Eine Frage der Persönlichkeit

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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon provinzler » Mi 21. Aug 2013, 20:45

Vollbreit hat geschrieben:
provinzler hat geschrieben:Meine große Stärken sind Zahlen, und Ökonomie ist nur der Bereich wo ich diese Stärke am intensivsten kultiviert habe.
Finde ich sehr interessant.
Hast Du mal Peter Plichta gelesen?

Nein.
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Nanna » Sa 5. Okt 2013, 01:08

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Ich wusste doch, dass hier noch was offen war.

Da hatte ich inzwischen ganz drauf vergessen. Danke für die ausführliche Analyse. War für mich sehr spannend zu lesen.

Gern geschehen. Aber ich muss nachkorrigieren. Wahrscheinlich hör ich erst auf, wenn ich dir zwischendurch alle 16 Typen angedichtet habe. ;-)

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben: Ökonomie ist sicherlich seine große Stärke und sein großes Interesse, aber sein Lebensthema scheint mir ein anderes zu sein, die beachtliche ökonomische Expertise ist mehr das Vehikel dafür.

Ich würde das ein bisschen anders formulieren. Meine große Stärken sind Zahlen, und Ökonomie ist nur der Bereich wo ich diese Stärke am intensivsten kultiviert habe. Ich hab für Zahlen so ne Art sechsten Sinn, und hab manchmal regelrecht das Gefühl, dass mir Zahlen Dinge anvertrauen, die sie andren verschweigen, auch wenn das jetzt vielleicht verdammt esoterisch klingt. Andre Kinder haben mit Lego oder Puppen gespielt, ich mit Zahlen.

Dann INTJ. INFJ ist dafür doch zu sehr personenbezogen. Ich hab mich darauf versteift, weil du eine Angewohnheit hast, dich über moralische Missstände zu empören und das ist eher ein typisches Merkmal von des idealist temperaments. Aber mit mehr Informationen dreht sich die Sache. Dann liegt es wahrscheinlich daran, dass du dich persönlich angegriffen fühlst, wenn jemand die Logik, die du in der Welt siehst, nicht anerkennen kann. Alle J-Typen sind recht schnell verärgert, wenn jemand ihre Sicht der Dinge nicht teilt, aber keiner treibt es so weit wie INFJ und INTJ. INFJs sind aber dann doch zu sehr in der sozialen Welt zuhause, und wenn ich mir nochmal so vor Augen führe, was du so erzählt hast, gerade auch über Kindheitserinnerungen, macht INTJ eigentlich mehr Sinn. INFJs würden nicht über Zahlen brüten.

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Ich gehe von Introversion aus, weil die tiefen Fachkenntnisse und die Schilderungen von gewissen negativen Erlebnissne bezüglich Gruppen in der Kindheit (da war neulich mal eine Bemerkung über Sozialpädagogen, die offenbar irgendwelche gruppenbildenden Sachen aufzwängen wollten), eher für jemanden sprechen, der gut für sich selbst sein kann.

Diese Frage ist für mich auch sehr spannend, denn was das Thema angeht bin ich regelrecht schizophren. Richtig ist, dass ich kleine übersichtliche Gruppen gegenüber großen chaotischen vorziehe. Ein gemütliches Bierchen mit zwei, drei Leuten ist mir lieber als eine Disko oder ein Club. Richtig ist auch, dass ich keinen Gruppenzwang mag. Das spricht für die Introvertiertheit.
Gibt allerdings auch einiges was dagegen spricht. Ich bin jemand der quasi wo er geht und steht völlig problemlos und auch gerne wildfremde Leute anspricht und mit ihnen ins Gespräch kommt (Ob im Zug, an der Bushaltestelle, an der Supermarktkasse, am Würstlstand oder wo auch immer). Ich lern andauernd irgendwelche interessanten Leute kennen mit denen dann in etlichen Fällen sogar längerfristige Kontakte (in einigen Fällen auch echte Freundschaften) entstehen.
Und der zweite Punkt. Wenn ich gut vorbereitet bin und/oder mich in einer Gruppe wohlfühle, mag ich es schon mal ganz gerne ne kleine Show abzuziehen. Die von meiner Mutter geplanten und ausgedachten, von meiner introvertierten zurückhaltenden Schwester musikalisch erarbeiteten (mir selbst ist Ausarbeiten und Einstudieren meistens zu mühsam) und untermalten Einlagen auf Familienfesten, genießen in der Verwandtschaft fast so eine Art Kultstatus. Da hab ich auch kein Problem meiner Tante mit Kniefall ihr Geburtstagsgeschenk zu überreichen. Das wären ja alles wohl eher extrovertierte Züge...

Introversion und Extraversion sind im Kern dadurch unterschiedlich, dass Intovertierte in Gruppen Energie verlieren und Extravertierte sie gewinnen. Es hat nicht notwendigerweise etwas damit zu tun, wie sehr man sich in bestimmten Situationen öffnen kann. Eine Mehrheit der Schauspieler ist beispielsweise introvertiert. Introvertierte brauchen Zeit alleine, um die Akkus wieder aufzuladen (wohingegen Extravertierte Gruppenaktivitäten dafür brauchen), aber das heißt nicht, dass ein Introvertierter sich nicht vor eine große Gruppe hinstellen und eine Show abziehen kann. Ich kann das von mir selbst bestätigen. Ich habe auf Familienfeiern ähnliche Sachen gemacht, bin auf Konzerten und als Tänzer vor großem Publikum aufgetreten und wenn ich will, kriege ich problemlos und aus dem Stand einen Raum mit 200 Leuten dazu, mir zuzuhören. Bei Referaten an der Uni schaffe ich es regelmäßig, die Leute auch in die trockenste Materie richtig rein zu ziehen und Interesse zu wecken. Aber ich kann das nicht in der Dauerschleife. Ich brauche dann downtime und will spätestens am Abend meine Ruhe habe. Da dulde ich dann maximal meine Freundin und den Fernseher oder verkrieche mich ins Internet. Und am nächsten Morgen geht's dann wieder und ich bin wieder der ausgeglichene teamplayer.

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben: weil er eine völlig andere Ausrichtung hat, künstlerischer und sprachlicher veranlagt ist.

Das ist der nächste Punkt, den ich ganz interessant finde. So bescheinigst du mir zwar eine hohe Eloquenz (braucht man dafür keine Sprachbegabung?) und spreche doch immerhin bisher drei moderne Fremdsprachen (zwei fließend, eine eher holprig) und bin (wenigstens meinten das die diversen Chorleiter) auch durchaus musikalisch (ist das nicht künstlerisch?).

Das ist alles richtig, aber das kann ich auch. (ok, ich spreche nur zwei moderne Fremdsprachen, eine fließend, eine holprig, und hab mal Latein gelernt), spiele inklusive meiner Gesangsausbildung drei Instrumente und was Eloquenz angeht darf ich zu Recht ein bisschen eingebildet sein. ;-)Der Punkt ist, dass du dich damit nicht schwerpunktmäig auseinander setzt, sondern weil du einfach vielseitig interessiert bist. Aber es ist nicht dein vorderster Lebensinhalt, sonst würdest du Germanistik oder Kunstgeschichte studieren und nicht Ingenieurswissenschaften.

provinzler hat geschrieben:Ich kenne jedenfalls genug Leute, denen es wesentlich schwerer fällt Sprachen zu lernen als mir, und die das schwerpunktmäßig machen, nicht nur wie ich so ein bisschen nebenbei...

Ja nun, du bist außergewöhnlich intelligent. Das hebelt vieles aus. Deine zweitrangigen Fähigkeiten können immer noch die erstrangigen eines Durchschnittsmenschen übersteigen. Aber es geht ja darum, welche kognitiven Funktionen du primär benutzt. Und nach dem, was du jetzt noch mal geschrieben hast, würde ich dann doch stark in Richtung Thinker tendieren.

provinzler hat geschrieben:Bin wohl eine ziemlich vielschichtige und komplexe Persönlichkeit :mg: , die sicher nicht so leicht zu analysieren ist, und deswegen auch an Nanna nochmal ein klares :2thumbs: für die klare und gut strukturierte Analyse

Introvertierte sind immer deutlich schwieriger einzuordnen, als Extravertierte. Wenn sie (wie oben beschrieben) sich in der Öffentlichkeit wie Extravertierte verhalten, merkt man nicht schnell genug, dass sie eigentlich introvertiert sind und wenn sie sich grundsätzlich verschlossen verhalten, kriegt man zu wenig Daten über das Innenleben.

Ich schwenke übrigens seit einer Weile immer mehr auf Socionics (die russische Version von MBTI) um, weil ich die logischer und differenzierter finde. Dazu wollte ich dir auch noch etwas sagen, und zwar in Bezug auf den alten Konflikt zwischen der Rolle von Individuum und Kollektiv in der Gesellschaft. Es gibt in Socionics die Reinin dichotomies, die das System erweitern, und eine davon ist die Dichotomie aristrokratisch-demokratisch. Kurz gesagt sind demokratische Typen individualistischer und aristrokratische kollektiver veranlagt. Was ich für dich einfach mal zu bedenken geben wollte, ist, dass du die Frage nach der "richtigen Rolle" eventuell auch mal als Präferenz ansehen solltest, also dass es deine Präferenz ist, die individualistisch zu verhalten und zu orientieren, aber dass andere Leute grundsätzlich und von ihrer ganzen (ererbten) Veranlagung her gruppenbezogen denken. Die genaue Erklärung gibt es hier: http://www.wikisocion.org/en/index.php? ... istocratic (falls ich mit meiner Typisierung diesmal richtig läge, wären wir in Socionics beide vom Typ ILI)
Dazu steht auch im Text:
wikisocion hat geschrieben:It is possible to say that the aristocrat is to a larger degree a social being, an the democrat—individualistic. Therefore, the dispute of what is more important—society or the individual—cannot be resolved.

Das nur am Rande. Vielleicht ist es ja auch für dich eine Option, dich mal genauer mit der Neigung von bestimmten Persönlichkeitstypen zu bestimmten politischen Idealen zu beschäftigen. Das kann einen vielleicht mit der Situation, dass die Mehrheit der Gesellschaft andere Präferenzen hat als man selbst, ein Stück weit versöhnen, weil man es zumindest versteht und auch realisiert, dass sich daran nicht grundsätzlich etwas ändern wird. Im Zweifel ist man auch strategisch klüger, weil man seine eigenen politischen Ziele einer anderen Gruppe vielleicht schmackhafter machen kann, indem man auf spezifische Bedenken eingeht oder nicht Sachen betont, die man zwar selbst attraktiv findet, die anderen aber egal sind oder die sie sogar als Bedrohung empfinden.
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon provinzler » Sa 5. Okt 2013, 12:43

Nanna hat geschrieben:Dann INTJ. INFJ ist dafür doch zu sehr personenbezogen. Ich hab mich darauf versteift, weil du eine Angewohnheit hast, dich über moralische Missstände zu empören und das ist eher ein typisches Merkmal von des idealist temperaments. Aber mit mehr Informationen dreht sich die Sache. Dann liegt es wahrscheinlich daran, dass du dich persönlich angegriffen fühlst, wenn jemand die Logik, die du in der Welt siehst, nicht anerkennen kann.

Ja und nein. Ich fühle mich immer dann persönlich angegriffen, wenn jemand meint er hätte irgendwie ein Recht darauf, in mein Leben zwangsweise einzugreifen, selbst wenn ich niemandem etwas getan habe, was so einen Eingriff zur Notwehr machen würde. Wenn Menschen meinen sie hätten aus irgendwelchen Gründen einen Anspruch mir gegenüber auf irgendwas, der auf etwas andrem beruht als auf meinem eigenen Willen oder persönlicher Loyalität, dann fahre ich aus der Haut. Das empfinde ich schlicht und ergreifend als aggressive und gewalttätige Übergriffigkeiten. Ich kann eigentlich ganz gut damit leben, wenn jemand eine andre Meinung vertritt als ich. Aber ich werde sauer, wenn er aus seiner Meinung Ansprüche gegen mich ableitet. (Beispielsweise behauptet er hätte aufgrund dessen was er als "gerecht" empfindet das Recht mich zu berauben oder räuberisch in Form von Steuern zu erpressen).

Nanna hat geschrieben:Kurz gesagt sind demokratische Typen individualistischer und aristrokratische kollektiver veranlagt. Was ich für dich einfach mal zu bedenken geben wollte, ist, dass du die Frage nach der "richtigen Rolle" eventuell auch mal als Präferenz ansehen solltest, also dass es deine Präferenz ist, die individualistisch zu verhalten und zu orientieren, aber dass andere Leute grundsätzlich und von ihrer ganzen (ererbten) Veranlagung her gruppenbezogen denken. Die genaue Erklärung gibt es hier: http://www.wikisocion.org/en/index.php? ... istocratic (falls ich mit meiner Typisierung diesmal richtig läge, wären wir in Socionics beide vom Typ ILI)

Das ist in der Tat die treffendste Beschreibung meiner Person, die ich je gelesen habe. Auch wenn ich gelernt habe, mit bestimmte Aspekten zu leben, bzw. sie zu kaschieren, gerade was den Umgang mit diesem merkwürdigen Phänomen Mitmensch angeht...

Nanna hat geschrieben:Das nur am Rande. Vielleicht ist es ja auch für dich eine Option, dich mal genauer mit der Neigung von bestimmten Persönlichkeitstypen zu bestimmten politischen Idealen zu beschäftigen. Das kann einen vielleicht mit der Situation, dass die Mehrheit der Gesellschaft andere Präferenzen hat als man selbst, ein Stück weit versöhnen, weil man es zumindest versteht und auch realisiert, dass sich daran nicht grundsätzlich etwas ändern wird.

Und diese andren Präferenzen geben dieser Mehrheit das Recht zu den oben beschriebenen gewalttätigen Übergriffigkeiten?
Allerdings scheint das darwinistische Prinzip die gewalttätigen Kategorien zu bevorzugen und den friedlicheren lediglich eine ausgleichende Nischenfunktion zuzugestehen. Ich muss sagen, dass diese Aussichten meine Stimmung nicht grade heben und mich eher noch fatalistischer und zynischer werden lässt. Vielleicht ist es wirklich am Besten, die Situation so zu nehmen wie sie ist und als zynischer Opportunist für mich das beste dabei rauszuholen.
Ich behaupte einfach mal, in einer Gesellschaft mit klarer ILI - Mehrheit wäre Adolf Hitler vermutlich in ner Nervenheilanstalt gelandet und Ausschwitz wär der Menschheit erspart geblieben, genauso wie Stalin, Pol Pot, Mao und wie all die kollektivistischen Menschenfreunde noch so hießen ...
Aber wie gesagt, wir sind eine Minderheit...
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Nanna » So 6. Okt 2013, 01:02

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Dann INTJ. INFJ ist dafür doch zu sehr personenbezogen. Ich hab mich darauf versteift, weil du eine Angewohnheit hast, dich über moralische Missstände zu empören und das ist eher ein typisches Merkmal von des idealist temperaments. Aber mit mehr Informationen dreht sich die Sache. Dann liegt es wahrscheinlich daran, dass du dich persönlich angegriffen fühlst, wenn jemand die Logik, die du in der Welt siehst, nicht anerkennen kann.

Ja und nein. Ich fühle mich immer dann persönlich angegriffen, wenn jemand meint er hätte irgendwie ein Recht darauf, in mein Leben zwangsweise einzugreifen, selbst wenn ich niemandem etwas getan habe, was so einen Eingriff zur Notwehr machen würde.

Zuerst mal kann man natürlich als beliebiger Persönlichkeitstyp so denken, das ist schließlich klassische liberale Lehre. Aber dass der INTJ/ILI als intellektuell unabhängigster und privatester Typ gilt, passt hier sicher gut dazu.

provinzler hat geschrieben:Ich kann eigentlich ganz gut damit leben, wenn jemand eine andre Meinung vertritt als ich. Aber ich werde sauer, wenn er aus seiner Meinung Ansprüche gegen mich ableitet. (Beispielsweise behauptet er hätte aufgrund dessen was er als "gerecht" empfindet das Recht mich zu berauben oder räuberisch in Form von Steuern zu erpressen).

Versuch es vielleicht mal einen Augenblick aus dem simulierten Blickwinkel "der Gemeinschaft" zu betrachten. Manchmal fällt einem dann auf, dass Dinge, die einem als Individuum gerade persönlich nicht in den Kram passen, unter dem Gesichtspunkt kollektiver Sicherheit und Stabilität plausibel sein können. Wir führen diese Diskussion ja nun schon ein paar Jahre und ich würde da gerne auch gerne mal etwas tiefer ein paar Rawls'sche Gedanken zum Thema auswalzen, aber das gehört eher nicht in diesen Thread. Hier finde ich es wichtiger, zu überlegen, wie bestimmte Persönlichkeiten mit bestimmten äußeren Gegebenheiten umgehen. Und den Tipp, mal die Perspektive rein experimentell zu wechseln, gebe ich auch nicht vor dem Hintergrund, dich unbedingt überzeugen zu wollen, dass man alles kollektivstisch betrachten sollte, sondern weil es einen Weg ist, ein Stück weit Frieden mit den allgemeinen Umständen zu schließen.

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Kurz gesagt sind demokratische Typen individualistischer und aristrokratische kollektiver veranlagt. Was ich für dich einfach mal zu bedenken geben wollte, ist, dass du die Frage nach der "richtigen Rolle" eventuell auch mal als Präferenz ansehen solltest, also dass es deine Präferenz ist, die individualistisch zu verhalten und zu orientieren, aber dass andere Leute grundsätzlich und von ihrer ganzen (ererbten) Veranlagung her gruppenbezogen denken. Die genaue Erklärung gibt es hier: http://www.wikisocion.org/en/index.php? ... istocratic (falls ich mit meiner Typisierung diesmal richtig läge, wären wir in Socionics beide vom Typ ILI)

Das ist in der Tat die treffendste Beschreibung meiner Person, die ich je gelesen habe. Auch wenn ich gelernt habe, mit bestimmte Aspekten zu leben, bzw. sie zu kaschieren, gerade was den Umgang mit diesem merkwürdigen Phänomen Mitmensch angeht...

Na, das ist doch schon mal was. Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber mir hat es einiges gegeben, mit mit typischen Merkmalen meiner Persönlichkeitsschublade auseinander zu setzen, weil mir dadurch nochmal klarer wurde, dass andere Menschen die Welt wirklich deutlich anders wahrnehmen. Ich verstehe jetzt auch ein Stück weit, warum das so ist. Auf die Weise kann ich Anderen eher entgegen kommen, weil weniger Situationen entstehen, in denen ich die Wahrnehmung der Welt meines Gegenübers total falsch einschätze.

Vielleicht auch mal interessant zum Abgleich ist diese Charakterisierung von INTJs: http://www.16personalities.com/intj-personality

provinzler hat geschrieben:Und diese andren Präferenzen geben dieser Mehrheit das Recht zu den oben beschriebenen gewalttätigen Übergriffigkeiten?

Nein, aber sie sind da und verschwinden nicht, nur weil du argumentierst, dass sie unberechtigt sind. Wenn ich jetzt mal davon ausgehe, dass du zum INTJ/ILI-Typ gehörst, dann ist diese Reaktion aber gar nicht so verwunderlich. INTJs haben eine im Vergleich zu anderen Thinkern besonders starke Neigung, verärgert bis verwirrt über Verhaltensweisen zu sein, deren Zustandekommen sie nicht logisch nachvollziehen können. Wenn ich das jetzt dreist auf dich übertragen würde, wäre die These, dass du nicht nur von der Übergriffigkeit als solcher provoziert wirst, sondern noch dazu Schwierigkeiten hast, zu verstehen, dass Menschen überhaupt zu solchem Verhalten neigen und es als normal empfinden. Ist aber jetzt auch nur eine wilde Spekulation.

provinzler hat geschrieben:Allerdings scheint das darwinistische Prinzip die gewalttätigen Kategorien zu bevorzugen und den friedlicheren lediglich eine ausgleichende Nischenfunktion zuzugestehen.

Ich würde sagen, dass es wie in jedem diversifizierten Ökosystem Platz für beide gibt. Ich nehme an, dass es schon seine Gründe hat, dass es "uns" gibt (wobei "wir" nicht unbedingt friedlicher sind, gerade die INTJs/ILIs gelten als hervorragende und äußerst kaltblütige Strategen). Und es ist ja durchaus nicht schlecht, so eine Ausgleichsfunktion zu bilden, die, wenn alle anderen längst im emotionalen Überschwang stecken, noch in der Lage ist, den Realitätscheck bereit zu stellen.

provinzler hat geschrieben:Ich muss sagen, dass diese Aussichten meine Stimmung nicht grade heben und mich eher noch fatalistischer und zynischer werden lässt. Vielleicht ist es wirklich am Besten, die Situation so zu nehmen wie sie ist und als zynischer Opportunist für mich das beste dabei rauszuholen.

Zynismus steht dir nicht gut, außerdem sollte man nicht den Anspruch aufgeben, Teil der Lösung zu sein anstatt Teil des Problems. Mach dir klar, dass ein Opportunist mit deinen Fähigkeiten ganz anderen Schaden anrichten kann als so ein durchschnittlicher Dilletant.
Was ich an deiner Stelle aber korrigieren würde, ist die Erwartungshaltung an die Welt. Es ist nicht zielführend, aus Enttäuschung darüber, dass die Realität nie weiß sein wird, zur Annahme überzugehen, dass sie tiefschwarz wäre. Spiel deine Rolle als Korrektiv der Gesellschaft, aber ärger dich nicht jedes Mal gar so blau, wenn die Steuererklärung ansteht. Vor allem sollte man sich davor bewahren, sich so reinzusteigern, dass man am Ende die Graustufen nicht mehr sehen kann, und dann plötzlich Möglichkeiten übersieht, wo man seinen kleinen Teil zu einer Veränderung beitragen kann. Und überhaupt hat es keinen Sinn, sich an der Welt zu rächen, indem man fatalistisch wird. Der Welt ist das nämlich wurscht und weh tut's einem nur selber.

provinzler hat geschrieben:Ich behaupte einfach mal, in einer Gesellschaft mit klarer ILI - Mehrheit wäre Adolf Hitler vermutlich in ner Nervenheilanstalt gelandet und Ausschwitz wär der Menschheit erspart geblieben, genauso wie Stalin, Pol Pot, Mao und wie all die kollektivistischen Menschenfreunde noch so hießen ...

Du hast vermutlich recht, dass eine Gesellschaft von ILIs mit der Rhetorik Hitlers relativ wenig anfangen hätte können. Aber das heißt nicht, dass es in einer solchen Gesellschaft unbedingt angenehmer zu leben wäre, weil der Persönlichkeitstyp nichts über die Reife einer Person aussagt.
Es gibt von jedem Persönlichkeitstyp ungesunde und gesunde Formen. Die Ungesunden nutzen häufig bestimmte kognitive Funktionen in übersteigerter Weise, ohne den mäßigenden Einfluss anderer zuzulassen. Der ungesunde ILI ist berüchtigt für Egomanie, Arroganz, Selbstüberschätzung, massivstes Misstrauen gegenüber anderen Menschen und Gefühlen, rigide Denkschemata und eine machiavellistisch-diktatorische Ader (vgl. den "everybody lies!"-Zynismus von Dr. House). Auch viele Mächtige und Bösewichte in Filmen und Romanen sind ILIs, weil sie diese mystische Aura von Kaltblütigkeit und Selbstkontrolle verstrahlen. ILIs in der Fiktion sind z.B. Voldemort und Dumbledore aus Harry Potter, Hannibal Lecter und Clarice Starling aus Silence of the Lambs, Gregory House aus Dr. House, Bruce Wayne und Jonathan Crane aus Batman, Blofeld aus James Bond, Dexter aus Dexter, Gandalf aus Lord of the Rings, Walter White und Gus Fring aus Breaking Bad, usw. Keine schlechte, aber auch nicht unbedingt die ausnahmslos nobelste Liste. Von den realen Persönlichkeiten gelten als ILIs u.a.: Hillary Clinton, John Maynard Keynes, Woodrow Wilson, Dwight D. Eisenhower, Colin Powell, Donald Rumsfeld, Augustus Cäsar.

provinzler hat geschrieben:Aber wie gesagt, wir sind eine Minderheit...

Ja, und das ist nicht unbedingt schlecht so. INTJs (auch "The Strategist" oder "The Mastermind" genannt) sind neben ihren extravertierten Cousins, den ENTJs (auch "The Fieldmarshall" genannt), und den ESTJs (auch "The Supervisor" genannt) klassische Führungspersönlichkeiten mit einem entsprechenden Ego (was ihnen andere Persönlichkeiten wie z.B. gerade xxFJs u.U. als fehlende Bescheidenheit und mangelhafter Sozialverhalten ankreiden würden). Zu viele auf einen Haufen, die alle mit ihrer Meinung gehört werden wollen, wären vielleicht gar nicht so gut.
Ich weiß, dass ich da deutlich elitärer denke, als du, aber ich habe ja persönlich mehr das Idealbild einer verantwortungsvoll handelnden Elite als das eines anarchischen Systems, in dem jeder radikal auf sich selbst gestellt ist in seinen Entscheidungen, weil es bei allen utopischen Anteilen ein wesentlich realistischeres Ziel ist. Und dann fängt man eben im Freundes- und Bekanntenkreis an. Du bist doch sicherlich auch jemand, auf den man hört, weil man ihm Kompetenz zugesteht.
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon stine » So 6. Okt 2013, 10:07

Nanna hat geschrieben:INTJs haben eine im Vergleich zu anderen Thinkern besonders starke Neigung, verärgert bis verwirrt über Verhaltensweisen zu sein, deren Zustandekommen sie nicht logisch nachvollziehen können. Wenn ich das jetzt dreist auf dich übertragen würde, wäre die These, dass du nicht nur von der Übergriffigkeit als solcher provoziert wirst, sondern noch dazu Schwierigkeiten hast, zu verstehen, dass Menschen überhaupt zu solchem Verhalten neigen und es als normal empfinden.

Das geht ISTP-Typen aber genauso!

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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon provinzler » So 6. Okt 2013, 14:31

Nanna hat geschrieben: Und den Tipp, mal die Perspektive rein experimentell zu wechseln, gebe ich auch nicht vor dem Hintergrund, dich unbedingt überzeugen zu wollen, dass man alles kollektivstisch betrachten sollte, sondern weil es einen Weg ist, ein Stück weit Frieden mit den allgemeinen Umständen zu schließen.

Ich verstehe nach wie vor nicht ganz, warum ich meinen Frieden mit Leuten oder Umständen machen sollte, deren oberstes Anliegen es seit jeher zu sein scheint, mir endlich das Rückgrat zu brechen, und mich "auf Linie" zu bringen. Nur weil Scheiße nunmal unmal unumgänglich ist, stinkt sie nicht weniger. Deswegen hat der Mensch die Kanalisation erfunden. Und ich fühle mich vom Gestank dieser kollektivistischen Scheiße erheblich belästigt. Dein Rat kommt mir jetzt ungefähr so vor, als sollte ich mir die Nase abschneiden, oder mir wenigstens lang genug einreden, es wären Himbeeren, damits mich nicht mehr so stört.

Nanna hat geschrieben: Wenn ich das jetzt dreist auf dich übertragen würde, wäre die These, dass du nicht nur von der Übergriffigkeit als solcher provoziert wirst, sondern noch dazu Schwierigkeiten hast, zu verstehen, dass Menschen überhaupt zu solchem Verhalten neigen und es als normal empfinden. Ist aber jetzt auch nur eine wilde Spekulation.

Das beschreibt ziemlich perfekt meine Situation in Kindergarten/Grundschule un der gymnasialen Unterstufe. Ich kann die Aggression, die von Seiten von Mitschülern und einigen Lehrern auf mich einprasselte, bis heute nicht nachvollziehen. Und das albernste an der Situation war, dass die sich anscheinend dabei auch noch voll im Recht fühlen, weil ich renitenter Kerl mir partout nicht das Rückgrat brechen ließ (solche Leute nennen das dann zynisch "einfügen" oder "unterordnen") und mich der Aggression bezichtigten. Kafkas Prozess lässt grüßen. Die waren anscheinend der Ansicht, mein penetrantes Abheben von der "Norm" (oder besser vom wohligen und bequemen Mittelmaß) würde die eigene Aggression in irgendeiner Form rechtfertigen.

Nanna hat geschrieben:
Spiel deine Rolle als Korrektiv der Gesellschaft, aber ärger dich nicht jedes Mal gar so blau, wenn die Steuererklärung ansteht. Vor allem sollte man sich davor bewahren, sich so reinzusteigern, dass man am Ende die Graustufen nicht mehr sehen kann, und dann plötzlich Möglichkeiten übersieht, wo man seinen kleinen Teil zu einer Veränderung beitragen kann. Und überhaupt hat es keinen Sinn, sich an der Welt zu rächen, indem man fatalistisch wird. Der Welt ist das nämlich wurscht und weh tut's einem nur selber.

Du wirst lachen. Ich hab mal mit dem Gedanken gespielt der gerissenste Steuerberater Deutschlands zu werden, um den Staat mit Hilfe seiner eigenen Regeln maximal zu schädigen. An der Welt rächen ist sowieso Quatsch, alles was ich tun kann ist Situationsarbitrage. Also meine Intelligenz dazu zu nutzen, den Sitzplatz im Bus des Lebens zu kriegen, wos am wenigsten penetrant stinkt.

Nanna hat geschrieben: Du bist doch sicherlich auch jemand, auf den man hört, weil man ihm Kompetenz zugesteht.

Ja, speziell dann wenn man mir mein junges Alter nicht ansieht (also beispielsweise in Internetforen). Das Alter ist im Real Life manchmal noch hinderlich, wenn Leute meinen wegen des Alters automatisch klüger zu sein. Aber auch das gibt sich zunehmend, zumal ich wie mir gesagt wird, älter aussehe als ich bin. Manchmal wird mir das dann sogar zu viel. So hatte eine ältere Nachbarin, ein etwas einfacheres Gemüt, die feste Überzeugung, dass es nichts gibt, was ich nicht weiß. Die wollte mich sogar mal mit zum Arzt nehmen, damit ich ihr sagen kann, ob er ihr die Wahrheit sagt, oder nicht. Meine aufrichtige Antwort, dass ich von Medizin keine Ahnung habe, und mir daher kein Urteil anmaße, empfand sie als Bescheidenheit.
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Nanna » Mo 7. Okt 2013, 02:57

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben: Und den Tipp, mal die Perspektive rein experimentell zu wechseln, gebe ich auch nicht vor dem Hintergrund, dich unbedingt überzeugen zu wollen, dass man alles kollektivstisch betrachten sollte, sondern weil es einen Weg ist, ein Stück weit Frieden mit den allgemeinen Umständen zu schließen.

Ich verstehe nach wie vor nicht ganz, warum ich meinen Frieden mit Leuten oder Umständen machen sollte, deren oberstes Anliegen es seit jeher zu sein scheint, mir endlich das Rückgrat zu brechen, und mich "auf Linie" zu bringen. Nur weil Scheiße nunmal unmal unumgänglich ist, stinkt sie nicht weniger.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich die Mitleser, die alles Religiöse fürchten wie der Teufel das Weihwasser, mal wieder irritiere, aber ich finde das Gelassenheitsgebet von Reinhold Niebuhr da sehr hilfreich, auch wenn ich es für mich natürlich säkularisiert habe und den Gottesbezug geflissentlich ignoriere, den ich in dem Kontext auch nicht für relevant halte.

provinzler hat geschrieben:Und ich fühle mich vom Gestank dieser kollektivistischen Scheiße erheblich belästigt. Dein Rat kommt mir jetzt ungefähr so vor, als sollte ich mir die Nase abschneiden, oder mir wenigstens lang genug einreden, es wären Himbeeren, damits mich nicht mehr so stört.

Die Frage ist, ob es Sinn macht, etwas zu hassen, was einfach da ist. Das ist ein Problem, das auch manche hier haben, die die Religionen hassen und auch in letzter Konsequenz nicht von der hirnrissigen Hoffnung lassen können, man könne durch ausreichend Aufklärung und Wissensvermittlung die Religionen und das ganze religiöse Denken beseitigen. Ich sehe das weitaus gelassener und, finde ich zumindest, auch realistischer: Weder der Staat, noch Religionen, noch gesellschaftliche Hierarchien gehen irgendwohin. Sie ändern sich vielleicht, verlieren teils an Schärfe, aber sie verschwinden nicht, egal, wie alt wir alle werden. Mit etwas Glück und Ausdauer können wir vielleicht den Grad und die Qualität beeinflussen.

Du bist, wenn ich es richtig verstehe, wie ich in einer ländlichen Gegend aufgewachsen: Niemand auf dem Dorf würde behaupten, der Mistgestank wäre angenehm, aber genauso wenig verbringt irgendjemand damit Zeit, sich den lieben langen Tag darüber aufzuregen. Keiner redet sich ein, es wäre Himbeerduft, und wahrscheinlich kommen manche besser damit klar als andere. Aber da alle wissen, dass der Gestank nicht verschwinden wird, nehmen die Leute es mit Humor und Gelassenheit. Und das ändert nichts daran, dass sich am Ende trotzdem alle freuen, wenn mal eine neue Biogasanlage die Geruchsbelästigung reduziert.

Solange du dir selbst einredest, dass du nicht anders kannst, als das, was du "Kollektivismus" nennst, zu hassen, machst du dich zum Objekt und nimmst dir selber die Wahl, wie du dich dazu verhältst. Und eine Akzeptanz der Faktizität ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit einem Gutheißen. Man kann das tatsächlich lernen, das Gefühl für die Problematik eines Zustands zu behalten, und gleichzeitig diesen nach innen fressenden Ärger darüber abzulegen.

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben: Wenn ich das jetzt dreist auf dich übertragen würde, wäre die These, dass du nicht nur von der Übergriffigkeit als solcher provoziert wirst, sondern noch dazu Schwierigkeiten hast, zu verstehen, dass Menschen überhaupt zu solchem Verhalten neigen und es als normal empfinden. Ist aber jetzt auch nur eine wilde Spekulation.

Das beschreibt ziemlich perfekt meine Situation in Kindergarten/Grundschule un der gymnasialen Unterstufe. Ich kann die Aggression, die von Seiten von Mitschülern und einigen Lehrern auf mich einprasselte, bis heute nicht nachvollziehen.

Ich denke, das müssen wir im Detail mal für einen anderen Post/ein anderes Gespräch reservieren, aber kurz gesagt haben manche Menschen, ganz besonders die vom Guardian Temperament (fast die Hälfte der Bevölkerung!), ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Ordnung, akzeptieren hergebrachte Hierarchien und Machtgefüge und sind überhaupt sehr vergangenheitsbezogen ("früher war alles besser" und Veränderung, vor allem schnelle, unvorhersehbare und unkalkulierbare, bedeutet Verlust und Bedrohung). Du kannst so viel schreien, wie du willst, das ändert die Art und Weise nicht, wie diese Menschen die Realität rezipieren. Was du tun könntest, ist zu realisieren, dass deine geistige Beweglichkeit dich zum eigentlich Starken in dieser Beziehung macht und dass dein Abweichen von der wahrgenommenen Norm auf diese Leute mindestens so bedrohlich gewirkt hat, wie ihre Reaktionen auf dich. Aggression wird fast immer aus Angst geboren. Dass diese Leute damit persönliche Schwäche und Übergriffigkeiten demonstriert haben, ist klar und muss addressiert werden, ist aber nur ein Zwischenschritt, bei dem man nicht stehen bleiben darf. So schwer es vielleicht am Anfang fällt, aber wenn man derjenige ist, der die Problematik der Situation, also die nicht zur Deckung zu bringenden Erwartungen aneinander, erkannt hat, muss man auch entsprechend handeln. Man kann z.B. dem Anderen eine Brücke bauen und versuchen, heraus zu finden, warum derjenige einen als Bedrohung wahrnimmt.
Man kann dem Anderen vielleicht sogar Ängste nehmen, wenn man demonstriert, dass man diese Ängste versteht und ernst nimmt. Das ist auch das, was ich immer damit meinte, wenn ich dir früher erklärt habe, dass du dir diskussionstechnisch keinen Gefallen tust, wenn du immer wieder und mit wachsender Verärgerung vermeintliche ökonomische Schwächen kollektiver Systeme aufzeigst. Damit redest du häufig an den Ängsten anderer Menschen vorbei, die vielleicht gerne bereit sind, für etwas mehr Vorhersehbarkeit und Stabilität wirtschaftliche Dynamik zu opfern. Was du anbietest, ist schlicht nicht attraktiv für jeden. Da wäre die Frage für dich: Was kann ich außer ökonomischen Vorteilen noch so anbieten mit einer liberalen Vision? Wie erkläre ich denen, die Gemeinschaft brauchen, um sich sicher zu fühlen, dass ihre Ängste nicht eintreten werden?

provinzler hat geschrieben:Und das albernste an der Situation war, dass die sich anscheinend dabei auch noch voll im Recht fühlen, weil ich renitenter Kerl mir partout nicht das Rückgrat brechen ließ (solche Leute nennen das dann zynisch "einfügen" oder "unterordnen") und mich der Aggression bezichtigten.

Ich war nicht dabei. Aber ich würde stark annehmen, dass vieles da ein gegenseitiges Missverständnis war. Mitschüler und Lehrer haben vermutlich nicht verstanden, warum du dauernd die Harmonie stören musst und nicht deinen loyalen Beitrag leisten kannst (gemeinschaftlicher veranlagte Menschen ziehen aus Gesellschaft, auch anonymerer in größeren Gruppen, großen persönlichen Gewinn, für die ist das "Dabeisein" kein "Unterordnen unter Fremdherrschaft", sondern Identifikation und ein Erlebnis von Geborgenheit und Verstandenwerden). Und du hast andersherum nicht verstanden, wie du als Bedrohung gewirkt haben sollst, da du ja nichts gemacht hattest.

provinzler hat geschrieben:Die waren anscheinend der Ansicht, mein penetrantes Abheben von der "Norm" (oder besser vom wohligen und bequemen Mittelmaß) würde die eigene Aggression in irgendeiner Form rechtfertigen.

Nicht jeder reflektiert in derselben Weise wie du, ob Handlungen ethisch gerechtfertigt sind. Nicht, dass es schaden würde...

provinzler hat geschrieben:An der Welt rächen ist sowieso Quatsch, alles was ich tun kann ist Situationsarbitrage. Also meine Intelligenz dazu zu nutzen, den Sitzplatz im Bus des Lebens zu kriegen, wos am wenigsten penetrant stinkt.

Ich denke, wenn man das hinkriegt, ohne noch zusätzlich auf den großen Haufen drauf zu kacken, ist das ein gelungenes Leben. Go for it!

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Du bist doch sicherlich auch jemand, auf den man hört, weil man ihm Kompetenz zugesteht.

Ja, speziell dann wenn man mir mein junges Alter nicht ansieht (also beispielsweise in Internetforen). Das Alter ist im Real Life manchmal noch hinderlich, wenn Leute meinen wegen des Alters automatisch klüger zu sein. Aber auch das gibt sich zunehmend, zumal ich wie mir gesagt wird, älter aussehe als ich bin. Manchmal wird mir das dann sogar zu viel. So hatte eine ältere Nachbarin, ein etwas einfacheres Gemüt, die feste Überzeugung, dass es nichts gibt, was ich nicht weiß. Die wollte mich sogar mal mit zum Arzt nehmen, damit ich ihr sagen kann, ob er ihr die Wahrheit sagt, oder nicht. Meine aufrichtige Antwort, dass ich von Medizin keine Ahnung habe, und mir daher kein Urteil anmaße, empfand sie als Bescheidenheit.

Kurios, dass jemandem, der Macht so ablehnt wie du, durch seine Fähigkeiten Macht zukommt, nicht wahr? ;-)
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon provinzler » Mo 7. Okt 2013, 10:32

Nanna hat geschrieben:Du bist, wenn ich es richtig verstehe, wie ich in einer ländlichen Gegend aufgewachsen: Niemand auf dem Dorf würde behaupten, der Mistgestank wäre angenehm, aber genauso wenig verbringt irgendjemand damit Zeit, sich den lieben langen Tag darüber aufzuregen. Keiner redet sich ein, es wäre Himbeerduft, und wahrscheinlich kommen manche besser damit klar als andere. Aber da alle wissen, dass der Gestank nicht verschwinden wird, nehmen die Leute es mit Humor und Gelassenheit. Und das ändert nichts daran, dass sich am Ende trotzdem alle freuen, wenn mal eine neue Biogasanlage die Geruchsbelästigung reduziert.

Man geht ins Haus, schließt die Fenster und wartet, bis sich der Geruch verflüchtigt hat. Nur dass, um bei der Metapher zu bleiben, in diesem Fall Fenster verboten sind, und oft auch sogar verboten ist, sich ins Haus zurückzuziehen (bspw. in den Unterrichtsvollzugsanstalten).

Nanna hat geschrieben: Das ist auch das, was ich immer damit meinte, wenn ich dir früher erklärt habe, dass du dir diskussionstechnisch keinen Gefallen tust, wenn du immer wieder und mit wachsender Verärgerung vermeintliche ökonomische Schwächen kollektiver Systeme aufzeigst. Damit redest du häufig an den Ängsten anderer Menschen vorbei, die vielleicht gerne bereit sind, für etwas mehr Vorhersehbarkeit und Stabilität wirtschaftliche Dynamik zu opfern. Was du anbietest, ist schlicht nicht attraktiv für jeden. Da wäre die Frage für dich: Was kann ich außer ökonomischen Vorteilen noch so anbieten mit einer liberalen Vision? Wie erkläre ich denen, die Gemeinschaft brauchen, um sich sicher zu fühlen, dass ihre Ängste nicht eintreten werden?

Tja, wer gerne Ketten hat und Sklave ist, dem wird man den Liberalismus nicht schmackhaft machen können. Das einzige, was ich nicht verstehe ist, warum die so penetrant wollen, dass jeder sich diese Ketten anlegen lässt. Wenn manche ein Verhältnis zur Politik haben wollen wie die Sau zum Bauern, mit begrenztem Bewegungsspielraum, geregelter Verpflegung, und der Gefahr nach Belieben geschlachtet zu werden, warum wollen die mich unbedingt genauso sehen.

Nanna hat geschrieben:Kurios, dass jemandem, der Macht so ablehnt wie du, durch seine Fähigkeiten Macht zukommt, nicht wahr? ;-)

Ich war auch im Fußballverein Mannschaftskapitän. Warum? Weil ich eloquent und clever genug war, mit dem Schiri zu diskutieren, ohne mir Karten einzuhandeln. Weil ich bewiesen hatte, dass man durch mich Spiele gewinnen konnte, die man sonst verlor, was übrigens nicht an meinen herausragenden Fußballfähigkeiten lag, sondern daran, dass ich für die Hammelklasse einfach viel zu "strategisch" spielte. Fähigkeiten können einem je nach Kontext Macht verschaffen, keine Frage.
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Nanna » Mo 7. Okt 2013, 11:16

provinzler hat geschrieben:ja, wer gerne Ketten hat und Sklave ist, dem wird man den Liberalismus nicht schmackhaft machen können. Das einzige, was ich nicht verstehe ist, warum die so penetrant wollen, dass jeder sich diese Ketten anlegen lässt. Wenn manche ein Verhältnis zur Politik haben wollen wie die Sau zum Bauern, mit begrenztem Bewegungsspielraum, geregelter Verpflegung, und der Gefahr nach Belieben geschlachtet zu werden, warum wollen die mich unbedingt genauso sehen.

Nochmal: Was du als Ketten wahrnimmst, sehen Andere nicht als solche an. Wenn du natürlich davon ausgehst, dass insgeheim jeder deine Interpretation teilt, wird der Versuch, dich unbedingt einzubinden, tatsächlich widersprüchlich. Aber die "Kollektivisten" wollen dir keine Ketten anlegen, sondern dir einen Platz in der Gemeinschaft anbieten. Du willst den (so) nicht, schon klar, aber das verstehen halt manche schlichtere Gemüter leider nicht so einfach.

Und wenn du es auf der etwas systematischeren Ebene betrachtest, macht es schon auch Sinn. Gemeinschaften regulieren sich selbst und sind immer auf der Wacht vor Bedrohungen von innen oder außen. Ein Nebeneffekt davon ist eine Regression zur Mitte, die die Gemeinschaft vor extremen Auswüchsen beschützt, die sie spalten und dadurch gefährden könnten. Wer abweicht und wessen Intentionen schlecht einschätzbar sind, kann da schnell ein Fadenkreuz auf die Stirn gepappt kriegen. Du bist keine Bedrohung, klar, aber woher wissen die Anderen das? Die kennen nur die Standards ihrer kleinen sozialen Welt und wenn das der Deutungsrahmen ist, in dem man sich zu 100% bewegt, wirst du automatisch als unkalkulierbar eingeschätzt und landest erst mal auf der Watchlist.

Der Staat hat da übrigens eigentlich nur sekundären Anteil. Der will durch deine Schulpflicht sicher stellen, dass du genug an formalem und gesellschaftlichem Wissen erwirbst, um dich in der Welt behaupten zu können und ein verantwortungsvoller Staatsbürger zu werden. In deinem Fall hat das leider dazu geführt, dass du in einer Situation gelandet bist, die dir nicht geholfen hat und die das Gegenteil bewirkt hat. Du hättest dich mit einer freieren Bildung vielleicht deutlich loyaler dem Staat gegenüber entwickelt, distanziert sicherlich, aber nicht grundlegend oppositionell eingestellt. Das Problem ist: Wie sieht man das vorher? Ich kenne genug Fälle (Details per PN), in denen staatliche Intervention Kinder vor einem Totalabsturz bewahrt hat und ihnen überhaupt Chancen für ihr späteres Leben verschafft hat. Und auch opt-out-Regelungen funktionieren halt nur so lange, wie keine Rosinenpickerei betrieben wird. In deinem Fall müssteman sicherlich nicht mit Missbrauch solcher Möglichkeiten rechnen, aber wenn man eine allgemeine Regel daraus macht, wird es komplizierter. Das heißt nicht, dass wir nicht darüber reden können, aber wenn du da erreichen willst, dass dir Leute ernsthaft zuhören, musst du dir überlegen, wie du die Interessen/Bedürfnisse/Einwände des Kollektivs berücksichtigen kannst. Du musst im Tausch etwas anbieten können ("Ihr lasst mich raus, dafür kriegt ihr diese und jene Garantien, und die sichern wir so und so ab.").

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Kurios, dass jemandem, der Macht so ablehnt wie du, durch seine Fähigkeiten Macht zukommt, nicht wahr? ;-)

Ich war auch im Fußballverein Mannschaftskapitän. Warum? Weil ich eloquent und clever genug war, mit dem Schiri zu diskutieren, ohne mir Karten einzuhandeln. Weil ich bewiesen hatte, dass man durch mich Spiele gewinnen konnte, die man sonst verlor, was übrigens nicht an meinen herausragenden Fußballfähigkeiten lag, sondern daran, dass ich für die Hammelklasse einfach viel zu "strategisch" spielte. Fähigkeiten können einem je nach Kontext Macht verschaffen, keine Frage.

Ein Weg für dich könnte sein, diese Stärke bewusst auszuspielen. Ich tu das auch. Ich kann mich in vielen Fällen (Uni, Arbeitsplatz, Projektarbeit) häufig über die Regeln für Normalsterbliche recht eigenmächtig hinwegsetzen, weil man sich darauf verlassen kann, dass ich bei aller Eigenständigkeit immer einen Vorteil für das Team herausschlage und gewisse Privilegien, die ich mir herausnehme, nie zum Nachteil der Anderen ausnutze. Außerdem habe ich ein sehr feines Gespür dafür, wann es (auch sozial) wichtig ist, exakt by the book zu spielen und wann man Regeln als lose Richtlinien interpretieren kann. Ich habe allerdings auch persönlich geringere Schwierigkeiten damit, mich in eine Hierarchie einzuordenen (ich lande aber auch oft genug oben ;-) ).
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Darth Nefarius » Fr 11. Okt 2013, 13:12

Nanna hat geschrieben:Ich kann mich in vielen Fällen (Uni, Arbeitsplatz, Projektarbeit) häufig über die Regeln für Normalsterbliche recht eigenmächtig hinwegsetzen, weil man sich darauf verlassen kann, dass ich bei aller Eigenständigkeit immer einen Vorteil für das Team herausschlage und gewisse Privilegien, die ich mir herausnehme, nie zum Nachteil der Anderen ausnutze. Außerdem habe ich ein sehr feines Gespür dafür, wann es (auch sozial) wichtig ist, exakt by the book zu spielen und wann man Regeln als lose Richtlinien interpretieren kann.

So, so. Aber wenn andere dann offen aussprechen, was du unter vorgehaltener Hand sagst (dass Moral und Ethik nur eine Illusion, nur Vorschläge sind, die nahezu beliebig sein können) bist du einer der ersten, der widerspricht. Ich meine, dass es mich nicht wundert, dass letztlich jeder Regeln bricht und viele einfach ignoriert, aber mich wundert, dass manche tatsächlich so unvorsichtig sind, an der einen Stelle das eine und später an der selbsen etwas anderes zu sagen. Nicht nur inkonsequent, sondern auch scheinheilig. Hauptsächlich wundert mich aber die mangelnde Vorsicht - Scheinheiligkeit selbst nicht.
Du bist an einer Stelle, bei der ich schon einige Idealisten erwischt habe: Entweder enthüllen sie ihre Lüge oder sie halten sich für dermaßen erhaben und fehlerfrei, dass für sie weniger Regeln zu gelten haben als andere und gar nicht die Brisanz dieser Enthüllung erkennen. Eine Beobachtung, die vielleicht erklärt, wieso nicht selten Führer von idealistischen Revolutionen am Ende die schlimmsten Diktatoren abgeben. Aber das sollst du jetzt nicht falsch verstehen, ich betrachte dich nicht als Diktatoren, dafür hast du keine nennenswerte Macht, aber ich mache mir selbst und anderen gern bewusst, wenn sie Charaktereigenschaften von scheinbar unmenschlichen Gestalten teilen. Ich halte diese Reflexion für nützlich - besonders wenn sie zeigt, dass ausgerechnet bei Menschen mit "bester Absicht" die Moral und Ethik die schlimmsten Waffen abgeben und sie selbst nicht erkennen lassen, wozu sie diese Illusionen missbraucht haben. So, und jetzt dürft ihr gern weiter über Fußball diskutieren....
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Nanna » Fr 11. Okt 2013, 15:30

Es geht eigentlich mehr darum, in der Lage zu sein, zu erkennen, wann das sture Einhalten einer Regel weniger zum Ziel der Regel beiträgt als eine pragmatische Lösung. Wartest du ernsthaft nachts um drei an der leeren Kreuzung, wenn die Ampel rot ist?
Ich weiß z.B. gut, wo ich mir es mal herausnehmen kann, dem Team etwas zur Last zu fallen, etwa weil ich kurzfristig umdisopnieren muss und dadurch mal ausfalle oder unpünktlich bin, wenn ich gleichzeitig weiß, wann ich im Gegenzug 120% Arbeitsleistung dafür bringen muss (und das tue ich recht häufig; gewisse Vorrechte werden einem dann auch vom Arbeitgeber selbst eingeräumt). Du scheinst das mit kaltem Machiavellismus zu verwechseln, aber ich meine damit eigentlich, dass ich durch das gelegentliche Missachten gewisser Sekundärtugenden (z.B. kann das eben Pünktlichkeit sein) meine Ressourcen effizienter nutze und dadurch den pay-off sowohl für mich als auch für das Team erhöhe. Oder ich setze mich entgegen gewisser Respektregeln auch gegenüber Höherrangigen mal mit recht pentrantem Diskutieren durch, weil ich erkannt habe, dass mein Lösungsvorschlag uns alle weiter bringen wird. Das hat aber dann nichts mit Dominanzverhalten aus Prinzip zu tun. Dafür ist meine Loyalität zu meinen Kommilitonen und Arbeitskollegen auch viel zu hoch. Ich habe da auch genug externe Einschätzungen, etwa in Arbeitszeugnissen oder feedback-Runden, die mir ein hohes Maß an Verantwortungsfähigkeit, Teamfähigkeit und fairplay bescheinigen, insofern bin ich mir recht sicher, dass ich mich da keinen Illusionen über mich selbst hingebe. Ich habe andere Schwächen, die ich auch kenne, die ich hier aber nicht ausbreiten muss.
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Darth Nefarius » Sa 12. Okt 2013, 15:26

Nanna hat geschrieben:Es geht eigentlich mehr darum, in der Lage zu sein, zu erkennen, wann das sture Einhalten einer Regel weniger zum Ziel der Regel beiträgt als eine pragmatische Lösung.

Klar, das sollte aber auch zur frage führen, ob nicht grundsätzlich die pragmatische Lösung angemessener ist als ein standartisierter Vorschlag - die Regel überhaupt nur als Vorschlag zu erkennen kann auch nicht vorausgesetzt werden, da diese nicht selten beansprucht, allgemeingültig zu sein. Deswegen schätze ich 1. die Erkenntnis, dass es lächerlich ist, allgemeingültige Regeln aufstellen zu wollen oder zu glauben, dass solche existieren und sie alle nur Vorschläge sind und 2. dass die eigene Analyse einer Situation oft besser ist, da ein solcher Vorschlag nur allgemeine Situationen beschreibt.
Nanna hat geschrieben:Wartest du ernsthaft nachts um drei an der leeren Kreuzung, wenn die Ampel rot ist?

Nein, aber ich bin hier ja auch nicht der Oberpfadfinder!
Ich lehne konsequent Moral und Ethik ab.
Nanna hat geschrieben:Ich weiß z.B. gut, wo ich mir es mal herausnehmen kann, dem Team etwas zur Last zu fallen, etwa weil ich kurzfristig umdisopnieren muss und dadurch mal ausfalle oder unpünktlich bin, wenn ich gleichzeitig weiß, wann ich im Gegenzug 120% Arbeitsleistung dafür bringen muss (und das tue ich recht häufig; gewisse Vorrechte werden einem dann auch vom Arbeitgeber selbst eingeräumt). Du scheinst das mit kaltem Machiavellismus zu verwechseln, aber ich meine damit eigentlich, dass ich durch das gelegentliche Missachten gewisser Sekundärtugenden (z.B. kann das eben Pünktlichkeit sein) meine Ressourcen effizienter nutze und dadurch den pay-off sowohl für mich als auch für das Team erhöhe.

Schön wärs, wenn ich bei dir Macchiavellismus erkennen könnte, das hätte ja noch wenigstens System und wäre weit weniger auf Heuchelei aufgebaut (ein Herrscher sollte eher anstreben, gefürchtet als geliebt zu werden - folglich muss er nicht (langfristig) lügen und betrügen, sondern nur skrupellos sein). Leistung muss aber konstant gehalten werden, wenn sogenannte Sekundärtugenden nicht vorhanden sind, kann man das nicht erwarten. Große Schwankungen vermitteln keine Zuverlässigkeit. Aber darin bestand ja auch nicht meine Kritik, sondern eben in der Scheinheiligkeit, Moral und Ethik als real und notwendig zu bezeichnen, aber sich gleichzeitig selbst herauszunehmen, es anders zu handhaben. Bei meinem Amoralismus bin ich wenigstens ehrlich und damit (soweit ich es zulasse) für andere einschätzbar.
Nanna hat geschrieben: Oder ich setze mich entgegen gewisser Respektregeln auch gegenüber Höherrangigen mal mit recht pentrantem Diskutieren durch, weil ich erkannt habe, dass mein Lösungsvorschlag uns alle weiter bringen wird.

Ich bin der letzte, der dich dafür kritisiert - dafür bin ich auch beinahe berüchtigt. Worum es mir geht, ist die Achtung vor Moral und Ethik, bei der du doch erkennen müsstest (da du die Vorteile der Regelbrüche hier doch aufzählst), dass sie unsinnig ist und nur als Vorwand und rechtfertigung vor den Dummen taugt. Du machst es dir doch umso schwerer, wenn man bei dir erwartet, dass du moralisch handelst, wenn du auch diesen Anspruch hast, da die Enttäuschung der anderen über dich umso größer bei erwischtem Verstoß ist (und folglich lassen dich die Leute weniger durchgehen). Bei mir passiert soetwas nicht, von mir erwartet man eiskalte Berechnung und pragmatischen Egoismus - allerdings sehr kooperativen, zuverlässigen und intelligenten (so wie es bei einem Macchiavellisten üblich ist). Ich habe in meinem ganzen Schulleben wohl nie mehr als eine handvoll Schultage verpasst, habe fast immer meine Hausaufgaben und Arbeiten erledigt und nie geschlampt. Das hat nichts mit Ethik zu tun, sondern mit Willenskraft und Disziplin.
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Nanna » So 13. Okt 2013, 00:36

Darth Nefarius hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Es geht eigentlich mehr darum, in der Lage zu sein, zu erkennen, wann das sture Einhalten einer Regel weniger zum Ziel der Regel beiträgt als eine pragmatische Lösung.

Klar, das sollte aber auch zur frage führen, ob nicht grundsätzlich die pragmatische Lösung angemessener ist als ein standartisierter Vorschlag - die Regel überhaupt nur als Vorschlag zu erkennen kann auch nicht vorausgesetzt werden, da diese nicht selten beansprucht, allgemeingültig zu sein.

Das Problem ist auch hier, dass Pragmatik im Auge des Betrachters liegt. Wenn zwei Menschen in der Wüste stehen und nur einen Kanister Wasser haben, mag es dem Einen pragmatisch erscheinen, den Zweiten umzulegen, wohingegen ein Anderer unter Pragmatismus verstehen würde, dass man das Wasser halt brüderlich teilt und das Beste daraus macht.

Darth Nefarius hat geschrieben:Deswegen schätze ich 1. die Erkenntnis, dass es lächerlich ist, allgemeingültige Regeln aufstellen zu wollen oder zu glauben, dass solche existieren und sie alle nur Vorschläge sind und 2. dass die eigene Analyse einer Situation oft besser ist, da ein solcher Vorschlag nur allgemeine Situationen beschreibt.

Klar sind sie Vorschläge. Das ist ja gerade der Punkt am Sein-Sollen-Problem, dass man moralische Regeln nicht empirisch in der Natur auffinden kann, sondern durch Reflexion aufstellen und optimieren muss. Dein utilitaristischer Appell an die Nützlichkeit ist übrigens auch eine allgemeine Regel. ;-)

Darth Nefarius hat geschrieben:Schön wärs, wenn ich bei dir Macchiavellismus erkennen könnte, das hätte ja noch wenigstens System und wäre weit weniger auf Heuchelei aufgebaut (ein Herrscher sollte eher anstreben, gefürchtet als geliebt zu werden - folglich muss er nicht (langfristig) lügen und betrügen, sondern nur skrupellos sein).

Ich habe relativ viel Erfahrung darin, ein Team zu führen ohne eine Vorgesetztenfunktion zu haben (gute Beschreibung so eines Führungsstils beispielsweise hier). Aus ganz alltäglicher Erfahrung weiß ich, dass gefürchtet zu werden eine einzige Katastrophe ist, wenn man etwas erledigt bekommen will. Mitarbeiter brauchen Lob, Bestätigung und die Erfahrung, dass man zu ihnen loyal ist, selbst wenn sie mal Mist gebaut haben. Darüberhinaus brauchen sie aber auch ehrliches Feedback und die Möglichkeit, sich nach individueller Leistungsfähigkeit beweisen zu können. Wie der verlinkte Artikel völlig korrekt anmerkt, sind sozial inkompetente Vorgesetzte, die autoritäres Verhalten mit Autorität verwechseln, der größte Bremsklotz für Produktivität und für das allgemeine Klima ja sowieso.

Letztlich ist die Frage, was nachhaltiger ist und was man will: Dass die Leute einem aus Angst oder reinem Nutzenkalkül folgen oder aus Überzeugung und Vertrauen. Du kannst ja machen, was du willst, aber ich werde mich grundsätzlich immer für zweiteres entscheiden. Wenn ich nicht im umfassenden Sinne eine gute Führungspersönlichkeit bin, und das schließt Loyalität über reine Nutzenerwägungen hinaus ein, will ich auch den Job nicht haben. Da enttäuschte ich mich nur selbst.

Darth Nefarius hat geschrieben:... Aber darin bestand ja auch nicht meine Kritik, sondern eben in der Scheinheiligkeit, Moral und Ethik als real und notwendig zu bezeichnen, aber sich gleichzeitig selbst herauszunehmen, es anders zu handhaben. Bei meinem Amoralismus bin ich wenigstens ehrlich und damit (soweit ich es zulasse) für andere einschätzbar.

Ich glaube, dass du da etwas kollossal missverstanden hast. Ich breche keine ethischen Regeln. Ich setze mich, und zwar mit Wissen und Billigung meiner Vorgesetzten, Kommilitonen oder wem auch immer, manchmal über bestimmte Konventionen hinweg, weil ich mit mehr Handlungsfreiheit in dem Fall bessere Ergebnisse erziele. Wenn ich das darf, habe ich mir das durch jahrelanges zuverlässiges Erarbeiten von Vertrauen verdient. Wo es darauf ankommt, etwa bei der Überstundenabrechnung o.ä. bin ich absolut preußisch-penibel. Mit Amoralismus hat das alles überhaupt nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Andere sind manchmal eher bereit, mich von standardisierten Verfahren zu entbinden, weil sie mir vertrauen, dass ich mich auch dann noch ethisch sauber verhalten werde, wenn ich in unkontrollierter Umgebung arbeite. Und ich bin auch immer sehr offen und transparent dabei, meine Beweggründe zu erklären, irgendwelcher Obskurantismus liegt mir da fern.

Sorry, wenn du glaubst, mich da bei irgendetwas ertappt zu haben. Mir ging es eigentlich nur darum, provinzler nahe zu legen, die Integrität, die viele ihm zugestehen, insofern zu nutzen, als dass er dadurch häufig mehr Freiheit in der Gestaltung seiner Arbeitsweise erhalten kann (was er ja in dem Startup, wo er arbeitet, offensichtlich auch tut). Wer integer und vertrauenswürdig ist, darf häufig eher selbst entscheiden, wie er ein Ziel erreicht, gerade weil man ja darauf vertrauen kann, dass er dabei keine schmutzigen Wege einschlagen wird. Das setzt aber voraus, dass man sich seine Integrität bewahrt.

Darth Nefarius hat geschrieben:Du machst es dir doch umso schwerer, wenn man bei dir erwartet, dass du moralisch handelst, wenn du auch diesen Anspruch hast, da die Enttäuschung der anderen über dich umso größer bei erwischtem Verstoß ist (und folglich lassen dich die Leute weniger durchgehen).

Ich bin bislang nicht in die Situation gekommen, wo mir vorgeworfen wurde, ein doppeltes Spiel zu spielen oder die Integrität meiner Intentionen angezweifelt wurde. Klar passieren Fehler und natürlich erreiche ich meine eigenen Standards in schöner Regelmäßigkeit nicht. Ich kann das aber zugeben und auch die Verantwortung auf mich nehmen, wenn ich irgendwo Mist gebaut habe. Lieber gleich drüber reden, dann ist das Thema vom Tisch. Gerade Leute, die einen länger kennen, kriegen da recht schnell mit, ob einen das ehrlich wurmt und man sich wirklich anstrengt, den gleichen Fehler nicht nochmals zu machen, oder ob man eine Entschuldigung nur als Ausflucht benutzt. Insofern, nein, bislang habe ich nicht erlebt, dass jemand von mir enttäuscht war, weil ich vollmundig meine Moral gepriesen habe und dann ein Versprechen nach dem anderen gebrochen habe.

Darth Nefarius hat geschrieben:Bei mir passiert soetwas nicht, von mir erwartet man eiskalte Berechnung und pragmatischen Egoismus - allerdings sehr kooperativen, zuverlässigen und intelligenten (so wie es bei einem Macchiavellisten üblich ist). Ich habe in meinem ganzen Schulleben wohl nie mehr als eine handvoll Schultage verpasst, habe fast immer meine Hausaufgaben und Arbeiten erledigt und nie geschlampt. Das hat nichts mit Ethik zu tun, sondern mit Willenskraft und Disziplin.

Och, zuverlässig war ich schon, aber dass ich selten geschlampt habe, würde ich jetzt nicht behaupten. Wenn meine Hausaufgaben schlecht waren, hat das aber auch nur mir geschadet, insofern ist das auch gar kein ethisches Problem. Ich kann aber von mir sagen, dass ich mir nie Leistungen erschlichen habe. Wenn ich irgendwo hinter den Erwartungen geblieben bin, dann habe ich auch die schlechte Benotung akzeptiert. Da aufrichtig zu sein und Gutes wie Schlechtes mit Aufrichtigkeit und einer gewissen Haltung zu akzeptieren fand ich immer wichtiger, als ein gestriegeltes Aufgabenheft zu haben. Gelungen ist es mir natürlich trotzdem oft genug nicht, aber wozu ist man denn lernfähig?
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Re: Eine Frage der Persönlichkeit

Beitragvon Darth Nefarius » So 13. Okt 2013, 13:16

Nanna hat geschrieben: Wenn zwei Menschen in der Wüste stehen und nur einen Kanister Wasser haben, mag es dem Einen pragmatisch erscheinen, den Zweiten umzulegen, wohingegen ein Anderer unter Pragmatismus verstehen würde, dass man das Wasser halt brüderlich teilt und das Beste daraus macht.

So kann es sein, aber wenn einer von beiden daraus ein allgemeines Gesetz und eine Richtlinie herleitet, ist es zu viel des Guten. Unter Pragmatismus verstehe ich, dass man situationsspezifisch und nicht dogmatisch entscheidet.
Nanna hat geschrieben:
Darth Nefarius hat geschrieben:Deswegen schätze ich 1. die Erkenntnis, dass es lächerlich ist, allgemeingültige Regeln aufstellen zu wollen oder zu glauben, dass solche existieren und sie alle nur Vorschläge sind und 2. dass die eigene Analyse einer Situation oft besser ist, da ein solcher Vorschlag nur allgemeine Situationen beschreibt.

Klar sind sie Vorschläge. Das ist ja gerade der Punkt am Sein-Sollen-Problem, dass man moralische Regeln nicht empirisch in der Natur auffinden kann, sondern durch Reflexion aufstellen und optimieren muss. Dein utilitaristischer Appell an die Nützlichkeit ist übrigens auch eine allgemeine Regel. ;-)

Wieso muss man? Es ist völlig widersinnig, sich solche Richtlinien selbst aufzulegen, wenn man schon vorher weiß, dass diese Regeln entweder zu unspezifisch oder zu spezifisch sind und damit auch eher zu ungünstigen Lösungen führen. Das war kein Appell, es stellt nur meine persönliche Einstellung dar. Ich verpflichte niemanden, genauso zu handeln, würde es aber begrüßen. Dabei verwende ich auch keine appellativen, imperativen Formen für meine Aussagen - sie sind somit nicht wirklich normativ. Ich kann kein Sollen formulieren, wenn ich über den Einzelnen keine Macht besitze, kann aber versuchen aufzuzeigen, was die logische Variante ist.
Nanna hat geschrieben:Ich habe relativ viel Erfahrung darin, ein Team zu führen ohne eine Vorgesetztenfunktion zu haben (gute Beschreibung so eines Führungsstils beispielsweise hier). Aus ganz alltäglicher Erfahrung weiß ich, dass gefürchtet zu werden eine einzige Katastrophe ist, wenn man etwas erledigt bekommen will. Mitarbeiter brauchen Lob, Bestätigung und die Erfahrung, dass man zu ihnen loyal ist, selbst wenn sie mal Mist gebaut haben. Darüberhinaus brauchen sie aber auch ehrliches Feedback und die Möglichkeit, sich nach individueller Leistungsfähigkeit beweisen zu können. Wie der verlinkte Artikel völlig korrekt anmerkt, sind sozial inkompetente Vorgesetzte, die autoritäres Verhalten mit Autorität verwechseln, der größte Bremsklotz für Produktivität und für das allgemeine Klima ja sowieso.

Nur wenn die eigene Machtposition unterwandert wurde. Wenn man die Untergebenen von sich abhängig macht, hat man sie auch im Griff und sollte sie nicht vergessen lassen, welche Abhängigkeit besteht. Zumindest ist das die mittelalterliche Sichtweise, der der Macchiavellismus entstammt - heute gibt es solche Abhängigkeiten in unseren Gefilden weit seltener. Deswegen muss man sich Abhängigkeiten suchen und schaffen, die über die systemischen (Gehalt, Absicherung....) hinausgehen. Wie du dir sicher zurecht vorstellst, hatte ich eher wenig Erfahrung mit Führungsrollen, allerdings nur, weil ich mich um diese auch selten bemüht habe. Dennoch hat sich mein Verständnis vom Macchiavellismus stehts bestätigt und bewehrt. Es kommt einfach darauf an, seine Karten gut auszuspielen (das ist bei der Usurpation immer am schwierigsten). So konnte ich in der Schule und im Studium meine Interessen durchsetzen, ohne dauerhafte Führungspositionen innehaben zu müssen. Ein angemessenes Beispiel ist Macchiavelli selbst für dieses Vorgehen: Echte Führungspositionen hatte er nie inne, war aber den Mächtigen nahe genug, um sie zu beeinflussen. Die wohl effizientese Ausübung von Macht, ist diejenige, die den Fokus auf einen Strohmann lenkt und die Verantwortung auf ein Minimum beschränkt bei maximaler Machtausübung. Loyalität ist eine Illusion, man ist auch nicht auf sie angewiesen, wenn man kaum suchen muss, um einen besseren Untergebenen/Mitarbeiter/Chef zu finden. Das ist im Wissenschaftsbetrieb Usus, Festanstellungen sind eher selten. Aber den Macchiavellismus zu befolgen, bedeutet nicht, dass man sich wie ein Arschloch verhalten muss, sondern nur ein gewisses Vorgehen vermittelt.
Nanna hat geschrieben:Letztlich ist die Frage, was nachhaltiger ist und was man will: Dass die Leute einem aus Angst oder reinem Nutzenkalkül folgen oder aus Überzeugung und Vertrauen. Du kannst ja machen, was du willst, aber ich werde mich grundsätzlich immer für zweiteres entscheiden. Wenn ich nicht im umfassenden Sinne eine gute Führungspersönlichkeit bin, und das schließt Loyalität über reine Nutzenerwägungen hinaus ein, will ich auch den Job nicht haben. Da enttäuschte ich mich nur selbst.

Was hat Loyalität denn schon für einen Wert? Verrat gibt es überall, wenn es darauf ankommt - außer man umgibt sich mit Naivlingen und Fanatikern, die dich für einen Gott halten (und sogar dann ist es nie ausgeschlossen), oder mit inkompetenten Leuten, die von dir abhängig sind, weil du aber ihre Arbeit erledigen musst (oder nicht selten alles auf einmal). Ab einer bestimmten Ebene hast du nicht mit Untergebenen, sondern mit anderen Führungspersönlichkeiten zu tun. Erst dann bist du auch eine echte Führungspersönlichkeit und dann ist der Macchiavellismus wieder sehr nützlich. Der Macchiavellismus lehrt einen, sich nicht auf Vertrauen und Loyalitäten zu verlassen, ansonsten hat man keine Absicherung, seine Ziele durchzusetzen. Und diese Ziele können ganz reeller, pragmatischer Natur sein - die einem auch etwas bringen. Mit Loyalität kannst du nichts kaufen.
Nanna hat geschrieben:
Darth Nefarius hat geschrieben:... Aber darin bestand ja auch nicht meine Kritik, sondern eben in der Scheinheiligkeit, Moral und Ethik als real und notwendig zu bezeichnen, aber sich gleichzeitig selbst herauszunehmen, es anders zu handhaben. Bei meinem Amoralismus bin ich wenigstens ehrlich und damit (soweit ich es zulasse) für andere einschätzbar.

Ich glaube, dass du da etwas kollossal missverstanden hast. Ich breche keine ethischen Regeln. Ich setze mich, und zwar mit Wissen und Billigung meiner Vorgesetzten, Kommilitonen oder wem auch immer, manchmal über bestimmte Konventionen hinweg, weil ich mit mehr Handlungsfreiheit in dem Fall bessere Ergebnisse erziele.

Ich habe nichts missverstanden, denn Konventionen und Regeln entstehen ja nicht aus dem nichts, sondern aus ethisch-moralischen Vorstellungen. Jede Konvention, die du brichst, ist damit auch eine verletzte Norm. Dagegen habe ich per se gar nichts, deine Einstellung zu den Regeln selbst, scheint mir nur inkonsequent und wenig reflektiert. Das Mitwissen ist übrigens auch etwas, das man nach Möglichkeit vermeiden sollte, da es eine eigene Abhängigkeit schafft. Im Nachhinein, wenn alles geklappt hat, darf man die Leute gern informieren. Ich habe es immer vermieden, dass ich jemandem auf Dauer etwas schuldig bin und mich immer möglichst revanchiert (wenn mein Gefallen nicht selbst die Revanche für meinen Vorschuss war. Das führt bei Leuten mit Moral und Ethik auch schon zu einer Abhängigkeit - vielleicht die Definition von Abhängigkeit, die du am ehesten verstehst und nicht ablehnst).
Nanna hat geschrieben: Wenn ich das darf, habe ich mir das durch jahrelanges zuverlässiges Erarbeiten von Vertrauen verdient. Wo es darauf ankommt, etwa bei der Überstundenabrechnung o.ä. bin ich absolut preußisch-penibel. Mit Amoralismus hat das alles überhaupt nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Andere sind manchmal eher bereit, mich von standardisierten Verfahren zu entbinden, weil sie mir vertrauen, dass ich mich auch dann noch ethisch sauber verhalten werde, wenn ich in unkontrollierter Umgebung arbeite. Und ich bin auch immer sehr offen und transparent dabei, meine Beweggründe zu erklären, irgendwelcher Obskurantismus liegt mir da fern.

Das setzt auch großes Vertrauen bei dir für deine Vorgesetzten voraus. damit wirst du nie ganz an die Spitze kommen. Manchmal kommt es drauf an, diese nämlich bei Gelegenheit und Wunsch auszubooten (wenn man nicht bis zum freiwilligen Rücktritt oder der Rente warten will).
Nanna hat geschrieben:Sorry, wenn du glaubst, mich da bei irgendetwas ertappt zu haben. Mir ging es eigentlich nur darum, provinzler nahe zu legen, die Integrität, die viele ihm zugestehen, insofern zu nutzen, als dass er dadurch häufig mehr Freiheit in der Gestaltung seiner Arbeitsweise erhalten kann (was er ja in dem Startup, wo er arbeitet, offensichtlich auch tut). Wer integer und vertrauenswürdig ist, darf häufig eher selbst entscheiden, wie er ein Ziel erreicht, gerade weil man ja darauf vertrauen kann, dass er dabei keine schmutzigen Wege einschlagen wird. Das setzt aber voraus, dass man sich seine Integrität bewahrt.

Es kommt immer darauf an, mit wem man arbeitet. Manchmal kann man nicht wählerisch sein, und kann beim Gegenüber keine Loyalität erwarten. Deinesgleichen würde vielleicht ganz passable Führungspersönlichkeiten abgeben, aber wie Macchiavelli betont, geht es nicht nur darum, die Macht zu erlangen, sondern sie auch zu halten. Und dann musst du macchiavellistisch handeln, weil nicht jeder so ist wie du. Selbst in Vorzeigedemokratien wie unserer, kann man bei den integersten Personen eiskalten Macchiavellismus sehen, siehe Merkel, siehe Gabriel, siehe Brüderle, siehe Gysi (sie alle zeigen bemerkenswert übereinstimmendes Verhalten bei dem Erwerb der Führungspositionen und der Auswahl von Bauernopfern zum Erhalt dieser. Es gibt da noch andere, extremere Beispiele, siehe Berlusconi, Putin, aber auch Obama, der auch nicht gezögert hat, seine Konkurrentin aus dem eigenen Lager zu bekämpfen und Techno-Terrorismus mit Drohnen gegen seine Feinde anwendet). Die booten ihre Konkurrenten oder inkompetenten Untergebenen sofort aus, auch wenn sie Gegenteiliges sagen. Du würdest das vielleicht nicht tun, aber dann würdest du selbst ausgebootet werden. Politiker mit deiner Einstellung, schaffen es nicht über ihren Landeskreis hinaus und sind damit keine echten Führungspersönlichkeiten. Tut mir ja Leid für dich, aber mir ist keine echteFührungsperson bekannt, die sich halten kann, ohne macchiavellistisch zu handeln. Die Stärke Macchiavellis war ja, sich vom Ideal des tugendhaften Herrschers zu verabschieden und einfach die Realität und die erfolgreichen Konzepte zu erkennen und zu beschreiben. Damit ist der macchiavellismus kein Maßstab, sondern ein Phänomen beinahe so wie der Darwinismus.
Nanna hat geschrieben:Ich bin bislang nicht in die Situation gekommen, wo mir vorgeworfen wurde, ein doppeltes Spiel zu spielen oder die Integrität meiner Intentionen angezweifelt wurde. Klar passieren Fehler und natürlich erreiche ich meine eigenen Standards in schöner Regelmäßigkeit nicht. Ich kann das aber zugeben und auch die Verantwortung auf mich nehmen, wenn ich irgendwo Mist gebaut habe. Lieber gleich drüber reden, dann ist das Thema vom Tisch. Gerade Leute, die einen länger kennen, kriegen da recht schnell mit, ob einen das ehrlich wurmt und man sich wirklich anstrengt, den gleichen Fehler nicht nochmals zu machen, oder ob man eine Entschuldigung nur als Ausflucht benutzt. Insofern, nein, bislang habe ich nicht erlebt, dass jemand von mir enttäuscht war, weil ich vollmundig meine Moral gepriesen habe und dann ein Versprechen nach dem anderen gebrochen habe.

Das wird aber passieren, sobald du echte Konkurrenz erfährst. Die loyalen Untergebenen werden dir soetwas vielleicht nicht vorwerfen, wohl aber der Konkurrent, der nicht von dir abhängig ist und es auf deine Position abgesehen hat oder mit dir eine höhere anstrebt.
Nanna hat geschrieben:Wenn meine Hausaufgaben schlecht waren, hat das aber auch nur mir geschadet, insofern ist das auch gar kein ethisches Problem.

Ganz richtig, deswegen habe ich mich ja entsprechend diszipliniert verhalten. Es ging mir ja darum zu unterscheiden, was eine Tugend ist und was Moral und Ethik.
Nanna hat geschrieben: Ich kann aber von mir sagen, dass ich mir nie Leistungen erschlichen habe.

Gut, denn soetwas macht angreifbar und ist meist aufwendiger, als sich um die echte Leistung zu bemühen, wenn man es vertuschen will. Ich habe auch nie gemogelt bei dem Nachweis einer Leistung - allein wegen meines Ehrgeizes nicht. Machtfragen und die Durchsetzung der eigenen Ziele sind hingegen etwas ganz anderes.
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