigen Urlaub mit Nixtun am Strand braucht, um wieder zu Kräften zu kommen. Der Urlaub fällt aber flach, weil alles gespendet wird. Paps kriegt Burnout und wird wochenlang vom Arzt zu Rehas geschickt. Dann geht auch noch das Auto der Familie kaputt, aber es ist kein Geld da, um ein neues zu kaufen, weil man das Ersparte gespendet hat. Und dann ... und so weiter und so fort. ;-)

Das kann's irgendwie ja auch nicht sein. Menschen funktionieren nicht so, wie du das willst - so wie Maschinen.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Nanna » So 7. Aug 2011, 14:59

Der Fokus sollte zuallererst mal darauf liegen, sich im direkten Umfeld anständig zu verhalten. Respekt gegenüber Mitmenschen zeigen, Familie, Freunde und Kollegen anständig behandeln, keine Extremisten wählen, keine Produkte kaufen, von denen man weiß, dass Blut dran klebt, nicht aus purer Bequemlichkeit Umweltschäden provozieren. Wie eben Gott zu Moses in "Gesetzgeber" von Ralf König sagt: "Entspannt euch! Haltet Frieden! Übt euch in Respekt! Habt Humor! Lacht! Tanzt! Liebt! Trennt euren Müll!"

Die meisten Leute sind gefordert genug, das überhaupt hinzukriegen. Und ist es nicht auch manchmal eine Flucht vor dem mühsamen Alltagsanstand, einfach am Ende des Monat 20 € an worldvision abzudrücken? In der Psychologie mehren sich seit Jahren die Hinweise darauf, dass Menschen dazu neigen, bei ihrem Verhalten Gleichgewichtszustände anzustreben und innere Ablasshandel zu betreiben. Wer Bioprodukte kauft, meint manchmal, dafür an der Kasse herumpöbeln zu dürfen. Wer einen Apfel gegessen hat, meint, danach eine Portion Pommes verdient zu haben. Wer der Oma über die Straße geholfen hat, meint, dafür dann 20 min. später rücksichtslos überholen zu dürfen. Natürlich sind dem Einzelnen diese Zusammenhänge nicht bewusst und selbst wer sie kennt, ist nicht zwangsläufig in der Lage, sie zu durchbrechen.

Die Welt ist zu komplex und unübersichtlich für einen einzelnen Menschen, um wirklich umsichtig zu handeln. Versuch mal einen Tag zu konstruieren, an dem du zu 100% umsichtig, rücksichtsvoll und ethisch belastbar gehandelt hast, nur als Gedankenexperiment. Mit allem, was dazugehört: Arbeiten, soziales Leben, Konsum, Zeitdruck, partielles Wissen; normale Anforderungen halt, ein Waldspaziergang zählt nicht. Ich verwette das Forum, dass niemand es schafft, auch nur eine Stunde eines solchen Tages zu konstruieren, die sich so leben ließe, dass ideales ethisches Verhalten auf die dynamische Wirklichkeit trifft und trotzdem 100%ig möglich ist.

Was heißt das jetzt? Dass ganimed mit seinen dystopischen Ideen recht hat? Vielleicht. Eigentlich aber nur dann, wenn man ideales ethisches Verhalten als Maßstab aller Dinge begreift. Und da kommt mir eine Frage:
Was ist eigentlich deine Erwartung, ganimed? Wie sieht die ideale Welt aus, die du als (unbewussten?) Kontrast der realen Welt gegenüberstellst? Hast du sie überhaupt irgendwie schonmal definiert, oder machst du einfach intuitive, implizite Annahmen und überprüfst gar nicht, ob deine Vision überhaupt a) theoretisch konsistent ist und b) in der physischen Welt - zumindest unter idealen Anfangsbedingungen - umsetzbar wäre?

Ich für meinen Teil mag es, wenn Systeme, auch soziale, funktionieren, d.h. mit wenig Aufwand einen gewünschten Effekt herbeiführen, selbst wenn dafür hier und da Kompromisse und work-arounds nötig sind. Das Ziel in meinem Fall wäre, dass wir in einer Welt leben, in der so gut wie alle Menschen ausreichend Chancen haben, mit ihrem Leben einigermaßen zufrieden sein zu können, in dem Macht so verteilt ist, dass die Gefahr von Machtmissbrauch minimiert wird, aber die Handlungsfähigkeit von Verwaltern sozialer Systeme (Staaten, Kommunen, Unternehmen, Familien, etc.) noch ausreichend gegeben ist.
Warum? Simpel: Weil ich mich dabei besser fühle, weil meine genetische Veranlagung für soziale Fairness, die ich mit fast allen Menschen teile, meine Erziehung, meine prägende Kultur und meine Lebenserfahrung mich darauf schließen lassen, dass ich in so einer Welt am ehesten leben kann und möchte, dass verschiedene Aspekte menschlicher Existenz in diesem Universum so in etwa am besten austariert werden (Die Maslowsche Bedürfnispyramide ist hier wohl mal wieder das zentrale Stichwort). Ich entscheide mich also aus sehr funktionialistischen Gründen für bestimmte ethische Werte, die recht stark mit dem korrelieren, was als univerale Menschenrechte bekannt wurde (und im Grunde philosophisch auch recht dünn legitimiert sind, ihr Erfolg hängt einfach damit zusammen, dass er zu unseren Vorstellungen von Fairness passt; s.a. weiterführend John Rawls "A Theory of Justice").
Ich bin mir aber auch klar, dass es in einer dynamischen, komplexen Umwelt immer nur Streben geben kann und permanente Anpassungen nötig sind, um einen Zustand zu halten, der eher das Prädikat " ethisch ausreichend" verdient als "ethisch perfekt".
Die Implementierung ethischer Standards in die Wirklichkeit verlangt eben Gelassenheit, Kompromisse und vor allem Geduld. Wir sind heute sicher ethisch besser dran als die Menschen vor 1000 Jahren (man beachte allein die Innovationen in der Gesetzgebung, in der Machtverteilung, die höheren ökonomischen und medizinischen Standards, die hohe Allgemeinbildung usw.). Entscheidend ist, dass wir stetig etwas tun. Missstände, die über Jahrhunderte so gewachsen sind, werden mit aktionistischen Haurucktaten à la "Ich verkaufe mein Haus, spende das Geld und lebe im Wald" nicht gelöst, stattdessen fehlt dann die ökonomische Triebfeder für weiteren Fortschritt. Der afrikanische Wirtschaftsboom der letzten Jahre ist z.B. viel mehr der gestiegenen Mobilität (Verbreitung von Autos) und Telekommunikation (flächendeckender Mobilfunk) zu verdanken, als den reihenweise fehlgeschlagenen Entwicklungsprojekten. Billige Mobiltelefone hätte es aber in Afrika nie gegeben, wenn nicht so mancher im Westen statt zu spenden lieber den letzten Schrei von Nokia gekauft hätte.

Es ist halt alles nicht so einfach und eindeutig, deshalb sollte man sich mit rigorosen Aussagen etwas zurückhalten und lieber auf eine gesunde Verteilung seiner Ressourcen achten. Fairtrade und Bio kaufen, ein bisschen spenden, seinen Job anständig machen und seine Mitmenschen gut behandeln, das ist auf lange Sicht für das moralische Niveau der Gesellschaft vielleicht deutlich produktiver, als du es hier darstellst, ganimed. Mit biblischem Eifer lässt sich natürlich jeder "gesunde Kompromiss" delegitimieren, aber komm, das ist doch nun wirklich was für die Fanatiker, die ihren Wahrnehmungsausschnitt für die gesamte Realität halten.
Und irgendwo ist es übrigens meiner Meinung nach auch in Ordnung, wenn man sein Nervenkostüm in Ordnung hält anstatt sich in purer Selbstverachtung den ganzen Tag Videos von sterbenden Menschen in Somalia reinzuziehen. Das hat auch was von katholischer Selbstkasteiung, darüber ist unsere Kultur doch eigentlich glücklicherweise so langsam weg.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon tischl » So 7. Aug 2011, 20:13

ujmp hat geschrieben:Es ist vielleicht "erlernte Hilflosigkeit", aber vielleicht auch angeborene. Wenn letzteres zutrifft muss man -- aus reiner Menschlichkeit -- die Dinge für sie regeln.


Ist das "... aber vielleicht auch angeborene..." ernst gemeint, oder nur Zynismus? Wenn es aus Überzeugung so formuliert wurde, müsste man da mal ein "Rassismus-Screening" drüberlaufen lassen...
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon mat-in » Mo 8. Aug 2011, 17:51

ganimed hat geschrieben:
mat-in hat geschrieben:Ein besseres Beispiel als die Schule, eines das mit helfen zu tun hat..

Dein Beispiel hatte vor allem mit begründeter Angst um das eigene Wohlergehen zu tun. Man musste deshalb abwägen und konnte zurecht auf eine direkte Hilfe verzichten. Erklär mir mal, was dein Wohlergehen gefährdet, wenn du Geld an eine Hilfsorganisation überweist?
Du scheinst zum einen ein sehr naives Bild von Hilfsorganisationen zu haben und zum anderen weichst du meiner Frage aus. Ich habe (zum dritten mal) nie gesagt, daß wir Hilfsleistungen wie die akute Hungerhilfe einstellen sollen. Meine Forderung - wenn man denn langanhaltend, auf weite Sicht etwas ändern will - war, zusätzlich ein par Dinge zu tun. Diese würden jedoch enorm an unserem Lebensstil und unserer Gesellschaft rütteln. Darf ich deinem pochen auf "klassische Hilfe muß so sein" entnehmen, das du auch nur dein Gewissen beruhigen und den aktuellen status quo erhalten möchtest?

Äh... und können wir das irgend wie vom Norwegen Thema abspalten an einem Punkt der Sinn macht? Wir reden schon 2 Seiten über was anderes.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ujmp » Mo 8. Aug 2011, 22:37

ganimed hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Man kann nicht alles regeln und deshalb kann man von Misständen nicht gleich auf unmoralisches Verhalten schließen. ... Es ist allein deshalb die schlimmste Hungerkastrophe, weil noch nie zuvor so viele Menschen dort gelebt haben.

Völlig richtig. Man kann nicht von den Missständen auf unmoralisches Verhalten schließen. Wie groß die Missstände sind, egal. Wie sehr die Afrikaner selbst Schuld sind, egal. Bei der moralischen Bewertung deiner Nichthilfe geht es nur um die Frage, wie viel deiner Ressourcen setzt du ein um den Versuch zu machen, Menschenleben zu retten. Deine Ausführungen, wie groß, grundsätzlich und selbstgemacht das Problem ist, können also nur Ausflüchte sein. Es sei denn, du wolltest darauf hinaus, dass eine direkte finanzielle Hilfe auf keinen Fall Menschenleben retten kann.

ujmp hat geschrieben:Die Menschen einfach nur satt machen, hilft da wenig, man produziert dadurch langfristig nur noch mehr Hungernde.

Das fnde ich ziemlich zynisch. Stell dir doch mal vor, du wärst ein Verhungernder und du bekämst eine Portion Ernussbutter und du müsstest nicht in einer Ecke deiner Lehmhütte verenden, sondern könntest noch viele weitere Jahre leben. Das, findest du, war wenig Hilfe? Damit stellst du dich aber recht deutlich außerhalb der allgemeinen Moral, die zumindest nach meinem Eindruck wenigstens ideell in unserer Gesellschaft herrscht.


Die Bevölkerungszahl in Ätiopien hat sich in 50 Jahren vervierfacht! Das bedeutet, dass sich die Lebenschancen für ein Individuum auf ein Viertel reduziert haben, und dort gibt es sowieso fast nichts. Da frage ich mich, ob ich da nicht auf die Erdnussbutter verzichten würde. Ich fühle mich jedenfalls für das Elend in Afrika genau so wenig verantwortlich, wie für einen Tsunami.

Vielleicht würde es helfen, wenn man für jeden Transfer eine Gegenleistung verlangt, und dies sollten Bildungsnachweise sein. "Dieser Sack Mais kostet eine Lektion Englisch", "Dieses iPhone kostet Grundlagen der Analysis". Die Leute würden dabei einen Besitz erwerben, den ihnen keiner stehlen kann, etwas um dass sie kein Machthaber oder Shell-Bonze mehr bescheißen kann. Füttern müssen wir sie sowieso noch lange hin. Und wer nicht mitspielt - der hat halt seine Wahl getroffen...
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon ganimed » Di 9. Aug 2011, 00:00

Vielen Dank an den Admin für das Erzeugen dieses Threads und das Verschieben! Ich hoffe, es war nicht allzuviel Arbeit.

Nanna hat geschrieben:Der Fokus sollte zuallererst mal darauf liegen, sich im direkten Umfeld anständig zu verhalten.

Hm, in meinem direkten Umfeld sterben allerdings sehr wenig Menschen an Hunger. Dem einen oder anderen wäre mit medizinischen Wunder geholfen (gewesen), das schon. Aber so einfache Dinge wie ein paar Tuben Erdnusscreme entfalten ihre Wunderwirkung erst außerhalb meines direkten Umfeldes. Ich frage mich daher, wieso du den Fokus zunächst auf das direkte Umfeld lenken möchtest.

Nanna hat geschrieben:Die meisten Leute sind gefordert genug, das überhaupt hinzukriegen.

Und sie wären möglicherweise überfordert, zwei Dinge hinzubekommen. Anständig sein im persönlichen Umfeld und anständig handeln für Afrika. Wenn ich wegen drohender Überforderung also nur eins von beiden schaffe, dann doch lieber Afrika. Da kann man Leben retten. Hier im direkten Umfeld kann man nur sein Ansehen als netten Kerl von nebenan steigern.

Nanna hat geschrieben:Die Welt ist zu komplex und unübersichtlich für einen einzelnen Menschen, um wirklich umsichtig zu handeln.

Also goodbye umfassende Handlungsstrategie und Besserwisserei gegenüber der jetzigen Form von Hungerhilfe. Einfach mal Geld spenden und die komplexen Zusammenhänge einen guten Mann sein lassen.

Nanna hat geschrieben:Was heißt das jetzt? Dass ganimed mit seinen dystopischen Ideen recht hat? Vielleicht. Eigentlich aber nur dann, wenn man ideales ethisches Verhalten als Maßstab aller Dinge begreift. Und da kommt mir eine Frage:
Was ist eigentlich deine Erwartung, ganimed? Wie sieht die ideale Welt aus, die du als (unbewussten?) Kontrast der realen Welt gegenüberstellst?

Meine Erwartungen sind nicht so hoch, wie es vielleicht teilweise geklungen haben mag. Ich erwarte ja schließlich nicht die ideale Welt. Ich würde für unsere jetzige reale Welt erwarten, dass dem einen oder anderen noch etwas bewusster wird als es sicher ohnehin schon ist, dass wir genau genommen moralisch verwerflich agieren, wenn wir uns Urlaubsreisen oder anderen Luxus leisten während Menschen in Afrika verhungern. In einer idealen Welt würde daraus sofort und allgemein die Konsequenz gezogen, sich keinen Luxus mehr zu leisten. Die finanziellen Mittel der Hilfsorganisationen würden sich vervielfachen, die kurzfristige Hilfe in den jeweiligen Krisengebieten würde an Schlagkraft gewinnen und sehr viel weniger Menschen würden verhungern. In der realen Welt könnte es klappen, dass sich eine Handvoll Diskutanten im Brightsforum einen Tick bewusster werden, wie weit man von einer idealen Welt entfernt ist und wie schade das doch eigentlich ist.

Nanna hat geschrieben:Die Implementierung ethischer Standards in die Wirklichkeit verlangt eben Gelassenheit, Kompromisse und vor allem Geduld.

Das ist sicher richtig. Und es scheint dem Menschen in seiner Gelassenheit auch sehr leicht zu sein, den eigenen ethischen Standard eben nicht einzuhalten. Man ignoriert ihn, man misst gedanklich mit zweierlei Maß, man hat viele Ausreden und ein belastbares Arsenal an Ausflüchten. Genau das scheint mir nach den letzten zwei Seiten Beiträgen hier (bzw. im originalen Thread) recht sichtbar geworden zu sein. Ein trauriges Bild, wie ich finde, das man sich doch ruhig hin und wieder vor Augen führen sollte. Man muss ja nicht gleich was dran ändern.

Nanna hat geschrieben:ein bisschen spenden, seinen Job anständig machen ... das ist auf lange Sicht für das moralische Niveau der Gesellschaft vielleicht deutlich produktiver, als du es hier darstellst, ganimed. Mit biblischem Eifer lässt sich natürlich jeder "gesunde Kompromiss" delegitimieren, aber komm, das ist doch nun wirklich was für die Fanatiker, die ihren Wahrnehmungsausschnitt für die gesamte Realität halten.

Deinem Aufruf zur Gelassenheit würde ich völlig zustimmen, wenn ich meinerseits in biblischem Eifer zur Umkehr, zur Besinnung und zum Spenden der gesamten Sparguthaben aufgerufen hätte, wenn ich ein naiver Weltverbesserer wäre. Aber ich bin nur ein naiver Weltversteher, der wenigstens punktuell gerne kleine, aber vielleicht besonders pikante Punkte von Doppelmoral und Selbstbetrug ansprechen würde. Es geht mir nicht um Verhaltensänderung oder das Anheben des "moralischen Niveaus der Gesellschaft". Mir geht es lediglich um die Beschreibung des moralischen Niveaus, um eine uneitle moralische Abschätzung unserer eigenen Verhaltensweise. Und ich stelle einen Hang zur Doppelmoral fest hier im Forum. Bei Embryos oder zum Tode Verurteilten, bei norwegischen Jugendlichen oder auch bei Tieren sind wir sehr sensibel, was Moral und den Wert des einzelnen Lebens angeht. Zumindest mir scheint diese Sensibilität wie fortgewischt, wenn es um hungernde Afrikaner geht. So verständlich ein Abstumpfen gerade bei diesem Thema ist, so selbstverständlich sollte unser Wunsch sein, ein Abstumpfen bei uns zu attestieren, wenn eines stattfindet.
Zuletzt geändert von ganimed am Di 9. Aug 2011, 00:38, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon ganimed » Di 9. Aug 2011, 00:09

mat-in hat geschrieben:Ich habe (zum dritten mal) nie gesagt, daß wir Hilfsleistungen wie die akute Hungerhilfe einstellen sollen. Meine Forderung - wenn man denn langanhaltend, auf weite Sicht etwas ändern will - war, zusätzlich ein par Dinge zu tun.

Ich habe auch nie gesagt, dass wir Hilfsleistungen wie die akute Hungerhilfe einstellen sollen. Niemand hat das gesagt. Aber was haben wir denn nun eigentlich wirklich gesagt?

Ich habe gesagt, wenn wir der akuten Hungerhilfe nicht viel mehr spenden, dann sind wir unmoralisch. Mich würde jetzt interessieren, was du zu diesem Thema sagst.

Wenn ich dich richtig verstehe, ist deine Aussage, wie zweifelhaft die Effektivität und Nachhaltigkeit der akuten Hungerhilfe ist, völlig unabhängig von meiner Aussage zu sehen? Wenn ja, würdest du mir denn in meiner Aussage zustimmen? In deiner Aussage, für sich genommen, stimme ich dir übrigens sofort zu. Die Hungerhilfe löst keine langfristigen, systematischen Afrikaprobleme. Sie rettet einfach nur ein paar Menschenleben, fürs erste.
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon ganimed » Di 9. Aug 2011, 00:25

ujmp hat geschrieben:Die Bevölkerungszahl in Ätiopien hat sich in 50 Jahren vervierfacht! Das bedeutet, dass sich die Lebenschancen für ein Individuum auf ein Viertel reduziert haben, und dort gibt es sowieso fast nichts. Da frage ich mich, ob ich da nicht auf die Erdnussbutter verzichten würde. Ich fühle mich jedenfalls für das Elend in Afrika genau so wenig verantwortlich, wie für einen Tsunami.

Es ist ok, tendenziell zynisch zu sein. Bin ich auch gerne mal. Aber diese deine Aussagen scheinen mir objektiv recht ablehnenswert. Dass du im Angesicht des Hungertodes auf Nahrung verzichten würdest, einfach weil es in Äthiopien (vom reichen Europa aus gesehen) ja doch keine Perspektive gibt, ist völliger Quatsch. Und dass du für das Elend nicht verantwortlich bist, zweifel ich ebenfalls an. Ich finde, unsere Vorfahren haben durch die Kolonialzeit dem afrikanischen Kontinent ein paar riesige Hypotheken aufgebürdet. Wenn du in deinem wohlbehüteten Leben auch nur eine Winzigkeit von indirektem Vorteil aus kolonialzeitlichem Reichtum in Anspruch genommen hast (und ich wette das hast du), dann bist du für meine Begriffe sehr wohl direkt verantwortlich.
Und selbst wenn wir nicht verantwortlich wären, besteht Moral nach meinem Ideal doch daraus, zu helfen auch und gerade dann, wenn man nicht verantwortlich und nicht gezwungen ist. Und gerade dort, wo "sowieso fast nichts" ist und somit die Not also am größten wäre. Deine Argumente, selbst wenn sie stimmten, ziehen also gar nicht, zumindest was meine Moralvorstellung anbelangt. Wenn du gänzlich andere Moralvorstellungen diesbezüglich hast, mag das völlig in Ordnung sein, aber nach meinen Maßstäben nenne ich das dann "moralisch verkommen". Ist halt eine Angewohnheit von mir.
Zuletzt geändert von ganimed am Di 9. Aug 2011, 00:39, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon ganimed » Di 9. Aug 2011, 00:32

Lumen hat geschrieben:Weshalb sollten "wir Reichen" ein schlechtes Gewissen haben? Weil wir auf der verkehrten Hälfte der Welt geboren wurden? Weil ich durch meine Handlung in irgendeiner mir unbewussten Weise andere Menschen schade? Inwiefern ist das eigentlich möglich? Die Welt mag global sein, aber das heißt noch lange nicht, dass es eine nachvollziehbare Kausalkette von mir zu den armen Teufeln in der Sahelzone gibt.

Die goldene Regel lautet: was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Ich übersetze das mal für dich: wenn du arm und vom Hungertod bedroht wärst, würdest du nicht wollen, dass ein Reicher mit seinem Geld nach Mallorca fährt statt dir Erdnusscreme zu kaufen. Wenn du den Afrikanern keine Erdnusscreme kaufst, dann verstößt du also gegen diese goldene Regel. Deshalb solltest du ein schlechtes Gewissen haben. Regt sich bei dir da nichts, dann wäre noch zu prüfen, ob du vielleicht ein Psychopath bist, der diese goldene Regel in seinem Hirn nicht irgendwie manifestiert hat. Ich hielte es aber für ungleich wahrscheinlicher, dass dein Hirn nur eine erfolgreiche Verdrängungsstrategie fährt, um das existierende schlechte Gewissen nicht so laut und bewusst zu machen. Man will sich ja schließlich und nebenbei auch noch wohl fühlen in seiner Haut.
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon ujmp » Di 9. Aug 2011, 07:08

ganimed hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Die Bevölkerungszahl in Ätiopien hat sich in 50 Jahren vervierfacht! Das bedeutet, dass sich die Lebenschancen für ein Individuum auf ein Viertel reduziert haben, und dort gibt es sowieso fast nichts. Da frage ich mich, ob ich da nicht auf die Erdnussbutter verzichten würde. Ich fühle mich jedenfalls für das Elend in Afrika genau so wenig verantwortlich, wie für einen Tsunami.

Es ist ok, tendenziell zynisch zu sein.


Das ist kein Zynismus, sondern Mathematik, und zwar angewandte. Schreib mal gedanklich diese Bevölkerungsentwicklung linear fort...

ganimed hat geschrieben: Ich finde, unsere Vorfahren haben durch die Kolonialzeit dem afrikanischen Kontinent ein paar riesige Hypotheken aufgebürdet.

Es ist sehr bequem, einen ideologischen Standpunkt zu vertreten, der in unserer Gesellschaft Konsens ist. Was ist aber, wenn ich recht habe? Wirst du die Verantwortung dafür übernehmen, wenn in der Nächsten Generation doppelt so viele Menschen hungern?

Es ist außerdem so, dass es im Schnitt den Menschen der Welt noch nie so gut ging wie heute. Jedenfalls kannst du nicht belegen, dass es Afrika ohne die Kolonialzeit heute besser gehen würde. Es stimmt, es geht den Afrikanern relativ am schlechtesten von allen, aber absolut profitieren sie von der Weltwirtschaft. Die Weltwirtschaft muss man m.E. als Ganzes sehen. Afrika profitiert heute absolut davon, dass in einem anderen Teil der Welt etwas aus seinen Resourcen gemacht wurde, dass Europa und Asien so stark geworden sind, dass sie praktisch nur noch von Naturkastrophen umgehauen werden können.

Unbestritten gab es in der politischen und wirtschaftlichen Weltgeschichte sehr viel Unrecht und Leid. Aber Das Lebenzur Zeit des Dreißigjährien Krieges auch in Europ war kein Spaß. Die Menschen hatten es eben nicht besser drauf. Und es ist immer so, dass einer der Klassenbeste ist und ein anderer der Versetzungsgefährdete. Der eine bekommt es schneller raus, als der andere. Der eine ist links vom Fluß geboren, der andere rechts und keiner von beiden ist dafür verantwortlich. Jetzt muss man sehen, was man daraus machen kann.

Warum hat Afrika nicht Europa ausgebeutet? Allein deshalb, weil sie es nicht drauf hatten! Man sieht ja, dass sie nicht gerade zimperlich sind, wenn sie ihresgleichen vor sich haben: Rassimus, Völkermord Unterdrückung werden in Afrika von Afrikanern reichlich praktiziert! Vermutlich wirst du antworten: "Das macht der schlechte Einfluss der Europäer, ohne uns wird die Löwen dort Klee fressen..."
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon ujmp » Di 9. Aug 2011, 07:25

Stell dir doch einfach mal vor, was wäre, wenn in deiner Heimatstadt plötzlich doppelt so viele Menschen wohnen - ohne dass sich an den Resourcen und an der Infrastruktur das geringste geändert hätte... Dann verstehst du vielleicht besser, was in der Vielzahl der ärmsten Länder heute schon Realität ist.
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon Arathas » Di 9. Aug 2011, 07:44

ganimed hat geschrieben:Die goldene Regel lautet: was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.


Wobei du dir den Satz zu einem "Was du willst, das man dir tu, das füg auch andern zu" gemacht hast bei deinen Beispielen. Ich weiß nicht, ob er so herum noch so viel Sinn ergibt. Denn ich denke, der eigentliche Satz ist darauf ausgerichtet, dass man bestimmte Dinge unterlassen soll, auch, weil es gar nicht so schwer ist, etwas zu unterlassen. Viel einfacher jedenfalls, als etwas zu machen. Andersherum gelesen impliziert er nämlich eine Milliarde von möglichen Dingen, die man tun soll. Und damit wird er sinnlos, denn wer kann schon all die tausende Sachen, die er selbst gerne für sich hätte, für andere realisieren? Dadurch würde ein unerfüllbarer Unmöglichkeitsanspruch entstehen, dem niemand gerecht werden kann und den deshalb auch niemand braucht. Die Regel verliert umgedreht also tatsächlich ihren Sinn.
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon ganimed » Di 9. Aug 2011, 08:16

ujmp hat geschrieben:Das ist kein Zynismus, sondern Mathematik, und zwar angewandte.

Das Bevölkerungszuwachsproblem mathematisch zu beschreiben, war nicht der zynische Teil. Zynisch sind bei dir lediglich die Schlussfolgerungen daraus war es. Mag ja stimmen, dass das Hungerproblem seine Ursache in einer Verfierfachung der Menschen dort hat. Dann aber zu sagen, dass dort eigentlich niemand mehr Hungerhilfe annehmen sollte, weil es ja doch nichts nützt, und dass hier niemand spenden braucht, weil uns das alles nichts angeht, das ist amoralischer Zynismus.

ujmp hat geschrieben:Was ist aber, wenn ich recht habe? Wirst du die Verantwortung dafür übernehmen, wenn in der Nächsten Generation doppelt so viele Menschen hungern?

Wenn ich das recht verstehe, sieht dein Lösungsvorschlag so aus, jetzt alle Hungerleidenden ungerührt sterben zu lassen, damit wir in der nächsten Generation weniger Probleme mit Hungerleidenden haben? Hungerkatastrophen als probates Mittel gegen Überbevölkerung, willst du darauf hinaus? Zynischer und amoralischer geht es kaum. Mach dir keine Sorgen über die Frage, was wäre, wenn du recht hättest. Du hast nicht recht.
Mein Lösungsweg (und in der Tat, der ist leicht, weil er von den meisten vertreten wird) ist selbstverständlich, jetzt den Hungernden helfen, keinen einfach so sterben zu lassen. Und parallel dazu langfristig durch Bildung und Anhebung des Lebensstandards das Bevölkerungsproblem in den Griff kriegen (je reicher desto weniger Kinder pro Familie) und hinterher moralisch ganz gut dastehen.

ujmp hat geschrieben:Jedenfalls kannst du nicht belegen, dass es Afrika ohne die Kolonialzeit heute besser gehen würde.

Das ist lächerlich. Wer den Schaden der Kolonialisierung bestreitet, verlässt für mein Gefühl den Boden einer ernstgemeinten Diskussion. Zeige mir bitte auch nur einen seriösen Historiker, der das anders sieht.

ujmp hat geschrieben:Afrika profitiert heute absolut davon, dass in einem anderen Teil der Welt etwas aus seinen Resourcen gemacht wurde, dass Europa und Asien so stark geworden sind, dass sie praktisch nur noch von Naturkastrophen umgehauen werden können.

Das glaube ich nicht. Afrika wird auch heute noch ausgebeutet. Die lokalen Märkte werden durch Billigexportmechanismen zerstört. Öl und Bodenschätze werden überwiegend durch ausländische Kräfte abgebaut, Profite bleiben höchstens an korrupten Machthabern und Diktatoren hängen. So gesehen ist die Kolonialzeit noch nicht einmal vorbei.

ujmp hat geschrieben:Warum hat Afrika nicht Europa ausgebeutet? Allein deshalb, weil sie es nicht drauf hatten!

Ja, Europa hat es echt drauf. :) Niemand kann so unmenschlich ausbeuten und unterdrücken wie wir. Da klingt bei dir zurecht ein wenig Stolz mit. Nur moralisch ist das nicht mal ein bisschen.
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon Arathas » Di 9. Aug 2011, 09:52

ganimed hat geschrieben:Wenn ich das recht verstehe, sieht dein Lösungsvorschlag so aus, jetzt alle Hungerleidenden ungerührt sterben zu lassen, damit wir in der nächsten Generation weniger Probleme mit Hungerleidenden haben?


Würde das denn nicht ganz gut zusammenpassen mit deinem Statement im "Lasst uns aussterben"-Thread? Natürlich mit der Prämisse, dass es danach keine nächste Generation mehr gibt, denn das würde ja den Aussterben-Faktor untergraben.
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Re: Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichk

Beitragvon Arathas » Di 9. Aug 2011, 10:50

Was ich ganz passend zum Thema und ein paar Argumenten von ganimed fand, zwei Zitate aus dem aktuellen Jan-Fleischhauer-Artikel vom Spiegel:


Spon.de hat geschrieben:"Wer Menschheit sagt, will betrügen", heißt es bei Carl Schmitt.



Spon.de hat geschrieben:Wo großzügig mit dem Eigentum anderer Leute verfahren wird, mangelt es selten an großen Worten.
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