Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon ganimed » Sa 6. Feb 2010, 22:57

AgentProvocateur hat geschrieben:Also den Trabbi zu nehmen? Aber ich kann den ja nehmen, da spricht nichts dagegen, ich will ihn aber nicht nehmen!!! Wenn ich wollte, könnte ich, aber ich will nicht!!!

Du scheinst hier beim Begriff "Handlungsfreiheit" zu sein. Handlungsfreiheit bedeutet, dass du den Passat nehmen kannst wenn du es willst. Meine Forderung, dass du auch manchmal den Trabbi nehmen sollst, empfindest du aus dieser Sicht zurecht als Einschränkung dieser Freiheit. Aber eben nur der Handlungsfreiheit.
Ich rede aber gar nicht davon, dass du den Trabbi nehmen sollst obwohl du den Passat willst. Ich rede von Willensfreiheit. Du sollst den Trabbi manchmal wollen. Wirklich wollen! (Solange du dich beschwerst, ihn aufgezwungen zu bekommen, hast du diesen Punkt noch nicht nachvollzogen).
Wenn du das könntest, den Trabbi wollen, wenn dein Wille im Experiment flexibel wäre, dann wäre er frei. Kannst du aber nicht, da dein Wille kausal festklemmt. Du willst sklavisch und völlig vorhersagbar 5-Milliarden-Mal den Passat. Also ist dein Wille nicht frei. Es liegt also keine Wahlfreiheit vor, die ich als notwendiges Kriterium für Schuld ansehe.

Zum Thema Schuld und Strafrecht: Hier fährst du ja mit einiger verbaler Wucht schwere Geschütze auf. Ich habe allerdings den Eindruck, hier ist ein großes Missverständnis entstanden.
AgentProvocateur hat geschrieben:Wie ist nun Deine Legitimation dafür, jemanden nach einer Prognostizierung von 'Gefährlichkeit' repressiven Maßnahmen (aufgezwungener Schwimmkurs, Sicherungsverwahrung etc.) unterwerfen zu dürfen?

An der bisherigen Legitimation des Gerichtes soll sich bei mir nicht das geringste ändern. Ich möchte selbstverständlich als Richter nur über den Angeklagten nachdenken und nicht eine Zwangsmaßnahme für alle Menschen anordnen. In dem von dir beschriebenen Fall ging ich allerdings davon aus, dass nicht nur die Schuld von B sondern auch die von C zur Debatte steht, weil du ja beide beschrieben hast.

Wenn B als Angeklagter vor Gericht steht, sollte der Richter feststellen, ob er strafrechtlich schuldig ist (ganz wie bisher). Er sollte dann in seinem Maßnahmenkatalog nachschauen und je nach Schwere des Falles eine Maßnahme herausgreifen. Alles wie im jetzigen Strafrecht auch. Jetzt aber die Unterschiede, die ich fordern würde: Er soll B nicht die ethische Schuld geben, sondern in Sachen Moral nur von Verantwortung sprechen. Und im Maßnahmenkatalog für unterlassene Hilfeleistung steht derzeit, wenn ich richtig nachgeschaut habe, Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Was bitte soll das bringen? Das scheint mir in beiden Fällen eine vergeltende Bestrafung zu sein. Die Vergeltung wäre nach meinem Verständnis ohne den Schuldbegriff aber hinfällig. Und wenn durch psychologische Gutachter das Bild entsteht, dass B aufgrund asozialer Werte (Anzug ist wichtiger als Menschenleben) immer wieder Hilfeleistung unterlassen wird, sobald er wieder in solche Situationen kommt, dann fände ich ein entsprechendes psychologisches Training oder etwas in der Art hilfreicher, als ihn ein Jahr im Gefängnis leiden zu lassen nur damit er danach genau so weiter machen kann bzw. muss.

Wenn C als Angeklagter vor Gericht steht, würde der Prozess vermutlich nach kurzer Zeit zu Tage fördern, dass C mit seinem Nichtschwimmerstatus aus dem Schneider ist. Zwar ist durch dieses Nichtkönnen die Umwelt von C in Bezug auf Gewässer eine Nuance mehr gefährdet, aber selbstverständlich wird ein Nichtschwimmer als völlig normal, sozial verträglich und unproblematisch angesehen. Die Kirche also im Dorf lassend würde auch mein Richter die Anklage sofort fallen lassen. Von Zwangsmaßnahmen gegen alle Erwachsenen kann also keine Rede sein.

Vielen Dank aber für die schöne Übersetzung zur Legitimation. Mein Englisch ist schlechter als ich manchmal zu hoffen bereit bin.
Ich kann fast allen Punkten zustimmen, d.h. sie passen auch genau in meine Sicht der Dinge, wenn man vielleicht hier und da das Wort "Strafe" vermeidet und nur "Sanktion" verwendet.
Die eine Stelle, wo endlich begründet wird, wozu man "Schuld" braucht, ist leider nicht sehr ausführlich.
AgentProvocateur hat geschrieben:- Dies beinhaltet sowohl vergeltende als auch konsequentialistische Grundlagen, denn:
- Eine nur vergeltende Bestrafung ist schlecht, denn eine Bestrafung muss auch immer einen Nutzen haben
- Eine nur konsequentialistische Bestrafung ist schlecht, denn diese legt keinen Wert auf individuelle Rechte, ignoriert diese ('Gefährlichkeit' ist wichtigstes Kriterium, das überschreibt auch individuelle Rechte)

Ich will ja alles genau so machen wie es heute im Strafrecht gemacht wird. Ich will nur den Begriff Schuld streichen und in Folge dessen auch den vergeltenden Anteil an der Sanktion streichen. Daher interessiert mich an dieser Stelle der dritte zitierte Punkt: wieso eine nur konsequentialistische Bestrafung schlecht wäre. Die hier aufgeführte Begründung verstehe ich schlicht nicht. Auf welche Weise würden welche individuellen Rechte ignoriert werden? Fallen dir konkrete Beispiele ein?
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon AgentProvocateur » So 7. Feb 2010, 20:35

ganimed hat geschrieben:Wenn du das könntest, den Trabbi wollen, wenn dein Wille im Experiment flexibel wäre, dann wäre er frei. Kannst du aber nicht, da dein Wille kausal festklemmt. Du willst sklavisch und völlig vorhersagbar 5-Milliarden-Mal den Passat. Also ist dein Wille nicht frei. Es liegt also keine Wahlfreiheit vor, die ich als notwendiges Kriterium für Schuld ansehe.

Ich glaube, mein Hauptproblem ist nun einfach, dass ich nicht verstehe, was Du mit "Schuld" meinst, es ist anscheinend etwas völlig anderes als das, was ich darunter verstehe.

Ich will versuchen, mein Verständnis nochmal darzulegen: es gibt

a) "moralische Verantwortung", was bedeutet, dass man bestimmte Taten / Handlungen einem Subjekt zurechnet, weil man meint, sie wären unter dessen Kontrolle entstanden. Für "moralische Verantwortung" ist mE die Annahme, dass das Subjekt zum Zeitpunkt der Handlung Kontrolle besaß, sie also nach seinen Gründen ausgeführt hat, unerlässlich. Zum Beispiel wäre es nicht nachvollziehbar, wenn man Herrn Müller aus Pankow für das Erdbeben in Haiti persönlich für verantwortlich erklären würde und zwar deswegen nicht, weil er keinerlei Möglichkeit hatte, das zu verhindern, er also 'nichts dafür konnte'. Das wäre in dem Falle unbegründete Willkür. Bei B aus meinem Beispiel aber würde man diese Kontrolle annehmen können: er konnte schwimmen, er hätte A retten können. Und bei C wiederum nicht: gegen die Möglichkeit, A zu retten, sprach einfach seine fehlende Fähigkeit, schwimmen zu können.

b) "Schuld" im juristischen Sinne ist nun mE genau dann gegeben, (-> ist gleichbedeutend mit), wenn jemand eine moralische Verantwortung hatte und dieser insofern nicht nachgekommen ist, als dass er (willentlich, absichtlich) eine (ihm bekannte) Rechtsnorm verletzt hat.

ganimed hat geschrieben:In dem von dir beschriebenen Fall ging ich allerdings davon aus, dass nicht nur die Schuld von B sondern auch die von C zur Debatte steht, weil du ja beide beschrieben hast.

Natürlich stehen beide zur Debatte, darum geht es doch hier: um die Kriterien, wann jemand als verantwortlich für eine Normverletzung angesehen wird und wann nicht. Mein Beispiel sollte zeigen, dass man B für verantwortlich für die Normverletzung hält (-> 'schuldig' im juristischen Sinne) und C nicht (-> hatte keine Möglichkeit, die Norm einzuhalten, wegen eines Faktors, der zum Zeitpunkt des Geschehens von ihm nicht zu ändern war und der ihm auch nicht als Fahrlässigkeit angekreidet werden kann).

ganimed hat geschrieben:Wenn B als Angeklagter vor Gericht steht, sollte der Richter feststellen, ob er strafrechtlich schuldig ist (ganz wie bisher). Er sollte dann in seinem Maßnahmenkatalog nachschauen und je nach Schwere des Falles eine Maßnahme herausgreifen.

Also Vergeltung. =) (-> die Strafe oder die Höhe der zulässigen Maßnahme hängt von der Vergangenheit, der Schwere der Tat ab.)

ganimed hat geschrieben:Vielen Dank aber für die schöne Übersetzung zur Legitimation. Mein Englisch ist schlechter als ich manchmal zu hoffen bereit bin.
Ich kann fast allen Punkten zustimmen, d.h. sie passen auch genau in meine Sicht der Dinge, wenn man vielleicht hier und da das Wort "Strafe" vermeidet und nur "Sanktion" verwendet.
Die eine Stelle, wo endlich begründet wird, wozu man "Schuld" braucht, ist leider nicht sehr ausführlich.
AgentProvocateur hat geschrieben:- Dies beinhaltet sowohl vergeltende als auch konsequentialistische Grundlagen, denn:
- Eine nur vergeltende Bestrafung ist schlecht, denn eine Bestrafung muss auch immer einen Nutzen haben
- Eine nur konsequentialistische Bestrafung ist schlecht, denn diese legt keinen Wert auf individuelle Rechte, ignoriert diese ('Gefährlichkeit' ist wichtigstes Kriterium, das überschreibt auch individuelle Rechte)

Ich will ja alles genau so machen wie es heute im Strafrecht gemacht wird. Ich will nur den Begriff Schuld streichen und in Folge dessen auch den vergeltenden Anteil an der Sanktion streichen. Daher interessiert mich an dieser Stelle der dritte zitierte Punkt: wieso eine nur konsequentialistische Bestrafung schlecht wäre. Die hier aufgeführte Begründung verstehe ich schlicht nicht. Auf welche Weise würden welche individuellen Rechte ignoriert werden? Fallen dir konkrete Beispiele ein?

Das halte ich aber für reine Wortkosmetik. "Repressive Maßnahmen gegen ein bestimmtes Individuum oder eine bestimmte Gruppe von Individuen" - darum geht's, und diese bedürfen dringend einer Legitimation - falls man denn, so wie ich, meint, dass persönliche Freiheit und persönliche Rechte etwas sind, was eine Gesellschaft gewährleisten sollte, was gewissermaßen der Haupt-Zweck einer Gesellschaft ist, die von mir akzeptiert werden kann, ihre Existenzberechtigung ausmacht.

Vergeltung: bezieht sich auf Vergangenes. Prävention: bezieht sich auf Zukünftiges. Unser Strafrecht ist (im Kern zumindest - 'Maßnahmen der Besserung und Sicherung' sind ein fremdes Element darin, nur für seltene Ausnahmefälle gedacht, wären eher dem Polizeirecht [Gefahrenabwehr] zuzuordnen) ein Tat-Strafrecht, nimmt vergangene Taten als Anknüpfungspunkt für Sanktionen, für deren Höhe (und: keine Strafe ohne Schuld, keine Strafe ohne Gesetz) und hebt nicht lediglich auf 'Gefährlichkeit' ab, (die ja mit einer bestimmten Tat nichts zu tun haben muss, zukunftsgerichtet ist), es respektiert grundlegende, grundsätzlich zu gewährende Rechte des Angeklagten, die hinter die Feststellung der 'Gefährlichkeit' zurücktreten müssen, von dieser nicht überschrieben werden dürfen.

Das Strafrecht ist auch explizit nicht dafür da, 'unnormale' oder 'gesellschaftsschädliche' Ansichten, Gesinnungen zu sanktionieren, (von einigen inkonsequenten Ausnahmen abgesehen), es muss sich darauf beschränken, explizite (bekannte, festgelegte) Normverletzungen mit einer Sanktion zu belegen, um so (kausalen) Einfluss auf künftige Handlungen der (aller) Mitglieder der Gesellschaft zu nehmen, um allgemein akzeptierte persönliche Rechte zu gewährleisten. Das Strafrecht (so wie jedes Recht) ist also eine Sammlung von explizit festgelegten Regeln mit explizit bekannten Sanktionen (einem bestimmten Sanktionsrahmen). Das verhindert Willkür: das Subjekt kann seine Handlungen nach den ihm bekannten Auswirkungen ausrichten.

Du magst wohl die Begriffe 'Vergeltung', 'Schuld' und 'Strafe' einfach nicht, die kommen Dir vielleicht antiquiert vor. Aber einen Begriff einfach durch einen anderen zu ersetzen, ohne dessen Bedeutungsgehalt zu verändern, bringt es nicht. Für 'Strafe' kann man 'Sanktion' nehmen, das hört sich neutraler an (wiewohl es dasselbe bedeutet - 'individuelle repressive Maßnahme'), aber was kann man für 'Schuld' nehmen? Du sagst nun: 'persönliche moralische Verantwortung für eine Normverletzung' - aber auch das ist genau dasselbe wie 'juristische Schuld'. Meiner Ansicht nach.

'Keine Strafe ohne Schuld': wie würdest Du diesen Grundsatz in Deine Nomenklatur umsetzen können? 'Keine persönliche Repression ohne Annahme einer Gefährlichkeit'? Aber das wäre etwas gänzlich Anderes. Es ist nicht abschätzbar, wer was wann und wieso als 'gefährlich' ansieht, danach kann man seine Handlungen nicht ausrichten, dagegen kann man sich nicht verteidigen, dem ist man schutzlos ausgeliefert.

Kommen wir mal zum Konsequentialismus. Demnach ist es egal, was in der Vergangenheit geschah, das darf gar nicht berücksichtigt werden, (-> Vergeltung ist moralisch schlecht), wichtig ist nur die Zukunft. Also reines Präventionsstrafrecht. Das Problem dabei ist, dass es letztlich Willkür bedeutet, wenn man nur darauf abhebt. Man müsste dann jede Rechtsnorm folgendermaßen ändern: XY ist verboten; welche Sanktion aber bei Verletzung von XY erfolgt und welche legitim ist, entscheidet der Richter nach seinem Ermessen, nach seiner Einschätzung, unter Hinzuziehung von Experten im Einzelfalle nach den angenommenen Folgen für die Zukunft.

Und es gibt keinerlei Grund mehr, wenn nur die (angenommene, prognostizierte) Sicherheit in der Zukunft wichtig wäre und man jemanden für einen Normverletzung nicht für verantwortlich hielte, (weil er die tun musste, wegen Faktoren, die außerhalb seiner Kontrolle lagen, er gar nicht anderes tun konnte, man ihm das nicht vorwerfen darf), wieso man nur auf begangene Taten (die Vergangenheit) abheben sollte, denn Konsequentialismus bedeutet ja, dass man das nicht sollte (abgesehen davon, dass man daraus eventuell Gefährlichkeitsprognosen ableiten könnte - eventuell, was aber keineswegs selbstverständlich ist). Wenn (künftige) Sicherheit und Gefährlichkeit die einzige legitime Rolle im Strafrecht spielen dürfen und sollen und man repressive individuelle Maßnahmen nicht als per se für unzulässig hält, dann liegt es doch auf der Hand, auch im Vorfelde repressiv präventiv tätig zu werden, da Subjekte eh nicht ihre Handlungen beeinflussen können, nur Spielbälle des Schicksals sind, ihre Taten also nicht ihre Taten sind und keine Rolle spielen. Nur die die hochgerechnete zukünftige 'Gefährlichkeit'.

Das heutige Strafrecht hebt darauf ab, dass moralische Subjekte ihre Handlungen (unter bestimmten Umständen, die festgelegt sind) verantworten können und somit dafür gerade stehen müssen. Könnten sie das aber generell (nie) nicht, ist jegliche Legitimation für irgend was in Frage gestellt. Das gesamte Recht überhaupt hebt darauf ab, auch das Zivilrecht, zum Beispiel das Vertragsrecht geht von Willensentscheidungen autonomer Subjekte aus. Und überhaupt ergibt der Begriff "Recht" keinen Sinn mehr, wenn damit nicht ein Anspruch gegenüber moralisch verantwortlichen Subjekten verbunden ist, es gibt kein einziges Recht und kann auch keines geben, das nicht eine Pflicht eines solchen Subjektes beinhaltet. Z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ein Anspruch gegenüber anderen moralischen Subjekten, dieses Recht existiert nicht gegenüber einem Wolf (höchstens so, dass andere moralische Subjekte verpflichtet wären, den Wolf zurück zu halten). Und wenn die anderen dieses Recht nicht akzeptieren oder es ihnen einfach egal ist, wenn es verletzt wird, dann existiert es schlicht nicht.

Ohne eine Annahme moralisch verantwortlicher Subjekte kann es auch keine Legitimation geben.

Übrigens, mal noch 'ne Frage: wann genau ist eigentlich jemand Deiner Meinung nach schadensersatzpflichtig? Was muss für eine solche Pflicht genau erfüllt sein, wann sollte dieser Anspruch gewährt (und durchgesetzt) werden? Oder sollte diese Pflicht nun ersatzlos gestrichen werden (bzw. durch eine gesellschaftliche Vollkaskoversicherung bei beliebigen Schäden - d.h. eine Pflicht gegenüber allen Mitgliedern der Gesellschaft - ersetzt werden)?

Oder mal anhand eines Beispieles: wäre Herr Müller aus Pankow schadensersatzpflichtig für das Erdbeben in Haiti (und Herr Meier aus Pankow nicht), wenn beide nichts dafür könnten und beide nichts daran ändern könnten? Wäre Herr Müller aus Pankow schadensersatzpflichtig, wenn er jemandem die Fresse polieren würde? Wenn ja: warum, wenn er doch so handeln musste, keine Wahl hatte, wegen der Kausalität?

Und noch 'ne Anmerkung zu meinen Motiven hier: ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass selbst Leute, die ich für aufgeklärt und intelligent halte, regelmäßig jegliches Maß verlieren und alle Prinzipien über Bord werfen, wenn man über (repressive) Prävention redet. Da werden dann schnell und ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken alle rechtsstaatlichen Grundsätze über Bord geworfen. 'Jemand ist gefährlich'? Dann hat er keine Rechte mehr, ist kein Subjekt mehr, nur noch eine Naturkatastrophe, mehr nicht. 'Wegsperren für immer', d.h. lebenslängliche Sicherungsverwahrung bei auch nur entfernt möglicher 'Gefahr', ja selbst 'Rettungsfolter' ist dann plötzlich überhaupt kein Problem mehr. Muss dann sein, nur ein naiver Gutmensch, der dabei Bedenken hat, ein Prinzipienreiter.

Das muss irgendwie psychologisch erklärbar sein, ich nehme ja an, dass dann derjenige, von dem die vermeintliche Gefahr ausgeht, gedanklich aus der Gemeinschaft ausgesondert wird, nur noch als beliebig zu behandelndes Objekt angesehen wird. 'Keiner mehr von uns, ist egal, was mit ihm passiert, wir sind wichtiger'. Naja, das ist meine Vermutung, leider schon zu oft erlebt. Ich finde das erschreckend und noch viel erschreckender finde ich, wenn das mit angeblicher Humanität begründet wird (-> es gibt dann keine 'Schuld' und keine 'Vergeltung' mehr und das wird dann aus mir unerfindlichen Gründen irgendwie als Wert per se angesehen, dahinter steht dann alles andere zurück, dann ist alles völlig in Ordnung. Hauptsache, wir nehmen ihm nicht übel, was er getan hat, Hauptsache, es steckt kein persönlicher Vorwurf dahinter und wir nennen es nicht mehr 'Strafe', sondern 'Maßnahme', dann ist alles recht und legitim. Wir müssen uns ja schützen vor den 'anderen', das ist selbstverständlich und darf nicht hinterfragt werden.)
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon ganimed » Mo 8. Feb 2010, 22:00

AgentProvocateur hat geschrieben:b) "Schuld" im juristischen Sinne ist nun mE genau dann gegeben, (-> ist gleichbedeutend mit), wenn jemand eine moralische Verantwortung hatte und dieser insofern nicht nachgekommen ist, als dass er (willentlich, absichtlich) eine (ihm bekannte) Rechtsnorm verletzt hat.

Das sehe ich genau so. Unsere Differenzen liegen, glaube ich, eher bei dem ethischen Schuldbegriff. Und bei der ethischen Schuld steht bei Wikipedia ja der Zusatz:
    "Als Voraussetzung für Schuld wird meistens angenommen, dass der Schuldige die Wahlmöglichkeit hatte, die als schlecht definierte Tat zu unterlassen."
Würdest du diese Wahlfreiheit ebenfalls als Voraussetzung für ethische Schuld ansehen? Wenn ja, wie kann es in einer kausalen, deterministischen Welt Wahlfreiheit geben?

AgentProvocateur hat geschrieben:Bei B aus meinem Beispiel aber würde man diese Kontrolle annehmen können: er konnte schwimmen, er hätte A retten können.

Dann erkläre mal, wie er sich seiner Wertevorstellung hätte entledigen können. Denn wir waren uns ja einig, dass die ja der eigentlich Grund für sein Nichteingreifen war. Kann man von B erwarten, gegen die eigenen Werteprioritäten zu handeln und A zu retten obwohl das den Anzug ruinieren würde? Ich glaube, das ist psychologisch gar nicht möglich. Man kann nicht einfach so seine eigenen Werte auf den Kopf stellen und plötzlich, nur weil man es will beispielsweise Politik wichtiger finden als Sport, obwohl man sein bisheriges Leben lang völlig unpolitisch aber dafür im Fussballverein war. Um A retten zu können muss eine Person viele Bedingungen erfüllen:
1) sie muss schwimmen können
2) sie muss ein Menschenleben wichtiger finden als seinen eigenen Anzug
3) sie muss in der Nähe sein
4) sie muss die Notlage von A erkennen
...
Es gibt sicher noch millionen weiterer Voraussetzungen, von denen wir die meisten vermutlich als selbstverständlich gegeben hinnehmen. Du machst deine Unterscheidung "B ist schuldig und C nicht" bequemerweise nur an dem Punkt (1) fest. Wieso lässt du Punkt (2) ausser Acht?

AgentProvocateur hat geschrieben:Also Vergeltung. =) (-> die Strafe oder die Höhe der zulässigen Maßnahme hängt von der Vergangenheit, der Schwere der Tat ab.)

Ich finde in der Tat, dass die Auswahl der Maßnahme von der Schwere der Tat abhängen sollte. Aber dein Schluss, dass es sich deshalb bei der Maßnahme um eine Vergeltung handelte ist für mich nicht nachvollziehbar. Die Maßnahmen (oder Sanktionen), die ich meine, haben nicht das Ziel zu bestrafen, sondern das Problem zu mindern. Bei großen Problemen sind die Maßnahmen eben anders zu wählen als bei kleinen. Verhältnismäßigkeit ist aber doch nicht ein Hinweis auf Vergeltungscharakter. Eine vergeltende Maßnahme unterscheidet sich von einer konstruktiven Maßnahme durch ihr Ziel, nicht durch den Grad der Verhältnismäßigkeit.

AgentProvocateur hat geschrieben:'Keine Strafe ohne Schuld': wie würdest Du diesen Grundsatz in Deine Nomenklatur umsetzen können?

Je nach Schuldbegriff:
1) Keine (ethische) Schuld, also auch keine Strafe (Vergeltung) mehr, sondern nur noch konstruktive Maßnahmen.
2) Keine Maßnahmen ohne (strafrechtliche) Schuld

AgentProvocateur hat geschrieben:Kommen wir mal zum Konsequentialismus. Demnach ist es egal, was in der Vergangenheit geschah, das darf gar nicht berücksichtigt werden, (-> Vergeltung ist moralisch schlecht), wichtig ist nur die Zukunft. Also reines Präventionsstrafrecht. Das Problem dabei ist, dass es letztlich Willkür bedeutet, wenn man nur darauf abhebt. Man müsste dann jede Rechtsnorm folgendermaßen ändern: XY ist verboten; welche Sanktion aber bei Verletzung von XY erfolgt und welche legitim ist, entscheidet der Richter nach seinem Ermessen, nach seiner Einschätzung, unter Hinzuziehung von Experten im Einzelfalle nach den angenommenen Folgen für die Zukunft.

Du behauptest, dass konsequentialistische Richter willkürlich handeln beim Fällen des Urteils. Das wird, räume ich ein, sicher der Fall sein. Und wenn du dies hier als Argument gegen den Konsequentialismus aufführst, nehme ich an, willst du behaupten, dass ein nicht-konsequentialistischer Richter beim Urteilfällen vor jeder Willkür geschützt ist? Das würde ich nicht verstehen. In beiden Fällen wählt der Richter letztlich aus einem Maßnahmenkatalog aus, der gesetztlich vorgeschrieben ist. Wieso bezeichnest du ausgerechnet den konsequentialistische Richter als willkürlich? Der einzige Unterschied ist doch nur die Zielrichtung der Maßnahme. Willkür kommt bei beiden vor, da es ja immer einen Ermessensspielraum gibt. Einziger Schutz davor ist ja derzeit, dass man ein Urteil oft anfechten kann bzw. von einer höheren Instanz überprüfen lassen kann. Auch an dieser Möglichkeit will ich gar nicht rütteln.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn (künftige) Sicherheit und Gefährlichkeit die einzige legitime Rolle im Strafrecht spielen dürfen und sollen und man repressive individuelle Maßnahmen nicht als per se für unzulässig hält, dann liegt es doch auf der Hand, auch im Vorfelde repressiv präventiv tätig zu werden, da Subjekte eh nicht ihre Handlungen beeinflussen können

Diese Logik verstehe ich nicht. Weil das Strafrecht bei der Auswahl der Sanktionen auf Problembeseitigung statt Bestrafung aus ist, sollen präventive Maßnahmen außerhalb der Gerichte plötzlich auf der Hand liegen? Solange wir über Strafrecht reden ist das einfach Unsinn. Ich meinte jedenfalls das Strafrecht und habe versichert, dass ich nur die "ethische Schuld" eliminieren will (nicht die "strafrechtliche Schuld"), dass ich die Strafe eliminieren will und durch konstruktive Maßnahmen ersetzen würde. Aber diese Maßnahmen richten sich natürlich nach wie vor nur gegen die Angeklagten. Wenn du in einem Großteil deines Beitrages gegen allgemeine präventive Repressionen ins Felde ziehst, hat das nichts mit mir oder meiner Position zu tun. Gegen wen wetterst du da eigentlich?

AgentProvocateur hat geschrieben:ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass selbst Leute, die ich für aufgeklärt und intelligent halte, regelmäßig jegliches Maß verlieren und alle Prinzipien über Bord werfen, wenn man über (repressive) Prävention redet.

Mit diesen Leuten wirst du mich wohl verwechselst haben. Ich schlage vor, wir reden wieder über unsere Themen: Strafrecht, ethische Schuld und freien Willen.
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon AgentProvocateur » Di 9. Feb 2010, 16:20

ganimed hat geschrieben:Unsere Differenzen liegen, glaube ich, eher bei dem ethischen Schuldbegriff. Und bei der ethischen Schuld steht bei Wikipedia ja der Zusatz:

"Als Voraussetzung für Schuld wird meistens angenommen, dass der Schuldige die Wahlmöglichkeit hatte, die als schlecht definierte Tat zu unterlassen."

Würdest du diese Wahlfreiheit ebenfalls als Voraussetzung für ethische Schuld ansehen? Wenn ja, wie kann es in einer kausalen, deterministischen Welt Wahlfreiheit geben?

Ja, Wahlfreiheit ist die Voraussetzung für die Zuweisung von moralischer Verantwortung und diese wiederum ist notwendige und hinreichende Voraussetzung für die Zuweisung von Schuld: "Der Zustand der Schuld entsteht, wenn jemand für einen Verstoß gegenüber einer sittlichen, ethisch-moralischen oder gesetzlichen Wertvorstellung verantwortlich ist."

Nur verstehen wir offensichtlich etwas anderes unter 'Wahlmöglichkeit', der 'Wahlfreiheit'. Für Dich ist sie per se unmöglich, denn sowohl Kausalität als auch Akausalität sind für Dich Gegensätze zu Freiheit, was aber mE inkohärent ist (-> die Behauptung, (1) Kausalität verhindere Freiheit, impliziert notwendigerweise, dass Akausalität Freiheit gewährleisten könne. Kann sie das aber nicht, kann Akausalität (Zufall) nie einen Zuwachs an Freiheit bedeuten, dann ist die ursprüngliche Behauptung (1) nicht mehr haltbar).

Und was mE dabei auch inkonsistent ist, (falls Du Wahlmöglichkeiten für nichtexistent hältst): wenn wir uns hier z.B. über das Strafrecht unterhalten und über eventuelle Änderungen, dann wirst Du doch wohl davon ausgehen, dass es da verschiedene Möglichkeiten gibt, zwischen denen man wählen kann, oder etwa nicht? Und wenn ich dann auch nochmal auf Deine obige Äußerung hinweisen darf, in der Du sagtest, ich hätte mein Gedankenexperiment anders gestalten können, was ja wohl auch eine 'Wahlmöglichkeit' impliziert.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Bei B aus meinem Beispiel aber würde man diese Kontrolle annehmen können: er konnte schwimmen, er hätte A retten können.

Dann erkläre mal, wie er sich seiner Wertevorstellung hätte entledigen können. Denn wir waren uns ja einig, dass die ja der eigentlich Grund für sein Nichteingreifen war. Kann man von B erwarten, gegen die eigenen Werteprioritäten zu handeln und A zu retten obwohl das den Anzug ruinieren würde?

Ja, klar kann man erwarten, dass Leute die Rechtsnormen einhalten, wenn nichts Wesentliches (äußerer oder innerer Zwang) dagegen spricht. Dafür sind Rechtsnormen ja auch da. Es wäre von Vorneherein völlig sinnlos, Normen aufzustellen, wenn man deren Einhaltung nicht verlangte oder sie nur von denjenigen verlangte, die sie sowieso einhalten. Dann könnte man nur noch unverbindliche Empfehlungen geben: macht das so und so, das wäre besser, aber wenn nicht, dann ist das auch egal, dann ging's halt nicht anders.

ganimed hat geschrieben:Um A retten zu können muss eine Person viele Bedingungen erfüllen:
1) sie muss schwimmen können
2) sie muss ein Menschenleben wichtiger finden als seinen eigenen Anzug
3) sie muss in der Nähe sein
4) sie muss die Notlage von A erkennen
...
Es gibt sicher noch millionen weiterer Voraussetzungen, von denen wir die meisten vermutlich als selbstverständlich gegeben hinnehmen. Du machst deine Unterscheidung "B ist schuldig und C nicht" bequemerweise nur an dem Punkt (1) fest. Wieso lässt du Punkt (2) ausser Acht?

1, 3 und 4 müssen natürlich gegeben sein. Aber 2 nicht, B muss lediglich wissen, dass es da eine Rechtsnorm gibt, die er einhalten sollte, wenn er sich nicht berechtigt dem Vorwurf der absichtlichen Normverletzung aussetzen will. Es ist nicht erforderlich, dass er die Rechtsnorm akzeptiert, einsieht und für richtig hält; mit anderen Worten: dass er sie auch eingehalten hätte, wenn es sie nicht gäbe.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Also Vergeltung. =) (-> die Strafe oder die Höhe der zulässigen Maßnahme hängt von der Vergangenheit, der Schwere der Tat ab.)

Ich finde in der Tat, dass die Auswahl der Maßnahme von der Schwere der Tat abhängen sollte. Aber dein Schluss, dass es sich deshalb bei der Maßnahme um eine Vergeltung handelte ist für mich nicht nachvollziehbar. Die Maßnahmen (oder Sanktionen), die ich meine, haben nicht das Ziel zu bestrafen, sondern das Problem zu mindern. Bei großen Problemen sind die Maßnahmen eben anders zu wählen als bei kleinen. Verhältnismäßigkeit ist aber doch nicht ein Hinweis auf Vergeltungscharakter.

Wenn sich 'Verhältnismäßigkeit' auf die Schwere der Tat bezieht, dann ist das mE 'Vergeltung', weil auf die vergangene Tat bezogen. Verhältnismäßigkeit an sich ist natürlich kein Hinweis auf Vergeltung, es kommt darauf an, worauf sie sich bezieht. Wenn sie sich nur auf die angenommene zukünftige Gefährlichkeit bezieht, wäre das dann kein Bezug auf etwas Vergangenes mehr und daher keine Vergeltung.

Warum willst Du denn eigentlich die Auswahl der 'Maßnahme' von der Schwere der Tat abhängig machen? 'Schwere der Tat' und '(zukünftiges) Problem' stehen ja nicht unbedingt in einem Zusammenhang zueinander (siehe auch unten mein Beispiel).

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:'Keine Strafe ohne Schuld': wie würdest Du diesen Grundsatz in Deine Nomenklatur umsetzen können?

Je nach Schuldbegriff:
1) Keine (ethische) Schuld, also auch keine Strafe (Vergeltung) mehr, sondern nur noch konstruktive Maßnahmen.
2) Keine Maßnahmen ohne (strafrechtliche) Schuld

Solange Du aber den Begriff der 'Schuld' (bezieht sich auf eine vergangene Tat) drin hast, ist das kein reiner Konsequentialismus, denn der betrachtet nur die Konsequenzen, sprich die Zukunft.

ganimed hat geschrieben:In beiden Fällen wählt der Richter letztlich aus einem Maßnahmenkatalog aus, der gesetztlich vorgeschrieben ist. Wieso bezeichnest du ausgerechnet den konsequentialistische Richter als willkürlich? Der einzige Unterschied ist doch nur die Zielrichtung der Maßnahme. Willkür kommt bei beiden vor, da es ja immer einen Ermessensspielraum gibt. Einziger Schutz davor ist ja derzeit, dass man ein Urteil oft anfechten kann bzw. von einer höheren Instanz überprüfen lassen kann. Auch an dieser Möglichkeit will ich gar nicht rütteln.

Nu bin ich etwas verwirrt. Ein nur konsequentialistischer Richter kann keinen gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmenkatalog haben, der sich auf eine vergangene Tat bezieht. Das wäre dann kein Konsequentialismus mehr. Er kann lediglich einen Maßnahmenkatalog haben, der sich auf die prognostizierte Gefährlichkeit bezieht und diese Gefährlichkeit muss irgendwie von Experten ermittelt werden, nach Kriterien, die sich laufend ändern und die man nicht nachvollziehen kann (und dabei kann zwar auch die Vergangenheit eine Rolle spielen, es gibt aber keinen logischen Zusammenhang der folgenden Art: X hat die Tat Y begangen, daher ist es wahrscheinlich, dass er zukünftig auch wieder zu Y neigt). Man kann also nicht wissen, wie gefährlich man selber angesehen werden wird und die Bewertungen der Experten nachvollziehen kann man meist auch nicht. Und das eben läuft auf Willkür hinaus, anders als das jetzige System, das man zumindest dann verstehen kann, wenn man sich bemüht. Oder aber man erstellt ein generelles Kriterium für 'Gefährlichkeit', das dann auch generell und somit nachvollziehbar angewendet wird (z.B. "Three Strikes" oder so 'ne Art 'Flensburger Punktekonto', auf Straftaten bezogen). Aber dann hat man wieder die Vergeltung drin.

Mir kommt es nun so vor, als ob Du außer Worten nichts ändern wollen würdest.

Wie sehen Deine 'konstruktiven Maßnahmen' denn eigentlich aus?

Nehmen wir mal folgenden Fall: M, eine alleinerziehende Mutter, hat ein einziges Kind. Dieses Kind wird nun eines Tages von T getötet. M wird eine psychologische Betreuung angeboten, aber die lehnt sie ab. Sie kauft sich ein Messer und ersticht T. Sie wird nie wieder so etwas tun, das war eine einmalige Tat, wegen Umständen, die nie wieder eintreten werden.

Nach heutigem Strafrecht würde sie wegen Mordes verurteilt werden, es spielte dabei keine Rolle, dass M zukünftig nicht mehr gefährlich ist.

Welche 'konstruktiven Maßnahmen' sollten nun nach Deiner Ansicht ergriffen werden und wieso? (M lehnt übrigens weiterhin eine psychologische Betreuung / Therapie ab.)

ganimed hat geschrieben:Weil das Strafrecht bei der Auswahl der Sanktionen auf Problembeseitigung statt Bestrafung aus ist, sollen präventive Maßnahmen außerhalb der Gerichte plötzlich auf der Hand liegen? Solange wir über Strafrecht reden ist das einfach Unsinn. Ich meinte jedenfalls das Strafrecht und habe versichert, dass ich nur die "ethische Schuld" eliminieren will (nicht die "strafrechtliche Schuld"), dass ich die Strafe eliminieren will und durch konstruktive Maßnahmen ersetzen würde.

Naja, es hört sich ja doch durchaus ein wenig merkwürdig an, wenn jemand sagt, er wolle das Strafrecht beibehalten, aber Strafen eliminieren. Und "strafrechtliche Schuld" basiert natürlich auf "ethischer Schuld", man kann nicht das eine haben ohne das andere.

Ein Maßnahmenrecht ist nun mal etwas ganz anderes als unser heutiges Strafrecht, auch wenn Du das nicht wahrhaben willst.

ganimed hat geschrieben:Aber diese Maßnahmen richten sich natürlich nach wie vor nur gegen die Angeklagten.

Aber wieso? Wenn die Angeklagten so wenig schuld sind wie jeder andere auch? Ist es dann nicht unfair, nur die Angeklagten den Maßnahmen unterziehen zu wollen (sofern die von diesen abgelehnt werden)?
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon ganimed » Di 9. Feb 2010, 21:49

AgentProvocateur hat geschrieben:(-> die Behauptung, (1) Kausalität verhindere Freiheit, impliziert notwendigerweise, dass Akausalität Freiheit gewährleisten könne.

Stimmt schon. Akausalität gewährleistet kausale Freiheit, nämlich Freiheit von kausaler Abhängigkeit. Zerstört jedoch den Willenscharakter, da Entscheidungen beliebig gefällt werden. Bei Kausalität ist der Wille also unfrei. Bei Akausalität ist er zwar frei aber kein Wille mehr.

AgentProvocateur hat geschrieben:wenn wir uns hier z.B. über das Strafrecht unterhalten und über eventuelle Änderungen, dann wirst Du doch wohl davon ausgehen, dass es da verschiedene Möglichkeiten gibt, zwischen denen man wählen kann, oder etwa nicht? Und wenn ich dann auch nochmal auf Deine obige Äußerung hinweisen darf, in der Du sagtest, ich hätte mein Gedankenexperiment anders gestalten können, was ja wohl auch eine 'Wahlmöglichkeit' impliziert.

Ich streite gar nicht ab, dass es Wahlmöglichkeiten gibt. Ich behaupte nur, dass sie nicht frei sind. Sondern sie sind kausal determiniert. Für Schuld brauche ich aber eine freie Wahl, eine Wahlfreiheit.

AgentProvocateur hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Kann man von B erwarten, gegen die eigenen Werteprioritäten zu handeln und A zu retten obwohl das den Anzug ruinieren würde?

Ja, klar kann man erwarten, dass Leute die Rechtsnormen einhalten, wenn nichts Wesentliches (äußerer oder innerer Zwang) dagegen spricht.

Aber die eigene Wertevorstellungen sind etwas Wesentliches. Und sie sprechen bei B gegen die Rettung von A. Und sie sind psychologisch nicht einfach so zu ändern. In deinen Worten entsprechen sie demnach also einem Zwang. Würdest du also sagen, dass man die Einhaltung der Rechtsnorm in diesem Fall nicht von B erwarten konnte?

AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn sich 'Verhältnismäßigkeit' auf die Schwere der Tat bezieht, dann ist das mE 'Vergeltung', weil auf die vergangene Tat bezogen. Verhältnismäßigkeit an sich ist natürlich kein Hinweis auf Vergeltung, es kommt darauf an, worauf sie sich bezieht. Wenn sie sich nur auf die angenommene zukünftige Gefährlichkeit bezieht, wäre das dann kein Bezug auf etwas Vergangenes mehr und daher keine Vergeltung.

Da ist was dran, was du sagst. Ich räume ein, dass ich die Gedankenkette hatte: je schwerer die Tat, desto größer das Problem, desto drastischer die Maßnahme. Aber im Grunde schließe ich dabei von der Größe der Tat auf die Größe des Problems. Aber wie du ganz richtig korrigierst, ist die Maßnahme eigentlich nur von der Größe des Problems, in diesem Fall der Gefährlichkeit abhängig.

AgentProvocateur hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben: 1) Keine (ethische) Schuld, also auch keine Strafe (Vergeltung) mehr, sondern nur noch konstruktive Maßnahmen.
2) Keine Maßnahmen ohne (strafrechtliche) Schuld

Solange Du aber den Begriff der 'Schuld' (bezieht sich auf eine vergangene Tat) drin hast, ist das kein reiner Konsequentialismus, denn der betrachtet nur die Konsequenzen, sprich die Zukunft.

Meine Aussage (1) meint ja gerade, dass ich den Schuldbegriff ausschließe. Wikipedia scheint mir aber nunmal zwischen ethischer und strafrechtlicher Schuld zu unterscheiden. Wobei ich die Begriffe eher so gewählt hätte:
ethische Schuld = Schuld
strafrechtliche Schuld = Verantwortung
Mein Strafrecht kennt keine ethische Schuld, also auch keine Strafe. Ist jemand verantwortlich, dann hagelt es Maßnahmen. Ich vermute, dass es sich also doch um reinen Konsequentialismus handelt, nur dass ich wohlmöglich noch ein wenig den Umgang mit den Begriffen üben muss.

AgentProvocateur hat geschrieben:Ein nur konsequentialistischer Richter kann keinen gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmenkatalog haben, der sich auf eine vergangene Tat bezieht. Das wäre dann kein Konsequentialismus mehr.

Auch da ist was dran. Im Idealfall wird individuell und mit den Experten entschieden.

AgentProvocateur hat geschrieben:und diese Gefährlichkeit muss irgendwie von Experten ermittelt werden, nach Kriterien, die sich laufend ändern und die man nicht nachvollziehen kann

Da scheinst du ja eine echte Abneigung entwickelt zu haben. Vernünftig finde ich dieses Argument auf den ersten Blick jedenfalls nicht. Kennst du denn die Kriterien? Woher weißt du, dass sie sich laufend ändern? Wieso sollten sie das tun? Und was macht dich so sicher, dass diese Änderungen nicht dokumentiert und erklärt sind, oder wieso sonst sollten sie nicht nachvollziehbar sein?

Natürlich gibt es da eine Gefahr, wenn das Wohl und Wehe des Angeklagten von Experten abhängig ist. Aber diese Gefahr gibt es nun einmal immer. In deinem Strafrecht sind es die amerikanischen Geschworenen oder der Richter (der übrigens ja auch heute bereits laufend Experten hört). In Hinsicht der drohenden Willkür und der Möglichkeit von Fehlurteilen unterscheiden sich beide Systeme nicht grundlegend.

AgentProvocateur hat geschrieben:Mir kommt es nun so vor, als ob Du außer Worten nichts ändern wollen würdest. Wie sehen Deine 'konstruktiven Maßnahmen' denn eigentlich aus?

Bei B habe ich ja bereits konkrete Vorschläge gemacht. Statt ein Jahr Haft als Vergeltung für unterlassene Hilfeleistung plädiere ich für eine therapeutische Behandlung seiner asozialen Wertevorstellungen. Außer Sicherheitsverwahrung würde es wohl keine Freiheitsstrafen mehr geben. Dafür würden die psychologischen Behandlungen zunehmen.

AgentProvocateur hat geschrieben:M, eine alleinerziehende Mutter ...
Nach heutigem Strafrecht würde sie wegen Mordes verurteilt werden, es spielte dabei keine Rolle, dass M zukünftig nicht mehr gefährlich ist.
Welche 'konstruktiven Maßnahmen' sollten nun nach Deiner Ansicht ergriffen werden und wieso? (M lehnt übrigens weiterhin eine psychologische Betreuung / Therapie ab.)

Ich vermute, M benötigt durchaus psychologische Hilfe. Erstens müsste untersucht werden, ob eine Wiederholungsgefahr wirklich ausgeschlossen ist und zweitens bedürfen derartig traumatische Einschnitte für jemanden wie M sicher einer Aufarbeitung. Ich würde also die Betreuung auch gegen Ms Willen anordnen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und "strafrechtliche Schuld" basiert natürlich auf "ethischer Schuld", man kann nicht das eine haben ohne das andere.

Ich verstehe es so, dass der Konsequentialismus genau das ist, was man bekommt, wenn man "strafrechtliche Schuld" ohne "ethische Schuld" definiert.

AgentProvocateur hat geschrieben:Naja, es hört sich ja doch durchaus ein wenig merkwürdig an, wenn jemand sagt, er wolle das Strafrecht beibehalten, aber Strafen eliminieren.

Klingt wohl in der Tat erstmal widersprüchlich. Ich will möglichst viel des jetzigen Strafrechtes beibehalten. Motivation für die Änderungen ist tatsächlich nur der Wegfall der ethischen Schuld. Alles was sich mit diesem Wegfall verträgt würde ich nicht ändern wollen. Das Ergebnis müsste man dann, weil es ja keine Strafe mehr geben soll, wohl tatsächlich umbenennen. Wie wäre es mit "Sanktionsrecht"?

AgentProvocateur hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Aber diese Maßnahmen richten sich natürlich nach wie vor nur gegen die Angeklagten.

Aber wieso? Wenn die Angeklagten so wenig schuld sind wie jeder andere auch? Ist es dann nicht unfair, nur die Angeklagten den Maßnahmen unterziehen zu wollen (sofern die von diesen abgelehnt werden)?

Wie ich ja bereits erwähnte: 2) Keine Maßnahmen ohne (strafrechtliche) Schuld
Die strafrechtliche Schuld, was ich lieber Verantwortung nennen würde, ergibt sich aus der Frage: wer hat es getan? Insofern also wieder eine Sache, die sich bei meinem Strafrecht eben nicht ändert. Nur frei entschieden war dieses Tun nicht, also gibt es auch keine ethische Schuld, also auch keine Grundlage mehr für Vergeltung.

Im Übrigen gibt es ja in der jetzigen Welt auch schon zahlreiche Beispiele für generelle "Zwangsmaßnahmen". Wieso ist zum Beispiel jeder, der ein Auto fahren möchte, gezwungen, eine Fahrschule zu besuchen? Ist das etwas anderes als eine allgemeine Maßnahme um die Gefährlichkeit aller ungelernten Autofahrer zu verringern? Wenn du dich beim Strafrecht so vehement gegen diese Art von allgemeinem Gesellschaftsschutz wendest, so vermute ich, bist du auch sehr gegen die Führerscheinpflicht?
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon AgentProvocateur » Mi 10. Feb 2010, 00:59

ganimed hat geschrieben:Stimmt schon. Akausalität gewährleistet kausale Freiheit, nämlich Freiheit von kausaler Abhängigkeit. Zerstört jedoch den Willenscharakter, da Entscheidungen beliebig gefällt werden. Bei Kausalität ist der Wille also unfrei. Bei Akausalität ist er zwar frei aber kein Wille mehr. [...] Ich streite gar nicht ab, dass es Wahlmöglichkeiten gibt. Ich behaupte nur, dass sie nicht frei sind. Sondern sie sind kausal determiniert. Für Schuld brauche ich aber eine freie Wahl, eine Wahlfreiheit.

Aber warum? Was ist die Begründung dafür? Du hast bisher nur eine Behauptung: ein freier Wille ist nur dann gegeben, wenn er akausal ist. Und wenn er akausal ist, ist er kein Wille mehr. Das klingt aber reichlich absurd und selbstwidersprüchlich, findest Du nicht?

Warum, weshalb, wieso spricht Kausalität gegen einen freien Willen, gegen Wahlfreiheit, ist ein Gegensatz dazu, ("nicht frei sondern kausal determiniert"), wenn doch Akausalität nicht dafür spricht? Was genau ist "freier Wille", was genau ist "Wahlfreiheit"? Was sind die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür und wieso? Einfach so, weil Du das sagst? Wie willst Du das plausibel machen? Warum bringst Du nicht mal ein Beispiel, bei dem jeder sagen würde: "ja, in der Tat, dieser Wille wäre viel freier als der, den es in einer kausalen Welt geben kann und diese Wahl wäre viel freier und bei einer solchen Freiheit wäre X schuldig"? Da würde doch der Plausibilität Deiner bisher nur ad hoc-Behauptung einen gewaltigen Schub geben, sie nicht nur als unbegründbare Behauptung dastehen lassen, die ich einfach so als unbegründet ablehnen kann, nicht wahr? Ich habe ja auch gar keinen Anhaltspunkt, an dem ich begründen könnte. Du behauptest einfach per se, Kausalität und Freiheit seien unvereinbar, ohne auch nur ein einziges Argument dafür.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Ja, klar kann man erwarten, dass Leute die Rechtsnormen einhalten, wenn nichts Wesentliches (äußerer oder innerer Zwang) dagegen spricht.

Aber die eigene Wertevorstellungen sind etwas Wesentliches. Und sie sprechen bei B gegen die Rettung von A. Und sie sind psychologisch nicht einfach so zu ändern. In deinen Worten entsprechen sie demnach also einem Zwang. Würdest du also sagen, dass man die Einhaltung der Rechtsnorm in diesem Fall nicht von B erwarten konnte?

Doch, man kann. B in meinem Beispiel ist ein ganz normaler Mensch, er kennt die Rechtsnorm, kennt die Auswirkungen und kann sie berücksichtigen. So wie Du und ich.

Wenn B Rechte für sich beansprucht, dann muss er auch Pflichten einhalten, denn es gibt keine Rechte ohne Pflichten; er muss also die Folgen seiner Handlung, die er absehen konnte, tragen. Wenn er aber für sich keine Rechte beansprucht, (und sie vielleicht deswegen auch keinem anderen zugestehen will), wie könnte er sich über eine Strafe beklagen? Das wäre doch merkwürdig und unbegründet, nicht? Wenn er aber für sich Rechte beansprucht, aber die spiegelbildlich erforderlichen Pflichten nicht einhalten will, wäre das auch wenig einsehbar, dafür gibt es ja keinen Grund. ("Ich darf dich schlagen, aber du mich nicht" - wie will man diesen Anspruch begründen wollen?)

ganimed hat geschrieben:Wikipedia scheint mir aber nunmal zwischen ethischer und strafrechtlicher Schuld zu unterscheiden. Wobei ich die Begriffe eher so gewählt hätte:
ethische Schuld = Schuld
strafrechtliche Schuld = Verantwortung

ethische Schuld = Schuld?

Hört sich wieder merkwürdig an. Diese Gleichung kann weder stimmen, noch kann sie etwas definieren.

Schuld = moralische Verantwortung für eine Normverletzung (vorwerfbar)

So würde ich definieren. Deine Definitionen müsstest Du nochmal überarbeiten.

ganimed hat geschrieben:Mein Strafrecht kennt keine ethische Schuld, also auch keine Strafe. Ist jemand verantwortlich, dann hagelt es Maßnahmen.

Aber wieso hagelt es Maßnahmen? Wie ist Deine Legitimation für diese Maßnahmen? "Isso, weil so determiniert, könnte also auch ganz anders sein, können wir nicht wissen"? Oder weil moralische Subjekte ihre Handlungen abwägen und nach Zielen ausrichten können? Falls Letzteres: wieso kann B das dann nicht, wieso kann er nicht schuld sein? Wäre für mich notwendige und hinreichende Voraussetzung für 'Schuld'. Was sind Deine? Akausalität? Wieso und inwiefern und wie und mit welchem Beispiel?

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:M, eine alleinerziehende Mutter ...
Nach heutigem Strafrecht würde sie wegen Mordes verurteilt werden, es spielte dabei keine Rolle, dass M zukünftig nicht mehr gefährlich ist.
Welche 'konstruktiven Maßnahmen' sollten nun nach Deiner Ansicht ergriffen werden und wieso? (M lehnt übrigens weiterhin eine psychologische Betreuung / Therapie ab.)

Ich vermute, M benötigt durchaus psychologische Hilfe. Erstens müsste untersucht werden, ob eine Wiederholungsgefahr wirklich ausgeschlossen ist und zweitens bedürfen derartig traumatische Einschnitte für jemanden wie M sicher einer Aufarbeitung. Ich würde also die Betreuung auch gegen Ms Willen anordnen.

Aber M will keine psychologische Betreuung, die ist auch nicht sinnvoll, bringt nix, wenn sich jemand so vehement dagegen sträubt wie M. Die Experten haben festgestellt, dass keine Gefahr von ihr ausgeht. Aber 'ausgeschlossen' ist natürlich gar nichts. Die Experten sagen, dass mit 99,999%iger Sicherheit keine zukünftige Gefahr von ihr ausgeht. Ihr Kind ist tot, sie hat kein anderes und sie hat auch sonst niemanden, zu dem sie eine solche enge Beziehung wie zu dem Kind hatte.

Was nun?

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Naja, es hört sich ja doch durchaus ein wenig merkwürdig an, wenn jemand sagt, er wolle das Strafrecht beibehalten, aber Strafen eliminieren.

Klingt wohl in der Tat erstmal widersprüchlich. Ich will möglichst viel des jetzigen Strafrechtes beibehalten. Motivation für die Änderungen ist tatsächlich nur der Wegfall der ethischen Schuld. Alles was sich mit diesem Wegfall verträgt würde ich nicht ändern wollen. Das Ergebnis müsste man dann, weil es ja keine Strafe mehr geben soll, wohl tatsächlich umbenennen. Wie wäre es mit "Sanktionsrecht"?

'Sanktion' ist ein euphemistisches Synonym für 'Strafe'. Verschleierungstaktik für weiterhin zugefügte Repressionen, unter Ausklammerung einer notwendigen Legitimation dafür.

ganimed hat geschrieben:Die strafrechtliche Schuld, was ich lieber Verantwortung nennen würde, ergibt sich aus der Frage: wer hat es getan? Insofern also wieder eine Sache, die sich bei meinem Strafrecht eben nicht ändert.

Wann hat aber jemand die Verantwortung, wenn alles nur 'einfach so', ohne Einflussmöglichkeit der Person geschieht, ihr nie zuzurechnen ist? Dann hat doch nie jemand eine Verantwortung, oder?

Beispiel: A geht spazieren. Eine plötzliche Orkanbö schleudert ihn auf B, der schwer verletzt wird, und sein weiteres Leben im Rollstuhl verbringen muss. Ist A dafür verantwortlich? Wenn ja: warum? Was wäre nun, wenn sich A dabei verletzt hätte und B nicht? Wäre B dann verantwortlich? Oder wenn A ausrutscht, auf B fällt und sich dabei schwer verletzt? Ist dann B verantwortlich (-> 'strafrechtlich schuld')? Wenn ja: wieso? Wenn nein: wieso nicht?

ganimed hat geschrieben:Im Übrigen gibt es ja in der jetzigen Welt auch schon zahlreiche Beispiele für generelle "Zwangsmaßnahmen".

Ja, deswegen habe ich absichtlich immer nur von 'speziellen Zwangsmaßnahmen' gesprochen. Warum eine Zwangsmaßnahme gegen A und nicht gegen B? Was sind die Kriterien dafür? Zukünftige Gefährlichkeit oder die Schwere der Tat?

Wenn Ersteres: wieso nur gegen A, wenn es Anhaltspunkte der Experten gibt, dass ein gewisses Individuum in einem gewissen Forum, nennen wir es 'ganimed', noch viel gefährlicher sein könnte (zu 58,35%)? Sicher ist sicher, Maßnahmen ergreifen, weg mit ihm, oder? Wenn's doch die Experten sagen und es der Sicherheit der Gesellschaft dient, die ja schon Legitmation per se für eine solche Maßnahme ist?
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon ganimed » Mi 10. Feb 2010, 23:03

AgentProvocateur hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Für Schuld brauche ich aber eine freie Wahl, eine Wahlfreiheit.

Aber warum? Was ist die Begründung dafür?

Ich kann jemandem nur die Schuld geben, wenn der auch anders hätte handeln und wollen können. Damit jemand anders hätte handeln können, muss man unterstellen können, dass er die Handlung, die er ausführte, frei gewählt hat. Wenn die Wahl nicht frei sondern nur als Folge von kausalen Abhängigkeiten erfolgte, dann trifft den Handelnden auch keine Schuld.

AgentProvocateur hat geschrieben:Warum, weshalb, wieso spricht Kausalität gegen einen freien Willen, gegen Wahlfreiheit, ist ein Gegensatz dazu, ("nicht frei sondern kausal determiniert"), wenn doch Akausalität nicht dafür spricht?

Dein Beispiel spricht dagegen. Wenn jemand 5-Milliarden mal immer dieselbe Entscheidung trifft, dann scheint die doch relativ festgelegt zu sein. Findest du nicht? Natürlich kann da von Wahlfreiheit keine Rede sein. Und seitdem du mich davon überzeugt hast, dass Zufall = Akausalität ist, kann ich eine akausale Entscheidung ebenfalls nicht akzeptieren, weil sie nunmal beliebig und zufällig erfolgt und insofern ihren Entscheidungscharakter verliert.

AgentProvocateur hat geschrieben:Was genau ist "freier Wille", was genau ist "Wahlfreiheit"?

Ein freier Wille ist ein Wille, die nicht zu 100% von kausalen Faktoren oder anderen Zwängen abhängt. Wahlfreiheit ist dann gegeben, wenn die Wahl nicht zu 100% von kausalen Vorgaben oder anderen Zwängen erzwungen wurde.

AgentProvocateur hat geschrieben:Warum bringst Du nicht mal ein Beispiel, bei dem jeder sagen würde: "ja, in der Tat, dieser Wille wäre viel freier als der, den es in einer kausalen Welt geben kann und diese Wahl wäre viel freier und bei einer solchen Freiheit wäre X schuldig"?

Ich versuche es nochmal mit dem dualistischen Geist. Nehmen wir an, ich wäre ein dualistischer Mensch. Dann würde ich in 619000 Fällen den Trabbi haben wollen. Es gäbe dafür keinen Grund. Der imaterielle Anteil meines Gehirns ist nicht den kausalen Gesetzen unterworfen und hat, einfach so und ohne Grund, entschieden, den schlechteren Wagen zu nehmen, gegen den alle Gründe sprechen. Den Passat nehme ich nur in allen anderen der 5-Milliarden Fälle. Na, da würde doch sicher jeder sofort sagen: das ist schon viel freier.

AgentProvocateur hat geschrieben:Du behauptest einfach per se, Kausalität und Freiheit seien unvereinbar, ohne auch nur ein einziges Argument dafür.

Kausalität bedeutet doch genau, dass die Gründe uns zu unseren Entscheidungen zwingen. Kausalität bedeutet, dass nichts ohne Grund geschieht, also auch nicht unser Wollen. Wenn also ein Mensch nicht anders kann als den vorliegenden Gründen zu folgen, dann nenne ich diesen Menschen völlig intuitiv unfrei.

AgentProvocateur hat geschrieben:B in meinem Beispiel ist ein ganz normaler Mensch, er kennt die Rechtsnorm, kennt die Auswirkungen und kann sie berücksichtigen. So wie Du und ich.

B ist in unserem Beispiel tatsächlich völlig normal bis auf einen einzigen Punkt. Er hat eine Wertevorstellung, in der Anzüge wichtiger sind als Menschenleben. Selbstverständlich ist das nicht normal. Und ein Mensch, von dem ich die Rettung von A erwarten darf muss einige Voraussetzungen mitbringen, ich wiederhole sie nochmal:
1) er muss schwimmen können
2) er muss ein Menschenleben wichtiger finden als seinen eigenen Anzug
3) er muss in der Nähe sein
4) er muss die Notlage von A erkennen
Auf meine Frage, wieso Punkt (2) für dich keine Rolle zu spielen scheint, hast du geantwortet:
AgentProvocateur hat geschrieben:1, 3 und 4 müssen natürlich gegeben sein. Aber 2 nicht, B muss lediglich wissen, dass es da eine Rechtsnorm gibt, die er einhalten sollte, wenn er sich nicht berechtigt dem Vorwurf der absichtlichen Normverletzung aussetzen will. Es ist nicht erforderlich, dass er die Rechtsnorm akzeptiert, einsieht und für richtig hält; mit anderen Worten: dass er sie auch eingehalten hätte, wenn es sie nicht gäbe.

Ich füge mal zwei weitere Punkte hinzu:
5) er muss die Rechtsnorm kennen und die Folgen der Nichteinhaltung auch
6) er muss die Einhaltung wichtiger finden als seinen eigenen Anzug
Würdest du mir zustimmen, dass ich von B die Rettung von A nur dann verlangen kann, wenn er (5) und (6) erfüllt?
Und ist es nicht so, dass weil B ja nunmal A nicht gerettet hat, wir davon ausgehen können, dass (6) bei B nicht erfüllt ist?
AgentProvocateur hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Mein Strafrecht kennt keine ethische Schuld, also auch keine Strafe. Ist jemand verantwortlich, dann hagelt es Maßnahmen.

Aber wieso hagelt es Maßnahmen? Wie ist Deine Legitimation für diese Maßnahmen?

Es hagelt Maßnahmen, weil die Tat, für die der Angeklagte verantwortlich ist, eine Rechtsnormverletzung darstellt. Eine Rechtsnormverletzung ist per Definition genau das, was eine Gesellschaft nicht hinzunehmen bereit ist. Die Maßnahmen sollen dem Angeklagten helfen, wenigstens in Zukunft die Rechtsnormen einzuhalten. Die Legitimation beruht auf einer gesellschaftlichen Vereinbarung.

AgentProvocateur hat geschrieben:Oder weil moralische Subjekte ihre Handlungen abwägen und nach Zielen ausrichten können? Falls Letzteres: wieso kann B das dann nicht, wieso kann er nicht schuld sein?

B konnte es, er konnte abwägen und nach Zielen handeln. Aber er konnte das nicht frei tun. Ohne Freiheitsgrad hatte er keine Wahlfreiheit. Ihn trifft also keine moralische Schuld.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wäre für mich notwendige und hinreichende Voraussetzung für 'Schuld'. Was sind Deine? Akausalität? Wieso und inwiefern und wie und mit welchem Beispiel?

Ein notwendige Voraussetzung für 'Schuld' ist, dass der Handelnde auch anders hätte handeln können. Dazu braucht er Wahlfreiheit und einen freien Willen. Das gibt es in einer kausalen Welt aber nicht. Da die notwendige Voraussetzung fehlt, gibt es logischerweise auch keine 'Schuld'. Als Beispiel würde ich den Anzug liebenden B vorschlagen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber M will keine psychologische Betreuung, die ist auch nicht sinnvoll, bringt nix, wenn sich jemand so vehement dagegen sträubt wie M. ... Was nun?

Ich würde bezweifeln, dass psychologische Betreuung ohne die Zustimmung von Patienten möglich ist. Aber meinetwegen, wenn es im vorliegenden Fall so wäre, dass keine hilfreiche Maßnahme zur Verfügung steht, würde ich also keine anordnen. Worauf willst du eigentlich mit dem M-Beispiel hinaus?

AgentProvocateur hat geschrieben:Wann hat aber jemand die Verantwortung, wenn alles nur 'einfach so', ohne Einflussmöglichkeit der Person geschieht, ihr nie zuzurechnen ist? Dann hat doch nie jemand eine Verantwortung, oder?

Wie kommst du darauf, dass alles nur 'einfach so' passiert und ohne Einflussmöglichkeit der Person? Wieso ist eine Handlung nie zuzurechnen?
Alles passiert nicht 'einfach so' sondern aus Gründen.
Die Person hat jede Menge Einflussmöglichkeiten, allerdings keine frei bzw. unabhängig gewählten.
Die Handlung von B war B zuzurechnen. Dem Mann, der durch eine Orkanböe auf einen anderen geschleudert wird, ist diese Tat nicht zuzurechnen, da er nur passiver Spielball des Windes war. Ich frage mich also, wie du auf deine Formulierung gekommen bist. Solltest du einige meiner oft wiederholten Sprüche ignorieren? Skandal! :)

AgentProvocateur hat geschrieben:Warum eine Zwangsmaßnahme gegen A und nicht gegen B? Was sind die Kriterien dafür? Zukünftige Gefährlichkeit oder die Schwere der Tat?
Wenn Ersteres: wieso nur gegen A, wenn es Anhaltspunkte der Experten gibt, dass ein gewisses Individuum in einem gewissen Forum, nennen wir es 'ganimed', noch viel gefährlicher sein könnte (zu 58,35%)? Sicher ist sicher, Maßnahmen ergreifen, weg mit ihm, oder? Wenn's doch die Experten sagen und es der Sicherheit der Gesellschaft dient, die ja schon Legitmation per se für eine solche Maßnahme ist?

In meiner Gesellschaft, in der es keine moralische Schuld mehr gibt, könnte man prinzipiell sicher darüber nachdenken, die Maßnahmen auszuweiten. Das Kriterium wäre dann in der Tat die zukünftige Gefährlichkeit. Ob eine Gesellschaft dies will oder nicht, hängt wohl auch davon ab, wie wirksam man die Nachteile einer solchen Entwicklung unterbinden könnte.
Wie ist es in deiner Gesellschaft, der jetzigen, in der es moralische Schuld gibt und das heutige Strafrecht. Es gibt allgemeine Zwangsmaßnahmen (Führerscheinprüfung), es gibt Überwachungsmaßnahmen (Vorsorgliche Datenhaltung unbescholtener Bürger für spätere Ermittlungen) und es gibt vom Richter ausgesprochene Besserungsmaßnahmen bezüglich des Angeklagten (Sozialdienst ableisten, Besserungsanstalt, psychologische Therapien, ...)
Deine Argumente gegen meine Gesellschaft wären ungleich plausibler, wenn sie sich auf Dinge bezögen, die nicht auch bereits im heutigen System vorkommen und die nicht auch von der jetzigen Gesellschaft vereinbart und legitimiert sind.

Was ich noch nicht ganz verstanden habe, möglicherweise ist es auch nur in dem Kreuzzug gegen den Konsequentialismus untergegangen: Wie ist deiner Meinung nach die Vergeltung im Strafrecht legitimiert? Woher nimmt ein Richter das Recht, B das persönliche Recht auf Freiheit zu nehmen, und ihn für unterlassene Hilfeleistung für ein Jahr einzusperren?
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon AgentProvocateur » Do 11. Feb 2010, 18:24

Also, ich fasse mal ein bisschen zusammen. Ein Inkompatibilist behauptet, in einer kausalen Welt könne es keine Willensfreiheit und keine Wahlfreiheit geben. Was bedeutet, dass für beides Akausalität notwendige Voraussetzung sein müsste.

Nun könnte man einfach sagen: na gut, Willensfreiheit und Wahlfreiheit sind halt von Vorneherein selbstwidersprüchliche Konzepte, die in keiner denkbaren Welt möglich sind, völlig egal, ob die determiniert ist oder nicht (-> wenn 'Freiheit' 'Unabhängigkeit von allem' bedeutet und ein Wille oder eine Wahl von der Persönlichkeit abhängen muss, um überhaupt ihr Wille bzw. ihre Wahl sein zu können, dann können diese Konzepte nie existieren, denn etwas kann logischweise nicht gleichzeitig abhängig und unabhängig sein) und das wär's dann. Ad acta gelegt und Schwamm drüber.

Willensfreiheit und Wahlfreiheit werden jedoch oft als Voraussetzung für moralische Verantwortung (-> 'er konnte etwas dafür, es geschah nicht einfach etwas mit ihm [-> Orkanbö], er hatte Kontrolle und Einfluss darauf, es war seine Entscheidung und Handlung') gesehen, daher kann man es noch nicht zu den Akten legen.

Und nun ist es aber wenig einsichtig, wie ein akausaler Faktor Kontrolle erhöhen könnte. Ein solcher Zufallsfaktor muss zwar nicht notwendigerweise jede Kontrolle ausschließen, (der weiter oben skizzierte indeterminierte Vorschlagsgenerator), je nachdem, an welcher Stelle des Entscheidungsprozesses er eintritt, aber wie er sie erhöhen könnte, ist völlig unklar. Aber eben das müsste der Inkompatibilist zeigen können, wie das überhaupt denkbar wäre, denn eben das behauptet er doch.

Der indeterminierte Vorschlagsgenerator z.B. verhindert zwar nicht Kontrolle, er erhöht sie aber auch nicht, es ist völlig unerheblich, ob der echt indeterminiert ist oder nicht, Hauptsache nur, er funktioniert hinreichend gut.

An anderer Stelle des Entscheidungsprozesses vermindert (oder verhindert) jedoch Zufall Kontrolle. Wenn ich nicht nach meinen Gründen entscheiden und handeln kann, sondern da am Ende etwas akausal geschieht (durch einen 'immateriellen Geist' oder was auch immer), so dass mir meine Entscheidungen und Handlungen sozusagen nur passieren (-> Trabbi), dann habe ich keine Kontrolle darüber und kann deswegen mE auch nicht moralisch verantwortlich dafür sein.

Moralisch verantwortlich ist nur derjenige, der eine hinreichende Fähigkeit dazu hat, seine Handlungen abzuschätzen, nach Gründen auszurichten und daraufhin sich für etwas entscheidet und dann diese Handlung ausführt. Und dazu ist Kausalität notwendige Voraussetzung, aber doch kein Hinderungsgrund.

Entweder zeigt nun der Inkompatibilist, wie Zufall Kontrolle erhöhen oder gar erst gewährleisten könnte, wie ein 'freier' Entscheidungsprozess in seinem Sinne also ablaufen könnte oder er sagt, 'Willensfreiheit' sei sowieso nicht möglich, in keiner denkbaren Welt. Aber dann wird seine bisherige Argumentation ziemlich fragwürdig: wieso argumentiert er dann überhaupt mit 'Kausalität' und 'Akausalität', wenn die bei seinem Konzept von 'Willensfreiheit' doch überhaupt keine Rolle spielen, sein Konzept sowieso logisch widersprüchlich und daher von Vorneherein unmöglich ist?

Und was hat das dann noch mit moralischer Verantwortung zu tun, wo ist der Zusammenhang? Wieso sollte jemand dann erst moralisch verantwortlich sein, wenn er dazu fähig ist, etwas 'frei' von seinen Gründen, Absichten, Überlegungen, seiner Persönlichkeit zu tun? Wenn doch 'Freiheit' hier offensichtlich nichts anderes als 'Zufall' bedeutet? Wie kann der Inkompatibilist auf der einen Seite zustimmen, dass 'Willensfreiheit' und 'Zufall' sich widersprechen und auf der anderen Seite aber fordern, dass Akausalität eine notwendige Voraussetzung für Willensfreiheit sei?

Wenn der Inkompatibilist sagt: "notwendige Voraussetzung für moralische Verantwortung ist, dass jemand auch anders handeln kann", dann muss er auch sagen, wie das zu verstehen ist, wenn es nicht in dem Sinne: "wir können dies oder jenes machen, z.B. diesen oder jenen Gesellschaftsvertrag abschließen" zu verstehen ist. Er kann ja nicht meinen, dass man zufällig anders handeln kann; das kann man ja problemlos, indem man eine Entscheidung von einem indeterminierten Quantenwürfel abhängig macht, was ja aber nicht 'freier' machen würde, sondern nur unabhängig von Determiniertheit; aber was meint er dann? Kausal nicht, akausal nicht, aber was sonst? (Auch ein 'immaterieller Geist' ist entweder kausal oder akausal, was Drittes gibt es ja gar nicht, ein 'immaterieller Geist' ist nichts Drittes.)

Kommen wir mal zum Gesellschaftsvertrag. Ein solcher setzt moralische Wesen voraus, die sich aufgrund rationaler Überlegungen auf etwas einigen können, das sie dann auch einhalten können. Mit anderen Worten: 'Willensfreiheit', so wie ich sie verstehe und wie sie meiner Ansicht nach auch nur einzig sinnvoll zu verstehen ist. Vertragsbedingungen sind gegenseitige Abmachungen, die einzuhalten sind, ergeben ein gegenseitiges 'Sollen'. Werden sie nicht eingehalten, muss man schauen, woran das liegt, ob das die Schuld des Vertragsverletzers ist oder nicht. Und wenn es seine Schuld ist, die Vertragsverletzung also ihm zuzurechnen ist, dann kann man ihn dafür verantwortlich machen. Er ist verpflichtet, so wie alle anderen Mitspieler auch, den Vertrag einzuhalten, außer es gab unvorhersehbare Umstände, die er nicht zu verantworten hat und die ihn hinderten, den Vertrag zu erfüllen. Wären nun aber nur diejenigen verpflichtet, ihn einzuhalten, die ihn auch einhalten, dann wäre das ziemlich sinnlos. Und wenn man meint, dass niemand etwas dafür könne, was er tue, wegen Kausalität oder was auch immer, dann ergibt die Idee eines Gesellschaftsvertrages von Vorneherein keinen Sinn, denn der setzt die Möglichkeit zu selbstverantwortetem Handeln voraus. So wie jeder Vertrag. Und so wie jedes Recht.

Nun ist es auch so, dass angedrohte Sanktionen bei einer Rechtsnormverletzung nicht nur eine Wirkung auf einen Einzelnen haben, sondern auf alle. Die Sanktionen sollen bei einer Entscheidung eine kausale Rolle spielen, d.h. einen Einfluss auf eine Entscheidung haben. Wenn sich ein Einzelner für eine Rechtsnormverletzung entscheidet, dann kann man nicht einfach nur schauen, ob und wie man bei dem Einzelnen eine zukünftige Rechtsnormverletzung verhindern kann, man muss auch überlegen, was das für Auswirkungen auf Dritte hat. Dafür war mein Beispiel mit M gedacht: wenn man bei ihr nun sagte, "nun gut, war eine einmalige Tat, wird nicht wieder vorkommen, helfen können wir auch nicht, also machen wir nichts", dann werden sich andere in einer ähnlichen Situation eher überlegen, ob sie nicht auch so handeln sollen, da sie dann ebenfalls straflos davonkommen. Die Rechtsnorm 'Selbstjustiz ist verboten' würde dadurch aufgeweicht, würde in bestimmten Fällen nicht mehr existieren. Sanktionen nur anzudrohen, sie dann aber nicht anzuwenden, ergibt nicht besonders viel Sinn. Man würde dann eben Tötungen wie im Falle von M an T auch für künftige ähnlich gelagerte Fälle zulassen und so mE wahrscheinlich die Anzahl solcher Taten erhöhen. Die allgemeine Rechtsnorm wäre dann: 'Verletzung einer Rechtsnorm ist dann in Ordnung, bzw. hat zumindest keine Auswirkungen, wenn sie ziemlich sicher nur einmal geschieht; wenn man mich zukünftig als nicht gefährlich einstuft'.

Deine Unterscheidung zwischen 'moralischer Schuld' und 'juristischer Schuld' habe ich übrigens immer noch nicht verstanden. Für mich gibt es da keinen wesentlichen Unterschied. Jemand kann ja mE nicht 'moralisch schuldiger' sein, nur weil irgendwo ein Zufallsfaktor hinzu kommt.

Und ob man ein Präventionsstrafrecht befürwortet oder nicht, hängt mE wesentlich davon ab, was man unter 'Freiheit' versteht und für wie wesentlich man die als Grundlage einer Gesellschaft hält. Bzw., ob man Sicherheit höher bewertet als Freiheit.
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon ganimed » Do 11. Feb 2010, 20:48

AgentProvocateur hat geschrieben:Moralisch verantwortlich ist nur derjenige, der eine hinreichende Fähigkeit dazu hat, seine Handlungen abzuschätzen, nach Gründen auszurichten und daraufhin sich für etwas entscheidet und dann diese Handlung ausführt.

Hier beschreibst du nur etwas näher, dass die Entscheidung eines moralisch Verantwortlichen nicht beliebig sein soll. Ich stimme zu. Akausalität mit seiner zufälligen Beliebigkeit scheidet also aus.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn der Inkompatibilist sagt: "notwendige Voraussetzung für moralische Verantwortung ist, dass jemand auch anders handeln kann", dann muss er auch sagen, wie das zu verstehen ist, wenn es nicht in dem Sinne: "wir können dies oder jenes machen, z.B. diesen oder jenen Gesellschaftsvertrag abschließen" zu verstehen ist.

Der Mensch kann "dies" tun oder "jenes". Wenn er "dies" tat, dann deshalb, weil er sich dafür entschied.
Nun fordert der Inkompatibilist: der Mensch ist nur dann schuld, "dies" getan zu haben, wenn er auch "jenes" hätte tun können.
Damit ist nicht gemeint, dass der Mensch die Fähigkeit hat, "jenes" zu tun. Gemeint ist, dass er sich auch für "jenes" hätte entscheiden können.
Gemeint ist also nicht die grundsätzliche Fähigkeit für die Handlung sondern auch die Entscheidungsmöglichkeit für diese Handlungen.
In einer kausalen Welt entschied sich der Mensch aber aus seinen Gründen dafür, "dies" zu tun. Also konnte er sich gar nicht für "jenes" entscheiden, da er ja nunmal keine anderen Gründe aus dem Hut zaubern kann. Also konnte er in diesem Sinne "jenes" auch nicht tun.

AgentProvocateur hat geschrieben:Deine Unterscheidung zwischen 'moralischer Schuld' und 'juristischer Schuld' habe ich übrigens immer noch nicht verstanden.

Ich habe, um diesen Punkt zu klären, noch einmal bei Wikipedia nachgeschaut. Überrascht stelle ich fest, dort bisher nicht richtig gelesen zu haben und den Begriff "juristische Schuld" bisher falsch verwendet zu haben. Kein Wunder, wenn meine bisherigen Auslassungen mit diesen Begriffen etwas verwirrend gewirkt haben. Entschuldigung! Bei Wikipedia sehe ich nun also doch keine Unterscheidung der beiden Begriffe. Mit beiden Begriffen ist jene Schuld gemeint, bei der der Täter auch anders hätte handeln können müssen (bzw. sich für andere Handlungen hätte entscheiden können).

In meiner konsequentialistischen Welt wird also übersichtlicherweise jede Schuld gestrichen. Juristisch bliebe dann nur noch der Begriff "Verantwortung" übrig. Wikipedia schreibt dazu:
    "Verantwortung bedeutet die Möglichkeit, dass eine Person für die Folgen eigener oder fremder Handlungen Rechenschaft ablegen muss. Sie drückt sich darin aus, bereit und fähig zu sein, später Antwort auf mögliche Fragen zu deren Folgen zu geben. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist die Fähigkeit zur bewussten Entscheidung."

AgentProvocateur hat geschrieben:Und wenn man meint, dass niemand etwas dafür könne, was er tue, wegen Kausalität oder was auch immer, dann ergibt die Idee eines Gesellschaftsvertrages von Vorneherein keinen Sinn, denn der setzt die Möglichkeit zu selbstverantwortetem Handeln voraus. So wie jeder Vertrag. Und so wie jedes Recht.

Stimmt nicht. Selbstverantwortliches Handeln geht auch dann, wenn niemand etwas dafür kann was er tut. Jedenfalls folgt das aus der oben genannten Definition. Bei der Verantwortung brauche ich eben keine Wahlfreiheit. Nur Bewusstsein, Zuordbarkeit und Kontrolle. Freiheit für Alternativen brauche ich nur für Schuld.

Aber ohne Schuld gibt es meiner Meinung nach keine Legitimation mehr für Strafe.

Folgende Fragen an dich scheinen mir noch nicht klar beantwortet zu sein:

Wie ist deiner Meinung nach die Vergeltung im Strafrecht legitimiert? Woher nimmt ein Richter das Recht, B das persönliche Recht auf Freiheit zu nehmen, und ihn für unterlassene Hilfeleistung für ein Jahr einzusperren?

Wieso ist B schuldig, wenn er sich aufgrund seiner Gründe (d.h. seiner Wertevorstellungen) nur für das Nichtretten von A entscheiden konnte?
Oder, falls er sich doch für das Retten von A entscheiden konnte, wie hätte er das tun können mit dieser seiner Werteprioritäten?
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon AgentProvocateur » Do 11. Feb 2010, 23:36

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Moralisch verantwortlich ist nur derjenige, der eine hinreichende Fähigkeit dazu hat, seine Handlungen abzuschätzen, nach Gründen auszurichten und daraufhin sich für etwas entscheidet und dann diese Handlung ausführt.

Hier beschreibst du nur etwas näher, dass die Entscheidung eines moralisch Verantwortlichen nicht beliebig sein soll. Ich stimme zu. Akausalität mit seiner zufälligen Beliebigkeit scheidet also aus.

Ja, aber Kausalität scheidet dann nicht mehr aus. Das ist der 'Witz' dabei. Du hast dann kein Argument mehr dafür, wieso dem so sein sollte (weil Dein Argument war: 'moralische Verantwortung erfordert Akausalität').

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn der Inkompatibilist sagt: "notwendige Voraussetzung für moralische Verantwortung ist, dass jemand auch anders handeln kann", dann muss er auch sagen, wie das zu verstehen ist, wenn es nicht in dem Sinne: "wir können dies oder jenes machen, z.B. diesen oder jenen Gesellschaftsvertrag abschließen" zu verstehen ist.

Der Mensch kann "dies" tun oder "jenes". Wenn er "dies" tat, dann deshalb, weil er sich dafür entschied.
Nun fordert der Inkompatibilist: der Mensch ist nur dann schuld, "dies" getan zu haben, wenn er auch "jenes" hätte tun können.
Damit ist nicht gemeint, dass der Mensch die Fähigkeit hat, "jenes" zu tun. Gemeint ist, dass er sich auch für "jenes" hätte entscheiden können.
Gemeint ist also nicht die grundsätzliche Fähigkeit für die Handlung sondern auch die Entscheidungsmöglichkeit für diese Handlungen.
In einer kausalen Welt entschied sich der Mensch aber aus seinen Gründen dafür, "dies" zu tun. Also konnte er sich gar nicht für "jenes" entscheiden, da er ja nunmal keine anderen Gründe aus dem Hut zaubern kann. Also konnte er in diesem Sinne "jenes" auch nicht tun.

Ja, aber was bedeutet das genau? Sich ohne Gründe für etwas entscheiden zu können? Kann man ja, (der indeterminierte Quantenwürfel -> echter Zufall), aber wieso wäre man dann dafür verantwortlicher als wenn man nach seinen Abwägungen entschied? Ist ja keineswegs evident, das, ganz im Gegenteil sogar.

ganimed hat geschrieben:In meiner konsequentialistischen Welt wird also übersichtlicherweise jede Schuld gestrichen. Juristisch bliebe dann nur noch der Begriff "Verantwortung" übrig. Wikipedia schreibt dazu:
    "Verantwortung bedeutet die Möglichkeit, dass eine Person für die Folgen eigener oder fremder Handlungen Rechenschaft ablegen muss. Sie drückt sich darin aus, bereit und fähig zu sein, später Antwort auf mögliche Fragen zu deren Folgen zu geben. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist die Fähigkeit zur bewussten Entscheidung."

Nein, nein, so geht das nicht. 'Schuld' bedeutet nicht mehr und nicht weniger als moralische Verantwortung für eine Normverletzung. Solange es moralische Verantwortung und Normverletzungen gibt, gibt es logischerweise auch 'Schuld'.

Die Frage wäre also nur: wann genau ist jemand für seine Handlung moralisch verantwortlich?

Meine Antwort wäre die: falls er hinreichend dazu in der Lage war, die Folgen seiner Entscheidung abzuschätzen und seine Handlung daraufhin auszurichten.

Das bedeutet:

1. 'Orkanbö' -> nicht abschätzbar = keine Handlung, keine Kontrollmöglichkeit, nicht verantwortlich.
2. 'B rettet A nicht vor dem Ertrinken' -> seine Entscheidung und Handlung, die Folgen waren für ihn abschätzbar = verantwortlich.

Und Deine Antwort? Was sind Deine Kriterien dafür, jemanden für verantwortlich zu halten (und somit für 'schuld' an einer Rechtsnormverletzung)?

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Und wenn man meint, dass niemand etwas dafür könne, was er tue, wegen Kausalität oder was auch immer, dann ergibt die Idee eines Gesellschaftsvertrages von Vorneherein keinen Sinn, denn der setzt die Möglichkeit zu selbstverantwortetem Handeln voraus. So wie jeder Vertrag. Und so wie jedes Recht.

Stimmt nicht. Selbstverantwortliches Handeln geht auch dann, wenn niemand etwas dafür kann was er tut. Jedenfalls folgt das aus der oben genannten Definition. Bei der Verantwortung brauche ich eben keine Wahlfreiheit. Nur Bewusstsein, Zuordbarkeit und Kontrolle. Freiheit für Alternativen brauche ich nur für Schuld.

Aber nein, jede Alternative, die ich nicht will und die ich dennoch ergreifen muss ('muss' = ich will sie gar nicht ergreifen) vermindert, bzw. konterkariert doch meine Verantwortung und somit meine Schuld. Wie kann 'Wahlfreiheit' (= Zufall) Schuld erhöhen?

ganimed hat geschrieben:Aber ohne Schuld gibt es meiner Meinung nach keine Legitimation mehr für Strafe.

Nö, im Gegenteil, mit einer 'Schuld' nach Deinem Verständnis (= zufällige und somit nicht kontrollierbare Handlung) würde es mE keine Legitimation für eine Strafe geben.

ganimed hat geschrieben:Folgende Fragen an dich scheinen mir noch nicht klar beantwortet zu sein:

Wie ist deiner Meinung nach die Vergeltung im Strafrecht legitimiert? Woher nimmt ein Richter das Recht, B das persönliche Recht auf Freiheit zu nehmen, und ihn für unterlassene Hilfeleistung für ein Jahr einzusperren?

Für die Legitimation siehe oben meinen Link und die Übersetzung dessen. In Kürze: basiert auf einem Gesellschaftsvertrag zwischen mündigen, rationalen und selbstverantwortlichen Wesen, die für sich Rechte fordern und daraufhin notwendigerweise spiegelbildlich Pflichten einhalten und für Verletzung dieser Pflichten einstehen müssen. Es wäre ziemlich merkwürdig und nicht begründbar, nur für sich Rechte zu fordern, es sei denn, man hätte die Macht dazu, das Recht des Stärkeren also.

Was auch Sanktionen beinhalten kann, wenn das der Durchsetzung der Rechte, die beansprucht werden, dient, das als sinnvoll angesehen wird.

Und, um das nochmal explizit zu sagen, falls das bisher irgendwie missverständlich sein sollte: es gibt mE keinen sich ausschließenden Gegensatz zwischen Vergeltung und Konsequentialismus. Die mE sinnvolle Lösung ist die eines sowohl-als-auch. Nur der, der für eine Rechtsnormverletzung verantwortlich ist, (damit automatisch auch schuld daran -> das bedeutet das), nur der darf Sanktionen unterworfen werden, ansonsten hätten wir eine Willkürgesellschaft, in der jeder, auch jemand, der nicht Schlimmes getan hat, persönlichen, nur speziell gegen ihn gerichteten Sanktionen unterworfen werden dürfte. Etwas, das mE kein auch nur halbwegs rationaler Mensch als akzeptablen Gesellschaftsvertrag unterschreiben könnte, falls er davon ausgeht, dass rationale und selbstbestimmte Handlungen möglich sind, das also, was ich unter 'Willensfreiheit' verstehe. Falls die aber generell nicht möglich sind, dann kann es auch kein Gesellschaftsvertrag geben, dann muss eben alles so kommen, wie es kommen wird. Können wir dann ja eh nicht ändern, dann ist alles egal. Fatalismus eben. Scheißpiepegal, ob jemand tötet oder vergewaltigt, das muss dann ja, nichts zu ändern, kein selbstbestimmtes Wesen existent, das was dran ändern kann.

Entweder a) wir können unsere Zukunft bewusst gestalten oder b) wir können es nicht.

Falls a): Rechtsnormen sind sinnvoll, (z.B. 'Töten Unschuldiger ist verboten', 'sexuelle Selbstbestimmung ist zu gewährleisten'), deren Einhaltung wir durch Androhung von Sanktionen und deren Durchsetzung durchsetzen können.

Falls b): Rechtsnormen sind Quark. Fatalismus. Alles wird so kommen, wie es kommen wird, es ist sinnlos, zum Beispiel Selbstjustiz zu verbieten. Und Sanktionen / Strafen sind nicht verboten, können sie auch nicht sein, weil sie unabwendbar sind, so wie sie eben sind, nicht moralisch vorwerfbar. Weil man nichts ändern kann, keine Alternative hat.

Wobei b) natürlich einfach nur Unsinn ist. Entweder kann man moralische Forderungen stellen (z.B. 'es ist moralisch falsch, jemanden moralisch zu verurteilen' oder 'Strafen sind moralisch falsch') oder man kann es nicht. Wenn man es nicht kann, kann man auch keine moralische Verurteilung mehr moralisch verurteilen. Das wäre selbstwidersprüchlich, jedenfalls dann, falls man ihr einen Sinn, einen Appell zuordnen wollte, das nicht einfach als per se sinnlose Äußerung, die irgendwie unverständlicherweise kausal entstanden ist, ansehen will. Die moralische Verurteilung wäre dann halt auch einfach nur so, wie sie wäre. Ohne Alternative.

Aber wir müssen in Alternativen denken, dazu gibt es keine Alternative. Wir müssen uns als frei ansehen, auch dazu gibt es keine Alternative. Wir sind zur Freiheit verdammt, determiniert dazu, uns und die anderen als selbstbestimmte Wesen anzusehen, die erst Normen in diese Welt bringen können. Normen, die wir gegenseitig akzeptieren können oder auch nicht. Und wenn wir eine bestimmte Norm nicht akzeptieren, können wir nicht dieselbe Norm gleichzeitig für uns fordern (so wir wie die anderen sind). Das entbehrte jeglicher Grundlage.
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon ganimed » Fr 12. Feb 2010, 03:08

AgentProvocateur hat geschrieben:Ja, aber Kausalität scheidet dann nicht mehr aus. Das ist der 'Witz' dabei. Du hast dann kein Argument mehr dafür, wieso dem so sein sollte (weil Dein Argument war: 'moralische Verantwortung erfordert Akausalität').

Deine ständigen Versuche, mit der Akausalität zu argumentieren rühren mich. Ich schlage dennoch vor, da nicht mehr allzuviel Energie hinein zu stecken. Mein Argument ist jedenfalls: moralische Verantwortung erfordert Wahlfreiheit. Die gibt es mit Kausalität aber nicht.
Als Gegenargument von dir fände ich nun viel konstruktiver, wenn du mir aufzeigen könntest, wieso es mit Kausalität doch Wahlfreiheit gibt und wie die genau aussehen soll. Da meine Behauptung eine Nichtexistenz beinhaltet, musst du doch nur ein einziges winzig kleines Gegenbeispiel bringen und schon können wir alle nach Hause gehen. Wo bleibt es?

AgentProvocateur hat geschrieben:Nein, nein, so geht das nicht. 'Schuld' bedeutet nicht mehr und nicht weniger als moralische Verantwortung für eine Normverletzung.

Ich könnte mir vorstellen, dass meine "Verantwortung" dann eben nicht deine "moralische Verantwortung" ist. Aber ok, um Missverständnisse zu vermeiden, ziehe ich mich auf den Begriff der Zurechenbarkeit zurück. Wenn eine Normverletzung einer Person B zuzurechnen ist, dann hagelt es für sie Maßnahmen. Schuld und moralisch verantwortlich ist B erst, wenn er auch anders hätte handeln können.

AgentProvocateur hat geschrieben:Die Frage wäre also nur: wann genau ist jemand für seine Handlung moralisch verantwortlich?
Meine Antwort wäre die: falls er hinreichend dazu in der Lage war, die Folgen seiner Entscheidung abzuschätzen und seine Handlung daraufhin auszurichten.

Also bei Wikipedia steht das anders. Unter "Schuld (Strafrecht)" finde ich:
    "Heute herrschend ist der von Frank begründete[1] normative Schuldbegriff, wonach Schuld die Vorwerfbarkeit vorsätzlichen oder fahrlässigen Verhaltens bedeutet.[2] Diese Vorwerfbarkeit des schuldhaften Verhaltens beruht auf dem Gedanken der Willensfreiheit, soweit sie die Tatschuld berührt. ... Vorwerfbarkeit des Verhaltens setzt voraus, dass der Täter sich anders hätte entscheiden können.
Ich vermisse bei dir den Punkt des sich anders entscheiden könnens. Was du anführst, nämlich die Folgen abschätzen und die Handlung darauf ausrichten, kann ja auch ein dummes Programm leisten, wie ich ja schonmal gezeigt hatte. Nur geschieht das eben nicht frei, sondern immer wieder gleich. Nur weil man Entscheidungen unfrei abschätzt, also abhängig von den kausalen Faktoren, erlangt man noch nicht die Fähigkeit, auch anders entscheiden zu können. Man entscheidet in derselben Situation immer gleich. 5-Milliarden mal immer den Passat. Nach Wikipedia ist man also nicht schuld und moralisch nicht verantwortlich.

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber nein, jede Alternative, die ich nicht will und die ich dennoch ergreifen muss ('muss' = ich will sie gar nicht ergreifen) vermindert, bzw. konterkariert doch meine Verantwortung und somit meine Schuld. Wie kann 'Wahlfreiheit' (= Zufall) Schuld erhöhen?

Wahlfreiheit bedeutet, dass ich eine Alternative will. Du scheinst fast mechanisch immer den "Willen", den Augenblick der Entscheidung aus der Betrachtung heraus zu nehmen und dir dann nur noch die Handlung anzuschauen. Damit landest du aber immer nur bei Handlungsfreiheit. Die Wahlfreiheit findet früher statt. Wenn man die hat, dann wählt man etwas anderes und man will das auch.

AgentProvocateur hat geschrieben:mit einer 'Schuld' nach Deinem Verständnis (= zufällige und somit nicht kontrollierbare Handlung)

Auch wieder falsch. "Schuld" nach meinem Verständnis gibt es nicht. Also meine ich damit auch nicht "zufällige und somit nicht kontrollierbare Handlungen".

AgentProvocateur hat geschrieben:Für die Legitimation siehe oben meinen Link und die Übersetzung dessen. In Kürze: basiert auf einem Gesellschaftsvertrag zwischen mündigen, rationalen und selbstverantwortlichen Wesen, die für sich Rechte fordern und daraufhin notwendigerweise spiegelbildlich Pflichten einhalten und für Verletzung dieser Pflichten einstehen müssen.

Du kommst irgendwie einfach nicht auf den Punkt. Meine Frage war ja, wie Strafe legitimiert ist. Du schreibst nur, dass man nicht nur Rechte hat, sondern auch Pflichten einhalten muss. Aber wieso darf man jemanden, der die Pflichten nicht einhält, bestrafen?

AgentProvocateur hat geschrieben:Was auch Sanktionen beinhalten kann, wenn das der Durchsetzung der Rechte, die beansprucht werden, dient, das als sinnvoll angesehen wird.

Die Frage bleibt: wieso kann es auch Sanktionen (gemeint sind Strafen, oder?) enthalten? Was ist die Legitimation?

AgentProvocateur hat geschrieben:Nur der, der für eine Rechtsnormverletzung verantwortlich ist, (damit automatisch auch schuld daran -> das bedeutet das), nur der darf Sanktionen unterworfen werden, ansonsten hätten wir eine Willkürgesellschaft

Du begründest, wieso nur der Angeklagte bestraft werden kann. Aber du sagst nicht, wieso der bestraft werden kann.

AgentProvocateur hat geschrieben:Falls die aber generell nicht möglich sind, dann kann es auch kein Gesellschaftsvertrag geben, dann muss eben alles so kommen, wie es kommen wird. Können wir dann ja eh nicht ändern, dann ist alles egal. Fatalismus eben. Scheißpiepegal, ob jemand tötet oder vergewaltigt, das muss dann ja, nichts zu ändern, kein selbstbestimmtes Wesen existent, das was dran ändern kann.

Auch wieder falsch. Ohne freien Willen hat man dennoch einen Willen. Dein Bild des Fatalismuses und des nichts ändern könnens hat mit meiner Position nichts zu tun.

AgentProvocateur hat geschrieben:Entweder a) wir können unsere Zukunft bewusst gestalten oder b) wir können es nicht.

Falsch. Wir reden darüber, ob wir sie frei gestalten können oder nicht. "Bewusst" hat damit nichts zu tun.

AgentProvocateur hat geschrieben:Falls a): Rechtsnormen sind sinnvoll, (z.B. 'Töten Unschuldiger ist verboten', 'sexuelle Selbstbestimmung ist zu gewährleisten'), deren Einhaltung wir durch Androhung von Sanktionen und deren Durchsetzung durchsetzen können.

Hier scheint endlich mal so etwas wie eine Legitimation durch. Wenn es so wäre, dass man die Rechtsnormen nur durch Androhung (und dann eben auch Anwendung) von Strafe durchsetzen könnte, dann wäre das eine Legitimation. Das klang ja auch in deinem Argument mit M an. Ich halte dieses Argument aber bestenfalls für schwach.
Wie viele Mütter gibt es, die den Mörder ihres Kindes umbringen? Sehr sehr wenige. Und was das entscheidende ist, um dein Argument irgendwie zu unterstützen: wie viele Mütter gibt es, die den Mörder ihres Kindes nur deshalb nicht getötet haben, weil sie Angst vor einer Strafe hatten? Wenn eine Mutter durchdreht und aus einem tiefen Vergeltungsinstinkt den Mörder tötet, dann wird sie sich eher nicht durch rationale Überlegungen davon abhalten lassen, dass es im Gefängnis möglicherweise irgendwie nicht so toll ist. Soweit ich hörte, zeigen die Statistiken ja beispielsweise auch, dass in Ländern mit Todesstrafe die Zahl der entsprechenden Delikte keineswegs abnimmt. Wenn "Abschreckung" also deine einzige Legitimation sein sollte, dann ist sie meiner Meinung nach zwar vorhanden, ok, aber doch recht schwach.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wir sind zur Freiheit verdammt, determiniert dazu, uns und die anderen als selbstbestimmte Wesen anzusehen, die erst Normen in diese Welt bringen können. Normen, die wir gegenseitig akzeptieren können oder auch nicht.

Wir müssen nicht frei sein, um Normen haben zu können. Normen sind Zielvorstellungen gemäß des Vertrages. Auch Affen haben Normen und es hagelt Bisse, wenn sich jemand in der Pavianherde nicht daran hält. Akzeptieren können oder auch nicht, das kann ich auch unfrei tun. So wie du sagst: Entscheidung abschätzen, in diesem Fall Norm abschätzen und ihre Folgen. Das kann man auch ohne freien Willen.

Wir könnten also ruhig zugeben, das wir unfrei sind. Auf den Schuldbegriff könnte man konsequentialistischer Weise verzichten. Wir könnten Normen behalten. Wir müssten nicht fatal sein sondern könnten unseren Willen behalten. Wir könnten aufhören, über nicht existente Akausalität zu reden.

Wieso verzichtest du so ungern auf den freien Willen? Du räumst ein, dass alles kausal ist. Um den freien Willen dennoch behalten zu können, verortest du ihn einfach woanders hin: man müsse nicht frei sein (anders entscheiden können), sondern für einen freien Willen reicht es plötzlich, wenn man bewusst, kontrolliert und selber entscheidet. Das hat aber nichts mit Freiheit zu tun. Deine etwas lahme Antwort darauf: der Begriff "freier Wille" hätte sich da nunmal so eingebürgert. Und dann entpuppst du dich als vehementer Gegner jeden Konsequentialismuses. Ist das vielleicht der Grund, wieso du am freien Willen festhalten willst, selbst wenn das nur mit Begriffsverdrehung möglich ist? Weil du ohne "Schuld", "moralische Verantwortung" und "Strafen" die gesamte menschliche Gesellschaft in Gefahr siehst, der Willkür und des Fatalismus anheim zu fallen?
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 12. Feb 2010, 21:50

ganimed hat geschrieben:Mein Argument ist jedenfalls: moralische Verantwortung erfordert Wahlfreiheit. Die gibt es mit Kausalität aber nicht.
Als Gegenargument von dir fände ich nun viel konstruktiver, wenn du mir aufzeigen könntest, wieso es mit Kausalität doch Wahlfreiheit gibt und wie die genau aussehen soll. Da meine Behauptung eine Nichtexistenz beinhaltet, musst du doch nur ein einziges winzig kleines Gegenbeispiel bringen und schon können wir alle nach Hause gehen. Wo bleibt es?

Viele Inkompatibilisten verstehen unter 'Wahlfreiheit' Folgendes: "angenommen, wir könnten die Zeit zurückdrehen, dann würde sich ein Subjekt bei einer Entscheidung in exakt derselben Situation (d.h. sowohl äußere als auch innere Zustände sind exakt gleich) mal für P (Passat) und mal für T (Trabbi) entscheiden." (Auch PAP genannt: Principle of Alternate Possibilities)

PAP würde aber meiner Ansicht nach nicht auf 'Freiheit' hinweisen, sondern nur auf Willkür, Zufall, nicht in Übereinstimmung mit der Persönlichkeit zu bringen, keine Erhöhung der persönlichen Freiheit bedeuten können.

Und dann ist PAP einfach deswegen von Vorneherein völliger Quark, weil es bedeutet:

1. Angenommen, es gäbe eine Situation S und eine Situation S' und es gälte: S == S'
2. Frage: kann gelten: S != S'?
3. Antwort: nein, kann es nicht, wegen 1.
4. Deswegen gibt es keine Freiheit, weil 'Freiheit' bedeuten muss: S == S' und S != S'

Ganz tolle Argumentation.

'Wahlfreiheit' bedeutet meiner Ansicht nach dies: jemand hat die hinreichende Fähigkeit dazu, seine Präferenzen, Ansichten und Ziele bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen und die Entscheidung auf diese hin auszurichten und die Folgen seiner Entscheidung hinreichend abschätzen zu können. Jemand wäre mE nicht freier, wenn dabei irgendwo ein akausaler Faktor hinzukäme, jedenfalls wüsste ich nicht, wie das gehen könnte.

Jemand, der also immer den Passat statt des Trabbis nimmt, wäre meiner Auffassung nach freier, als der, der manchmal (für ihn selber überraschend und nicht vorhersehbar - in exakt derselben Situation) mit dem Trabbi dasäße.

Nun gibt es aber auch andere Entscheidungen, die nicht im Vorneherein so klar sind. Nehmen wir an, jemand würde sich für ein Studienfach entscheiden wollen. Er hätte mehrere Alternativen ins Auge gefasst, würde die jeweiligen Vor- und Nachteile abwägen und sich letztlich, aufgrund seiner Gewichtungen, für eine davon entscheiden. Das würde ich dann als freie Entscheidung ansehen, ich wüsste nicht, wie die 'freier' (oder überhaupt erst 'frei', da so 'unfrei') sein könnte. Du?

Oder mal noch 'ne andere Art von Entscheidung: nehmen wir an, jemand träfe eine Entscheidung zwischen zwei Gerichten in einem Restaurant. Auf der Karte stehen sehr viele Gerichte, die hat er alle schon ausgeschlossen, nur zwei bleiben übrig und er findet beide gleich attraktiv. Nun könnte er a) willkürlich aber kausal eine wählen (die erste auf der Karte zum Beispiel), er könnte aber auch b) seine Entscheidung von einem indeterminierten Quantenwürfel abhängig machen. Beides wäre nach meiner Ansicht eine freie Entscheidung (-> ist auf die Persönlichkeit und deren Fähigkeiten zur Abwägung zurückzuführen), aber b) würde ich nicht als freier ansehen.

Wie liefe nun eine 'freie' Wahl nach Deinem Verständnis ab?

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Nein, nein, so geht das nicht. 'Schuld' bedeutet nicht mehr und nicht weniger als moralische Verantwortung für eine Normverletzung.

Ich könnte mir vorstellen, dass meine "Verantwortung" dann eben nicht deine "moralische Verantwortung" ist. Aber ok, um Missverständnisse zu vermeiden, ziehe ich mich auf den Begriff der Zurechenbarkeit zurück. Wenn eine Normverletzung einer Person B zuzurechnen ist, dann hagelt es für sie Maßnahmen.

Spielt keine Rolle:

1. 'Orkanbö' -> nicht zurechenbar == nicht moralisch verantwortlich
2. 'B rettet A nicht vor dem Ertrinken' -> zurechenbar == moralisch verantwortlich

ganimed hat geschrieben:Ich vermisse bei dir den Punkt des sich anders entscheiden könnens. Was du anführst, nämlich die Folgen abschätzen und die Handlung darauf ausrichten, kann ja auch ein dummes Programm leisten, wie ich ja schonmal gezeigt hatte.

Nein, hast Du nicht. Dein dummes Programm kann nichts abschätzen, nicht die Zukunft, nicht die Auswirkungen seiner 'Entscheidung', gar nichts. Es kann nur berechnen, mehr nicht. Das Programm könnte nicht verantwortlich sein, würde nicht als Mitglied einer Gesellschaft angesehen werden.

ganimed hat geschrieben:Man entscheidet in derselben Situation immer gleich. 5-Milliarden mal immer den Passat. Nach Wikipedia ist man also nicht schuld und moralisch nicht verantwortlich.

Du solltest Dich weniger auf Wikipedia stützen und statt dessen Deine Behauptung, man könne nur dann moralisch veranwortlich sein, wenn man mal so und mal so entscheidet, mal begründen.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Aber nein, jede Alternative, die ich nicht will und die ich dennoch ergreifen muss ('muss' = ich will sie gar nicht ergreifen) vermindert, bzw. konterkariert doch meine Verantwortung und somit meine Schuld. Wie kann 'Wahlfreiheit' (= Zufall) Schuld erhöhen?

Wahlfreiheit bedeutet, dass ich eine Alternative will. Du scheinst fast mechanisch immer den "Willen", den Augenblick der Entscheidung aus der Betrachtung heraus zu nehmen und dir dann nur noch die Handlung anzuschauen. Damit landest du aber immer nur bei Handlungsfreiheit. Die Wahlfreiheit findet früher statt.

Nein, tue ich nicht, ich unterscheide zwischen

1. Handlungsfreiheit: kann tun, was er will
2. Willensfreiheit: kann seine Entscheidungen selber soweit bestimmen, dass man sie ihm zurechnen kann

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Für die Legitimation siehe oben meinen Link und die Übersetzung dessen. In Kürze: basiert auf einem Gesellschaftsvertrag zwischen mündigen, rationalen und selbstverantwortlichen Wesen, die für sich Rechte fordern und daraufhin notwendigerweise spiegelbildlich Pflichten einhalten und für Verletzung dieser Pflichten einstehen müssen.

Du kommst irgendwie einfach nicht auf den Punkt. Meine Frage war ja, wie Strafe legitimiert ist. Du schreibst nur, dass man nicht nur Rechte hat, sondern auch Pflichten einhalten muss. Aber wieso darf man jemanden, der die Pflichten nicht einhält, bestrafen?

Weil das Teil des Spieles in einer freien Gesellschaft ist: wer Pflichten nicht einhält und dafür verantwortlich ist, ihm die Pflichtverletzung zurechenbar ist, muss sich den gegebenen Regeln unterwerfen. Wenn er aber das ganze Spiel nicht akzeptiert, keine Rechte Anderer und somit keine Pflichten für sich, dann kann er auch keine Rechte nur für sich einfordern.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Entweder a) wir können unsere Zukunft bewusst gestalten oder b) wir können es nicht.

Falsch. Wir reden darüber, ob wir sie frei gestalten können oder nicht. "Bewusst" hat damit nichts zu tun.

Naja, wenn Du dann mal darlegen könntest, was 'frei' eigentlich bedeuten soll und wieso, wenn sowohl Kausalität als auch Akausalität Gegensätze dazu sind. Darauf warte ich doch schon so lange.

ganimed hat geschrieben:Wenn eine Mutter durchdreht und aus einem tiefen Vergeltungsinstinkt den Mörder tötet, dann wird sie sich eher nicht durch rationale Überlegungen davon abhalten lassen, dass es im Gefängnis möglicherweise irgendwie nicht so toll ist. Soweit ich hörte, zeigen die Statistiken ja beispielsweise auch, dass in Ländern mit Todesstrafe die Zahl der entsprechenden Delikte keineswegs abnimmt. Wenn "Abschreckung" also deine einzige Legitimation sein sollte, dann ist sie meiner Meinung nach zwar vorhanden, ok, aber doch recht schwach.

Rechtsnormen müssen durchgesetzt werden, wenn sie Bestand haben sollen und ich halte dafür Abschreckung, d.h. Androhung (und Durchführung) von Sanktionen für unerlässlich. Wären sie das nicht, dann sollte man darauf verzichten, sicher. Sie dürfen kein Selbstzweck sein. Nur wird man schlecht zeigen können, dass sie nicht funktionieren, bzw. auf einen solchen Nachweis bin ich gespannt. Ein Nachweis kann nicht der Fakt sein, dass Abschreckung nicht immer funktioniert, denn das tut sie offensichtlich nicht, (es gibt nun mal Rechtsnormverletzungen), jedoch ist dann noch nichts darüber ausgesagt, dass sie nie funktionieren, d.h. nie in eine Kalkulation einer zukünftigen Handlung einbezogen werden und diese in Richtung Rechtsnormeinhaltung beeinflussen.

Ich denke, dass zum Beispiel die Anzahl von Steuerhinterziehungen durchaus von Sanktionsandrohungen und deren Durchsetzung beeinflusst werden.

ganimed hat geschrieben:Wir könnten also ruhig zugeben, das wir unfrei sind.

Natürlich kann man ruhig zugeben, dass niemand in keiner auch nur ansatzweise denkbaren Welt in Deinem Sinne 'frei' sein könnte, da das ja per se unmöglich ist. Aber das bedeutet nun mal nicht, dass es auch keine moralische Verantwortung geben könnte, das folgt nicht.

ganimed hat geschrieben:Auf den Schuldbegriff könnte man konsequentialistischer Weise verzichten. Wir könnten Normen behalten. Wir müssten nicht fatal sein sondern könnten unseren Willen behalten. Wir könnten aufhören, über nicht existente Akausalität zu reden.

'Kausalität', die angeblich Freiheit verhindern soll, ist immerhin Dein Argument. Und nochmal: ob Akausalität in unserer Welt existiert oder nicht, spielt erst mal keine Geige. Sollte kein Problem sein, sich eine hypothetische akausale Welt vorzustellen und den Begriff der 'echten Freiheit' dort zu demonstrieren.

Und wenn wir nicht fatalistisch sein wollen, uns selber als mögliche Gestalter der Zukunft ansehen, deren Entscheidungen und Handlungen Auswirkungen auf die Zukunft haben, dann können wir uns auch weiter über mögliche Gestaltungen dieser Zukunft unterhalten. Über mögliche Alternativen, wie die gestaltet werden könnte, was dafür spricht und was dagegen. Dann können wir uns weiter als freie, gleichberechtigte Wesen ansehen, die gegenseitig Rechte und Pflichten akzeptieren und ihre Handlungen verantworten können. Dazu gibt es mE eh keine Alternative, es sei denn, jemand hätte soviel Macht, dass das für ihn verzichtbar erscheint.

ganimed hat geschrieben:Wieso verzichtest du so ungern auf den freien Willen? Du räumst ein, dass alles kausal ist. Um den freien Willen dennoch behalten zu können, verortest du ihn einfach woanders hin: man müsse nicht frei sein (anders entscheiden können), sondern für einen freien Willen reicht es plötzlich, wenn man bewusst, kontrolliert und selber entscheidet. Das hat aber nichts mit Freiheit zu tun.

Doch, das ist die einzige konsistente Darstellung von 'Freiheit', mE. Ich habe noch nie eine kohärente, d.h. nicht von Vorneherein selbstwidersprüchliche Darstellung von 'Willensfreiheit' von Inkompatibilisten gesehen und ich glaube auch kaum, dass ich die mal sehen werde.

ganimed hat geschrieben:Deine etwas lahme Antwort darauf: der Begriff "freier Wille" hätte sich da nunmal so eingebürgert.

Wieso lahm? Das ist für mich genau das Thema: haben Subjekte Kontrolle über ihre Entscheidungen und Handlungen, können sie ihnen zugeordnet werden und wenn ja: inwiefern? Deine ad hoc-Behauptung, 'Freiheit' und 'Kausalität' seien Gegensätze, finde ich da eher lahm, weil nicht begründet. Die sich selber ad absurdum führt, wenn Du zugibst, dass 'Freiheit' und 'Akausalität' auch Gegensätze seien. Aber egal, den Punkt werden wir nicht klären können, den haben wir jetzt schon oft genug durchgekaut. Du kannst einfach nicht sehen, dass Du das begründen musst und nicht einfach auf Wikipedia verweisen kannst, wo es aber nun mal auch keine Begründung dafür gibt, sondern ebenfalls nur eine Behauptung.

ganimed hat geschrieben:Und dann entpuppst du dich als vehementer Gegner jeden Konsequentialismuses.

Nö. Ich bin nur ein Gegner eines reinen, ausschließlichen Konsequentialismus.

ganimed hat geschrieben:Ist das vielleicht der Grund, wieso du am freien Willen festhalten willst, selbst wenn das nur mit Begriffsverdrehung möglich ist? Weil du ohne "Schuld", "moralische Verantwortung" und "Strafen" die gesamte menschliche Gesellschaft in Gefahr siehst, der Willkür und des Fatalismus anheim zu fallen?

Ja, so ungefähr. Was mich auch sehr stört: der Inkompatibilist hat kein logisches Argument für seine Sichtweise, er eiert meist zwischen dem Argument der Kausalität / Determination als Gegensatz zu Freiheit und dem Argument 'Freiheit ist sowieso nicht möglich' umher, was aber selbstwidersprüchlich ist. Entweder oder. Und außerdem hat er nun mal weder ein plausibles Konzept von 'Willensfreiheit', noch hat er eines von 'anders handeln können in exakt derselben Situation (PAP)' das nicht auf beliebigen Zufall hinausläuft.

Und außerdem halte ich es für nicht möglich oder zumindest für sehr nachteilig, alle anderen und sich selber als fremdgesteuerte Objekte anzusehen und nicht mehr als selbstbestimmte Subjekte, ja. Fragte sich dann halt, wer oder was das so sieht, wenn das nicht selbstbestimmte Subjekte sind.

Aber die erste Frage wäre immer noch: wieso eigentlich sollte man das tun? Und wie kann man überhaupt ein 'Sollen' fordern, wenn es gar kein 'Können', sondern nur ein 'Müssen' gibt? Das ist doch schlicht absurd, inkohärent, selbstwidersprüchlich, inkonsistent.

Nun ja. Langer Rede kurzer Sinn: wir sind trotz aller Bemühungen keinen Schritt weiter gekommen, wir wiederholen uns nur noch. Es hakt immer noch an deiner Behauptung 'Freiheit und Kausalität sind Gegensätze', die mir nicht einleuchten will. Und Dir will irgendwie aus einem mir unbekannten Grund nicht einleuchten, dass Du das nicht einfach so als Behauptung in den Raum stellen kannst, sondern eine Begründung dafür liefern musst.

Keine Ahnung, wie wir hier weiter kommen können.
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon Myron » Fr 12. Feb 2010, 22:50

ganimed hat geschrieben:Du scheinst hier beim Begriff "Handlungsfreiheit" zu sein. … Ich rede von Willensfreiheit.


"'Free will' is the conventional name of a topic that is best discussed without reference to the will. Its central questions are 'What is it to act (or choose) freely?', and 'What is it to be morally responsible for one's actions (or choices)?' These two questions are closely connected, for freedom of action is necessary for moral responsibility, even if it is not sufficient."
———
"'Willensfreiheit' ist der gebräuchliche Name eines Themas, worüber man am besten ohne Bezugnahme auf den Willen diskutiert. Seine beiden Kernfragen sind 'Was heißt es, frei zu handeln (oder zu wählen)?' und 'Was heißt es, für seine Handlungen (oder Wahlen) moralisch verantwortlich zu sein?' Diese beiden Fragen sind eng verknüpft, denn Handlungsfreiheit ist notwendig für moralische Verantwortung, auch wenn sie dafür nicht hinreichend ist."

[© meine Übers.]

("Free Will," by Galen Strawson. In The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, edited by Edward Craig, 286-294. London: Routledge, 2005. p. 286)
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon Myron » Fr 12. Feb 2010, 23:22

Apropos Galen Strawson, er argumentiert in, wie ich finde, überzeugender Weise gegen die Auffassung, dass eine Person für ihre Handlungen absolut verantwortlich ist. Um absolut verantwortlich zu sein, müsste eine Person ihr tatsächliches Sosein, das ihre Handlungen bestimmt, völlig frei gewählt haben, was jedoch unmöglich ist. Eine Person ist, um es heideggeresk auszudrücken, unfreiwillig in ihre biopsychosozialen Lebensumstände hineingeworfen, die sie zu dem gemacht haben und weiterhin machen, was sie ist. Eine absolute moralische Verantwortlichkeit kann es somit nicht geben, weil es auch keine Möglichkeit der absolut freien Selbstwahl des eigenen Charakters, der eigenen Persönlichkeitsstruktur gibt. Absolute Selbstbestimmung ist eine Illusion. Das soll nicht heißen, dass es keine relative moralische Verantwortung gibt und niemand für unsittliches oder gar verbrecherisches Handeln bestraft werden darf. Es bedeutet nur, dass "ewige Höllenstrafen" nicht zu rechtfertigen sind.


"The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility:

There is an argument, which I will call the Basic Argument, which appears to prove that we cannot be truly or ultimately morally responsible for our actions. According to the Basic Argument, it makes no difference whether determinism is true or false. We cannot be truly or ultimately morally responsible for our actions in either case.
The Basic Argument has various expressions in the literature of free will, and its central idea can be quickly conveyed. (1) Nothing can be causa sui—nothing can be the cause of itself. (2) In order to be truly morally responsible for one's actions one would have to be causa sui, at least in certain crucial mental respects. (3) Therefore nothing can be truly morally responsible.
In this paper I want to reconsider the Basic Argument, in the hope that anyone who thinks that we can be truly or ultimately morally responsible for our actions will be prepared to say exactly what is wrong with it. I think that the point that it has to make is obvious, and that it has been underrated in recent discussions of free will—perhaps because it admits of no answer. I suspect that it is obvious in such a way that insisting on it too much is likely to make it seem less obvious than it is, given the innate contra-suggestibility of human beings in general and philosophers in particular. But I am not worried about making it seem less obvious than it is so long as it gets adequate attention. As far as its validity is concerned, it can look after itself.
A more cumbersome statement of the Basic Argument goes as follows:

(1) Interested in free action, we are particularly interested in actions that are performed for a reason (as opposed to 'reflex' actions or mindlessly habitual actions).

(2) When one acts for a reason, what one does is a function of how one is, mentally speaking. (It is also a function of one's height, one's strength, one's place and time, and so on. But the mental factors are crucial when moral responsibility is in question.)

(3) So if one is to be truly responsible for how one acts, one must be truly responsible for how one is, mentally speaking—at least in certain respects.

(4) But to be truly responsible for how one is, mentally speaking, in certain respects, one must have brought it about that one is the way one is, mentally speaking, in certain respects. And it is not merely that one must have caused oneself to be the way one is, mentally speaking. One must have consciously and explicitly have chosen to be the way one is, mentally speaking, in certain respects, and one must have succeeded in bringing it about that one is that way.

(5) But one cannot really be said to choose, in a conscious, reasoned fashion, to be the way one is, mentally speaking, in any respect at all, unless one already exists, mentally speaking, already equipped with some principles of choice, 'P1'—preferences, values, pro-attitudes, ideals—in the light of which one chooses how to be.

(6) But then to be truly responsible, on account of having chosen to be the way one is, mentally speaking, in certain respects, one must be truly responsible for one's having the principles of choice P1 in the light of which one chose how to be.

(7) But for this to be so one must have chosen P1, in a reasoned, conscious, intentional fashion.

(8) But for this, that is, (7), to be so one must already have had some principles of choice P2, in the light of which one chose P1.

(9) And so on. Here we are setting out on a regress that we cannot stop. True self-determination is impossible because it requires the actual completion of an infinite series of choices of principles of choice.

(10) So true moral responsibility is impossible, because it requires true self-determination, as noted in (3).

This may seem contrived, but essentially the same argument can be given in a more natural form. (1) It is undeniable that one is the way one is, initially, as a result of heredity and early experience, and it is undeniable that these are things for which one cannot be held to be in any way responsible (morally or otherwise). (2) One cannot at any later stage of life hope to accede to true moral responsibility for the way one is by trying to change the way one already is as a result of heredity and previous experience. For (3) both the particular way in which one is moved to try to change oneself, and the degree of one's success in one's attempt at change, will be determined by how one already is as a result of heredity and previous experience. And (4) any further changes that one can bring about only after one has brought about certain initial changes will in turn be determined, via the initial changes, by heredity and previous experience. (5) This may not be the whole story, for it may be that some changes in the way one is are traceable not to heredity and experience but to the influence of indeterministic or random factors. But it is absurd to suppose that indeterministic or random factors, for which one is ex hypothesi in no way responsible, can in themselves contribute in any way to one's being truly morally responsible for how one is.
The claim, then, is not that people cannot change the way they are. They can, in certain respects (which tend to be exaggerated by North Americans and underestimated, perhaps, by Europeans). The claim is only that people cannot be supposed to change themselves in such a way as to be or become truly or ultimately morally responsible for the way they are, and hence for their actions."


(Strawson, Galen. "The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility." In: Galen Strawson, Real Materialism and Other Essays, 319-336. Oxford: Oxford University Press, 2008. pp. 319-20)


Hier noch ein lesenswertes Interview mit Strawson:

http://www.naturalism.org/strawson_interview.htm
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 13. Feb 2010, 14:55

Myron hat geschrieben:Apropos Galen Strawson, er argumentiert in, wie ich finde, überzeugender Weise gegen die Auffassung, dass eine Person für ihre Handlungen absolut verantwortlich ist. [...] Absolute Selbstbestimmung ist eine Illusion.

Genau, 'absolute Freiheit' und somit 'ultimative Verantwortung' sind schlicht unmöglich, ganz einfach. Sehr lobenswert, dass Galen Strawson nicht den Red Herring 'Determinismus/Kausalität' vorschiebt, der damit nämlich gar nichts zu tun hat.

So weit, so gut.

Sehr viel weniger nachvollziehbar für mich ist nun allerdings, dass er a) einfach behauptet, der Glaube an 'ultimative Verantwortung' sei die übliche Sichtweise und b) er da einer binären Sichtweise anhängt, (so kommt das in dem Interview rüber): entweder gibt es 'absolute moralische Verantwortung' oder es kann überhaupt keine moralische Verantwortung geben, d.h. Handlungen von Menschen seien wie Naturkatastrophen zu bewerten.

a) muss belegt werden (da kann er nicht einfach nur von sich ausgehen und 'wir' sagen, wenn er 'ich' meint) und b) ist ein schlichtes non sequitur. Zu kurz gedacht.
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Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon Mark » Sa 13. Feb 2010, 17:10

Die Verwendung des Wortes "absolut" an sich ist schon ein Fehler, weil es aus den Mengenraum hinauszeigt innerhalb dessens wir überhaupt zu relativieren in der Lage sind. Was soll das denn bringen ?
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Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon Myron » Sa 13. Feb 2010, 18:02

Mark hat geschrieben:Die Verwendung des Wortes "absolut" an sich ist schon ein Fehler, weil es aus den Mengenraum hinauszeigt innerhalb dessens wir überhaupt zu relativieren in der Lage sind. Was soll das denn bringen ?


Wenn Strawson von "ultimate responsibility" spricht, könnte man das auch mit "maximale/totale Verantwortlichkeit" übersetzen oder einfach mit "hundertprozentige Verantwortlichkeit".
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Re: Willens- bzw. Handlungsfreiheit

Beitragvon Myron » Sa 13. Feb 2010, 18:16

Übrigens, Strawson zitiert Nietzsche, aus "Jenseits von Gut und Böse", §21:

Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach "Freiheit des Willens", in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen'schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in's Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses berühmten Begriffs "freier Wille" und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn nunmehr, seine "Aufklärung" noch um einen Schritt weiter zu treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs "freier Wille" aus seinem Kopfe zu streichen: ich meine den "unfreien Willen", der auf einen Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht "Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt -) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie "Wirkt"; man soll sich der "Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung. Im "An-sich" giebt es nichts von "Causal-Verbänden", von "Nothwendigkeit", von "psychologischer Unfreiheit", da folgt nicht "die Wirkung auf die Ursache", das regiert kein "Gesetz". Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch. Der "unfreie Wille" ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen. - Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt, wenn ein Denker bereits in aller "Causal-Verknüpfung" und "psychologischer Nothwendigkeit" etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen, Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verrätherisch, gerade so zu fühlen, - die Person verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief persönliche Weise die "Unfreiheit des Willens" als Problem gefasst: die Einen wollen um keinen Preis ihre "Verantwortlichkeit", den Glauben an sich, das persönliche Anrecht auf ihr Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen gehören dahin -); die Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich selbst irgend wohin abwälzen zu können. Diese Letzteren pflegen sich, wenn sie Bücher schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art von socialistischem Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung. Und in der That, der Fatalismus der Willensschwachen verschönert sich erstaunlich, wenn er sich als "la religion de la souffrance humaine" einzuführen versteht: es ist sein "guter Geschmack".
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon Myron » Sa 13. Feb 2010, 18:52

AgentProvocateur hat geschrieben:Sehr viel weniger nachvollziehbar für mich ist nun allerdings, dass er a) einfach behauptet, der Glaube an 'ultimative Verantwortung' sei die übliche Sichtweise und b) er da einer binären Sichtweise anhängt, (so kommt das in dem Interview rüber): entweder gibt es 'absolute moralische Verantwortung' oder es kann überhaupt keine moralische Verantwortung geben, d.h. Handlungen von Menschen seien wie Naturkatastrophen zu bewerten.


Ich muss gestehen, dass auch mir noch nicht klar ist, was sich Strawson unter einer "non-ultimate responsibility", d.i. einer relativen Verantwortlichkeit der Menschen vorstellt, wobei ich bislang nicht den Eindruck gewonnen habe, dass er für die Abschaffung der Gerichte und Gefängnisse plädiert. Daraus, dass es keine hundertprozentige Verantwortlichkeit geben könne, scheint er nicht die Forderung abzuleiten, dass niemand für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden sollte.

"In the end, luck swallows everything. … [N]o punishment or reward is ever ultimately just or fair, however natural or useful or otherwise humanly appropriate it may be or seem."
———
"Letztendlich ist alles Glückssache. … Keine Bestrafung oder Belohnung ist jemals vollkommen gerecht oder fair, wie natürlich oder nützlich oder sonstwie menschlich angemessen sie auch sein oder scheinen mag."

[© meine Übers.]

("Free Will," by Galen Strawson. In The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, edited by Edward Craig, 286-294. London: Routledge, 2005. p. 293-4)

Da stellt sich freilich die Frage, welche konkreten Folgen die Strawson'sche Einsicht für unsere gesellschaftliche Sanktionspraxis, sowohl die negativen als auch die positiven Sanktionen betreffend, haben soll. Und sind wir denn überhaupt moralpsychologisch imstande, unsittliche und verbrecherische Handlungen mit widrigen, zerstörerischen Naturereignissen gleichzusetzen? Sind wir Menschenaffen überhaupt emotional fähig, einem bewusst handelnden Massenmörder so zu verzeihen wie todbringenden Meeresfluten, die nicht die Absicht haben, jemandem zu schaden?
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Re: Widerspruch im Denken der Brights?

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 15. Feb 2010, 21:04

Myron hat geschrieben:Da stellt sich freilich die Frage, welche konkreten Folgen die Strawson'sche Einsicht für unsere gesellschaftliche Sanktionspraxis, sowohl die negativen als auch die positiven Sanktionen betreffend, haben soll. Und sind wir denn überhaupt moralpsychologisch imstande, unsittliche und verbrecherische Handlungen mit widrigen, zerstörerischen Naturereignissen gleichzusetzen? Sind wir Menschenaffen überhaupt emotional fähig, einem bewusst handelnden Massenmörder so zu verzeihen wie todbringenden Meeresfluten, die nicht die Absicht haben, jemandem zu schaden?

Das Wort 'verzeihen' ist hier unpassend, niemand 'verzeiht' einem Tsunami. 'Verzeihen' ergibt mE nur Sinn, wenn man jemandem eine intentionale Handlung unterstellt.

Menschen sind normalerweise dafür empfänglich, andere Menschen und deren Bedürfnisse bei ihren Handlungen zu berücksichtigen, sind ansprechbar für Normen und können diese bei ihren Entscheidungen und Handlungen berücksichtigen. Und so sie das können, sind sie auch moralisch verantwortlich für ihre Handlungen. Es ist sinnvoll und überhaupt auch Grundlage, Grundvoraussetzung einer jeden freiheitlichen Gesellschaft, das anzunehmen, denn die beruht auf einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag zwischen gleichwertigen, rationalen Wesen, die ihre Ziele abstimmen können. Worauf auch sonst könnte sie beruhen, etwa auf einem Postulat von jemandem, der sich für besser hält als die anderen, der meint, er habe die Wahrheit™ mit Löffeln gefressen? Und dazu ist es keineswegs notwendig, eine 'ultimative' Verantwortlichkeit annehmen zu müssen und ich frage mich, wer das überhaupt tut. Sieht mir wie ein Pappkamerad aus, auf den Galen Strawson hier einhaut. Der typische Pappkamerad der Inkompatibilisten übrigens ("die anderen glauben das doch alle", oder schlimmer noch: "ich glaube das nicht, aber ich glaube, dass alle anderen das glauben").

Es geht dabei ja nicht darum, zu verlangen, jemand solle die Vergangenheit ändern, denn das kann niemand. Es geht nur darum, ein zukünftiges Zusammenleben zu steuern. Und das können (die meisten erwachsenen) Menschen nun mal, es ist mE irrational und falsch, durch nichts belegt, anzunehmen, Menschen seien Homunculi, d.h. lediglich ohnmächtige Beobachter ihrer selbst. Das ist eine substanzdualistische Sichtweise, eine, die ein monistischer Materialist nicht einnehmen kann, ohne sich selbst zu widersprechen ("mein Gehirn entscheidet für mich" -> ich bin ein Homunculus).

Und abgesehen davon halte ich die auch bei Dir implizit durchscheinende Ansicht, die Homunculus-Sichtweise sei irgendwie moralisch wertvoller und wünschenswerter, humaner oder aber 'wahrer', für wenig nachvollziehbar. Es gibt ja Menschen, die man so sieht, den Junkie, zu dem man lieber Abstand hält, weil man weiß, dass er einen bestehlen wird; den Sexualstraftäter, dem psychologisch testiert wurde, dass er seinen Trieb nicht kontrollieren kann; den Geisteskranken, der gar nicht weiß, was er tut. Wieso wäre es aber moralisch besser, wenn man plötzlich alle so sehen würde, als lediglich Getriebene von von ihnen nicht kontrollierbaren Umständen?

Dafür gibt es doch auch keinen Grund, denn Menschen können nun mal (im Normalfalle) mE ihre Handlungen kontrollieren. Ersatzweise, wenn einem das lieber ist, kann man auch annehmen, Lob und Tadel seien deswegen sinnvoll, weil man damit andere in seinem Sinne manipulieren kann; falls man nicht annehmen will, dass es Kontrolle geben kann in einer determinierten Welt. Aber das wäre nicht meine Ansicht, die halte ich ebenfalls für selbstwidersprüchlich, denn auch dann muss man jemanden annehmen, der manipulieren kann, jemanden also, der bewusst nach Zielen handelt und somit Kontrolle hat (sich selber). Und dann sollte man das aber logischerweise auch für die anderen annehmen, es sei denn, man hätte eine gute Begründung dafür, warum man das nur für sich selber annimmt. Und abgesehen davon, dass das nicht begründbar ist, kommt es auch nicht gut, wenn andere erkennen, dass sie lediglich manipuliert werden sollen, aus einer arroganten und nicht nachvollziehbaren Selbstüberschätzung heraus, sie nicht als gleichwertig angesehen werden.
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