Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Gandalf » So 30. Sep 2012, 09:16

Da ich nun feststellen musste, das ich wohl "Voluntarist" bin (Ein Begriff, den ich bis vor kurzem überhaupt nicht kannte) und hier teilweise behauptet wurde, das libertäre Ideen nur in der Ökonomie Sinn machen würden, stelle ich nun mal eine "Utopie" vor, deren Tragweite (und Tragfähigkeit) ich derzeit noch nicht abschätzen kann.

Hier die (umfangreichen) "FAQ's" ...

http://www.voluntarist.de/hauptteil/

...die von Bildungspolitik, über Waffenbesitz, Freiheit und Verantwortung und dem Haupt-Verursacher von Gewalt und Zwang: Dem Staat - bis hin zu der Frage "hat jeder das Recht auf eine hübsche Frau/Mann" reichen :kg: )

Ist eine Gesellschaft die von Zwang und Gewalt befreit werden kann, eine 'Utopie'?


Und wenn ja - waren nicht auch die Menschenrechte eine Utopie, zu Zeiten, als Sklaverei und Leibeigentum "selbstverständlich" waren?
- und ist Atheismus nicht auch eine Utopie, in Zeiten in denen die Glaubensfanatiker wieder Oberhand gewinnen?
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Darth Nefarius » So 30. Sep 2012, 09:36

Meine Antwort wird dich vielleicht überraschen, aber ich denke, dass eines von beiden in gewisser Weise tatsächlich möglich und sogar vorhanden ist. Bis zu einem gewissen Grad glaube ich auch nicht an Moral und Ethik als imperative Zwänge, die letztlich nur Brandbeschleuniger für überhitzte Gemüter sind und nur eine Rechtfertigungsgrundlage, nie eine Zügellung der Triebe darstellte. Ihre Verbindlichkeit ist eine Illusion.
Ja, ich halte den Willen, der sich aus Trieben ergibt, auch für zentral. Aber letztlich kann ich mir nicht mehr als eine Gesellschaft, die sich der Unverbindlichkeit von Moral und Ethik bewusst wird, wünschen. Selbst dann gibt es aber noch Zwänge (auf anderer Ebene) und Gewalt. Auch wenn es mir nicht unbedingt passt, dies so zu formulieren: Wenn einige sagen, dass die Religion/Moral nicht die Wurzel allen Übels und der Gewalt ist, dann haben sie recht. Ich habe dir höflich und ruhig geantwortet und hoffe, dass wir diesmal eine moderate Diskussion führen können, sofern du mir überhaupt antworten willst.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Lumen » So 30. Sep 2012, 13:08

Aus der FAQ der verlinkten Seite:

Wer kümmert sich um die Bedürftigen, wenn es keinen Staat mehr gibt? (...) Empirische Daten bestätigen diese fast triviale Vermutung: In Ländern mit traditionsgemäß geringerer staatlicher Wohlfahrt ist das freiwillige Engagement für die Wohlfahrt deutlich ausgeprägter. Amerika ist immer noch ein gutes Beispiel


In genau diesem Punkt ist die USA hoch dysfunktional. Bei Spenden und bei bestimmten Organisationsformen gibt es außerdem große Steuervorteile. Ich frage mich bei der Situation, was zum Beispiel eine Stadt voller Obdachloser (wie San Francisco) denn machen soll? Wo könnten die in einem "freien" System hingehen, wo bekommen die ein Feld her, was sie bestellen können? Woher kommen die Maschinen, die sie für die Produktion brauchen? In welchem Wald können sie ihre Nahrung erjagen?

In Wahrheit sind diese Vorschläge doch Augenwischer und Trickserei. Es ist die Herrschaft der Besitzenden, bei denen dann der Rest "freiwillig" arbeiten darf (zu jeweils niedrigsten Löhnen und Konditionen). Die "Freiheit" die da propagiert ist, ist genau jene Freiheit, die Unzufriedene jetzt haben, sich doch einen anderen Flecken Erde zu suchen! Das größte Problem wird also nicht behoben, dafür werden Betroffene noch schlechter gestellt. Und damit geht auch die Argumentation in die Binsen, wonach Leute ja nicht gezwungen werden dürften, umzuziehen. Natürlich werden sie das, wenn sie von Land und Besitz umstellt sind, wo sie selbst keinen Gestaltungsspielraum haben. Wenn man nicht mal einen Apfel pflücken darf, weil der Baum jemanden gehört (und der angeheuerte Sicherheitsdienst diesen Besitz mit Waffengewalt "beschützen" darf), dann sind die Verhältnisse ziemlich deutlich schlechter als gegenwärtig.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon emporda » So 30. Sep 2012, 13:38

Lumen hat geschrieben:Aus der FAQ der verlinkten Seite:

Wer kümmert sich um die Bedürftigen, wenn es keinen Staat mehr gibt? (...) Empirische Daten bestätigen diese fast triviale Vermutung: In Ländern mit traditionsgemäß geringerer staatlicher Wohlfahrt ist das freiwillige Engagement für die Wohlfahrt deutlich ausgeprägter. Amerika ist immer noch ein gutes Beispiel
In genau diesem Punkt ist die USA hoch dysfunktional.
Das ist das eigentliche Problem. Da es aber typisch christlich ist, wird es dreist geleugnet. Es ist ein Vorläufer dessen was in Europa etwa 10 - 30 Jhre später passiert, wenn den Religioten nicht Einhalt geboten wird

Der Religiot Dr. Edwin Goodwin in US-Indiana reicht 1897 das Gesetz 246 ein, als Wahrheit der Mathematik ist die Zahl π = 3,0. Der Mensch degeneriert in 3500 Jahren zum geistigen Kretin. Die Schulbehörde von Georgia erlässt 2005 einen Beschluss Worte wie „Evolution“ und Fakten wie „Erdalter, Big-bang oder Plattentektonik“ sind im Unterricht verboten. Richter Cooper verbietet die Aufkleber im Cobb-County als verfassungswidrig. Dem Dover-Area-School-District wird im Kitzmiller Fall der Unterricht von ID (intelligent design) gerichtlich als Verstoß gegen die US-Verfassung untersagt.

Das Ohio-Board-of-Education feuert die 8 Unterstützer von ID und setzt das Dover Urteil um. Professor M.J. Behe (Discovery Institute) wird als Zeuge zum Lügner unter Eid. Astrologie ist für ihn eine Wissenschaft deren Kriterien müssen um Gott als Schöpfer erweitert werden. Das Gericht befindet CR und ID nutzen eine wissenschaftlich klingende Sprache ohne eine Wissenschaft zu sein. Das Kansas-State-Board-of-Education rudert 2007 zurück und erlaubt erneut Unterricht über die Evolution. Nach einer Umfrage unterrichten etwa 28% der US-Biologielehrer die Evolution noch korrekt, 60% mogeln sich mit absurden Scheintexten durch, um dem Druck von Politik und Kirche auszuweichen.

Der Soziologe Gregory Paul veröffentlicht 2005 im Journal of Religion and Society im Vol.7 eine Studie über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Bigotterie in wohlhabenden Demokratien. Dazu nutzte er Umfragen und Statistiken zu Mord, Selbstmord, Gewalt, Schwangerschaft bei Minderjährigen, Abtreibung, usw. Das Material beschränkt sich auf heutige Industrieländer mit etwa 800 Mio. Menschen. Im Ergebnis widerlegt er die unbewiesene Behauptung unbedingter Schöpferglauben und religiöse Verehrung resultieren in geringen Raten bei Mord, Sterblichkeit junger Menschen, Infektionen mit Sex-Krankheiten trotz jährlich 800.000 Schwangerschaften von Minderjährigen (unter 18 Jahre), Abtreibungen usw.

Die reiche USA ist die dysfunktionalste Demokratie und schneidet in vielen Vergleichen fatal ab. Die Diskrepanz zwischen der irreal bigotten Moral und der Realität des Lebens in einer Wissens- und Leistungsgesellschaft führt zur Ausgrenzung, Fanatismus, Psychosen, Gewalt, Rassismus und sehr hoher Kriminalität. Etwa 67% der Bevölkerung glaubt kreationistischen Thesen trotz rückläufigen klassischen Religionen.

Die USA mit einer 300-fach höheren Rate bei Geschlechtskrankheiten hat mit 2,3 Mio. Gefängnisinsassen spezifisch das 9-fache der EU-27. Nach dem Soziologen Paul Kellermann kostet ein Gefängnisplatz je nach Sicherheitsstufe 25.000 – 50.000 US$/Jahr, deutlich mehr als ein Universitätsplatz. Das vermittelte Wissen der Schüler religiöser Bildungsanstalten reicht nicht für ein Universitätsstudium. Eine US-Lehrerin erhält 40 Jahre Gefängnis, weil auf einer Internetseite Porno-Werbung erscheint, Farbige stellen 75% der durch DNA-Tests belegten Fehlurteile, im forensischen Kriminallabor von Dallas findet man 2007 etwa 19.500 Proben von unbearbeiteten Vergewaltigungsfällen.

Die kreationistischen Republikaner in US-Alabama setzen am 1.10.2011 das Gesetz HB-56, in Kraft, das Illegalen jegliche Bürgerrechte verweigert und sie striktesten Kontrollen unterwirft. Das Resultat ist ein Chaos in der Wirtschaft, über Nacht sind Hunderttausende billige Hilfskräfte in die Nachbarstaaten abgewandert, im Bauwesen und der Landwirtschaft bewirkt das Fehlen Umsatzausfälle um 50% mit Verlusten des Staates bis zu 11 Milliarden US$ und dem Verlust von 140.000 Arbeitsplätzen. Führenden Republikanern wird langsam klar, ihr HB-56 Anti Immigration einst angekündigt Arbeitsplätze für Amerikaner zu schaffen, ruiniert in Realität die Wirtschaft. Bei hoher US-Arbeitslosigkeit und geringer Unterstützung sind in Alabama und Georgia die US-Bürger nicht gewillt die miese Drecksarbeit in der Landwirtschaft zu tun.

Nur 5% der US-Ingenieure bezeichnen sich als Christen, 55% der US-Amerikaner geben vor gläubig zu sein. Für 57% ist die Evolution real, 38% glauben an die biblische Schöpfung, der Rest hat dazu keine Meinung. Während 61% der Demokraten an die Evolution glaubt, sind es nur 43% der Republikaner. Der „Science and Engineering Indicator“ belegt, die Mehrheit der US-Amerikaner ist schlicht zu blöd zwischen Wissenschaft und religiöser Pseudowissenschaft zu unterscheiden. Man gibt vor sich für Wissenschaft zu interessieren, 54% wussten nicht einmal, dass die Erde 1 Jahr braucht die Sonne zu umkreisen. Im Land des „homeschooling“ als die Bildung der Zukunft werden Religioten auf der flachen Erdenscheibe gezüchtet. Die sozialen Probleme im bigotten „US-Bibel Belt“ der USA sind ungleich höher und wirtschaftlich fataler als in den nordöstlichen Staaten, die den europäischen Kulturen strukturell ähnlich sind.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Darth Nefarius » So 30. Sep 2012, 18:12

Lumen hat geschrieben:In Wahrheit sind diese Vorschläge doch Augenwischer und Trickserei. Es ist die Herrschaft der Besitzenden, bei denen dann der Rest "freiwillig" arbeiten darf (zu jeweils niedrigsten Löhnen und Konditionen). Die "Freiheit" die da propagiert ist, ist genau jene Freiheit, die Unzufriedene jetzt haben, sich doch einen anderen Flecken Erde zu suchen! Das größte Problem wird also nicht behoben, dafür werden Betroffene noch schlechter gestellt. Und damit geht auch die Argumentation in die Binsen, wonach Leute ja nicht gezwungen werden dürften, umzuziehen. Natürlich werden sie das, wenn sie von Land und Besitz umstellt sind, wo sie selbst keinen Gestaltungsspielraum haben. Wenn man nicht mal einen Apfel pflücken darf, weil der Baum jemanden gehört (und der angeheuerte Sicherheitsdienst diesen Besitz mit Waffengewalt "beschützen" darf), dann sind die Verhältnisse ziemlich deutlich schlechter als gegenwärtig.

Wahrscheinlich hast du Gandalfs Intention besser aufgegriffen als ich. Bei ihm ist eine gewisse politische Tendenz absehbar, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht über Zwanglosigkeit auf bestimmten Ebenen in der Gesellschaft reden sollten. Ich halte ein System mit Gesetzen und Ordnung für durchaus richtig und nötig, aber der moralische Unterbau muss da nicht sein.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon provinzler » Mo 1. Okt 2012, 03:42

@emporda:
Dafür messen die Absolventen unserer Staatsschulen unwidersprochen im Staatsfernsehen schonmal Strom in Gigabyte und erzählen mir, dass 60 das anderthalbfache von 80 ist. Und ich würde mal schätzen, mindestens ein Drittel deutscher Abiturienten ist schon damit überfordert, einfache Prozentrechnungen durchzuführen. Eine erschreckende Anzahl unserer Abgeordneten stimmt täglich über Beträge ab, von denen sie nicht mal sagen können wie viele Nullen die haben.(Was wiederum Rückschlüsse zulässt wie viele Nullen in diesem Parlament sitzen)

Die USA als die dysfunktionalste Demokratie zu bezeichnen finde ich überdies etwas gewagt. Ich würde (ohne dort gewesen zu sein) doch vermuten, dass beispielsweise im weit größeren Indien deutlich mehr Chaos herrscht.


@Gandalf:
Wundert mich, dass du erst jetzt auf die Seite gestoßen bist, ist sie doch Dauergast auf den einschlägigen Blogrolls. Das was dieser Mann Voluntarismus nennt, würde Walter Block vermutlich Anarcho-Libertarismus nennen. Ich fand die Seite übrigens sehr interessant, weil einige Themenkomplexe mal aus ganz ungewohnter Perspektive aufgegriffen werden.
Ob eine gewaltfreie Gesellschaft Utopie ist? Mit hoher Wahrscheinlichkeit, ja. Offensichtlich ist es einer hinreichenden Zahl an Menschen ein dringendes Bedürfnis sich in allerlei Angelegenheiten ihrer Mitmenschen einzumischen. Von den Sozialisten kann man allerdings ohne Zweifel lernen, dass die Strategie MAximalforderungen aufzustellen, um dann großzügig auf Kompromisse einzugehen, ein durchaus geeigneter Weg ist, per Salamitaktik Stück für Stück den eigenen Vorstellungen näher zu kommen.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Frankfurter Animus » Do 4. Okt 2012, 12:10

Lumen hat geschrieben:Aus der FAQ der verlinkten Seite:

Wer kümmert sich um die Bedürftigen, wenn es keinen Staat mehr gibt? (...) Empirische Daten bestätigen diese fast triviale Vermutung: In Ländern mit traditionsgemäß geringerer staatlicher Wohlfahrt ist das freiwillige Engagement für die Wohlfahrt deutlich ausgeprägter. Amerika ist immer noch ein gutes Beispiel


Die Stichhaltigkeit dieser empirischen Daten - wo sie auch genau herkommen mögen - interessieren mich; darüber hinaus sind die Vereinigten Staaten ein Sonderfall durch ihren Calvinismus, der den Impuls zur Wohlfahrt fördert.
Ein Mangel dieser idealistischen These ist nicht zuletzt, dass sie soziales Engagement unter den genannten Umständen unbegründet behauptet; selbst wenn diese Prognose zutreffen würde: was passiert, wenn die gesellschaftliche Hilfsbereitschaft abrupt nachlässt - durch wirtschaftliche Zwänge beispielsweise? Wird promt ein staatliches Sozialsystem geschaffen und ebenso schnell wieder abgeschafft, wenn die Geldbeutel der Bevölkerung erneut lockerer sitzen?

MfG
Oliver
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon provinzler » Do 4. Okt 2012, 13:55

Diese Frage ist deswegen schwer zu beantworten, weil die Sozialstaaten in ihrer heutigen Ausprägung eine historische Anomalie sind. Normalerweise beschränkte sich das auf die Versorgung von Witwen und Waisen. Ein Punkt, der aus meiner Sicht mit reinspielt, ist die Anonymität des modernen Sozialstaates. Ich muss dem, von dem ich die Kohle abpressen lasse nicht in die Augen schauen, ein anonymes Kreuzchen in der Wahlkabine reicht. Das schafft ungesunde Anreizstrukturen. Wir Menschen sind darauf ausgelegt Gruppen zu überschauen, die vielleicht aus ein paar hundert Leuten, also der eigenen Sippe und der unmittelbaren Nachbarschaft bestehen, alles andre geht uns tendenziell im Zweifel ziemlich am Arsch vorbei. Sobald ein Konstrukt über diese Größenordnung hinausgeht, kann unter bestimmten Umständen die gegenseitige soziale Kontrolle massiv abnehmen. Der Sozialstaat versucht, Grundüberlegungen aus einer Familienstruktur (gegenseitige Hilfe) in ein viele Dimensionen größeres System zu übertragen, was aus meiner Sicht zum Scheitern verurteilt ist, weil die soziale KOntrolle fehlt. Dann wird normalerweise versucht, die fehlende soziale Kontrolle durch bürokratische Vorschriften zu ersetzen, wodurch eine Art "Helferindustrie" entsteht, die ihre eigene Existenz rechtfertigen muss, weshalb immer neue Probleme erfunden werden müssen. Vor die Wahl gestellt, werden die meisten Menschen (nehme mich da nicht im Geringsten aus) also immer dazu tendieren, sich Geld von denen zu holen, die irgendwie eine anonyme Masse bilden (der Staat). Fällt das weg, steigt automatisch wieder die Notwendigkeit und Bereitschaft an direkter Unterstützung innerhalb der lokalen sozialen Netzwerke.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Nanna » Fr 5. Okt 2012, 01:01

provinzler hat geschrieben:Diese Frage ist deswegen schwer zu beantworten, weil die Sozialstaaten in ihrer heutigen Ausprägung eine historische Anomalie sind. Normalerweise beschränkte sich das auf die Versorgung von Witwen und Waisen.

Das ist ungefähr so sinnvoll, wie zu sagen, dass der Mensch eine evolutionäre Anomalie ist. Der Begriff "normalerweise" ist hier nicht sinnvoll, weil ein naturalistischer Fehlschluss. Bei Sozialstrukturen gibt es keinen natürlichen Normalfall, der "so sein soll", es gibt nur unterschiedliche Konzepte, die ihre eigenen Dynamiken entfalten, die sich in bestimmten historischen Kontexten negativ, positiv oder, wie meistens, beides zugleich, auswirken.

provinzler hat geschrieben:Ein Punkt, der aus meiner Sicht mit reinspielt, ist die Anonymität des modernen Sozialstaates. Ich muss dem, von dem ich die Kohle abpressen lasse nicht in die Augen schauen, ein anonymes Kreuzchen in der Wahlkabine reicht. Das schafft ungesunde Anreizstrukturen.

Na, da ist jetzt aber verdammt viel Subjektivismus und eine ganz unrealistische Frontenstellung drin. Denn die Leute, die wirklich mehr Hilfen bekommen, als sie an Steuern an den großen Topf abführen, wählen zum einen unterdurchschnittlich häufig und sind zum anderen klar in der Minderheit. Die politisch aktive Mittelschicht zahlt deutlich mehr Steuern, als sie an direkten Hilfen wieder einstreicht (und bevor jetzt das Beamtenbashing kommt: Auch Lehrer und Verwaltungspersonal erfüllen eine für die Gesellschaft produktive Aufgabe, etwa indem sie für die Unternehmen qualifizierten Nachwuchs und Rechtssicherheit bereitstellen). Dass da die eine Seite einer wehrlosen anderen etwas "abpressen" würde, ist also schonmal eine grobe Verzerrung der Faktenlage. Eher ist es so, dass die meisten Wähler geben und nehmen und sich je nach sozialer Position die Verhältnisse verschieben.

Weiterhin ist gerade die Anonymität des Sozialstaates ein Vorteil wenn es um faire Behandlung geht. Stellen wir uns den Fall vor, dass ein Mensch in einem kleinen Dorf Hunger leidet und auf die Hilfe der anderen Dorfbewohner angewiesen ist. Nicht nur ist er dann der Gefahr ausgesetzt, Teil patrimonialer Strukturen zu werden, etwa indem er bei dorfinternen Zwisten diejenigen unterstützen muss, die ihm sein Brot schenken, er wird u.U. auch weniger engagiert Hilfe erfahren, wenn er in der Vergangenheit unangenehm aufgefallen ist, sei es durch eine abweichende politische Meinung, unkonventionelle sexuelle Orientierung, abweichende religiöse bzw. nichtreligiöse Ansichten o.ä., also alles Sachen, die erstmal bei der Frage seiner Hilfsbedürftigkeit überhaupt keine Rolle spielen dürften, die aber bekanntlich idealer Nährboden für den kleingeistigen Tratsch ist, der in überschaubaren Communities meist irgendwie dazugehört. Es gibt gerade da immer irgendwelche Lästermäuler, die Stimmung gegen irgendwen oder irgendwas machen, einfach, weil sie es können. In einem institutionell gereiften Sozialstaat kann man solchen Tendenzen effektiver aus dem Weg gehen und hat im Zweifel rechtliche Ansprüche, die man vor einem im Vergleich zum Dorfältesten deutlich unvoreingenommeren Gericht einklagen kann.

provinzler hat geschrieben:Wir Menschen sind darauf ausgelegt Gruppen zu überschauen, die vielleicht aus ein paar hundert Leuten, also der eigenen Sippe und der unmittelbaren Nachbarschaft bestehen, alles andre geht uns tendenziell im Zweifel ziemlich am Arsch vorbei. Sobald ein Konstrukt über diese Größenordnung hinausgeht, kann unter bestimmten Umständen die gegenseitige soziale Kontrolle massiv abnehmen. Der Sozialstaat versucht, Grundüberlegungen aus einer Familienstruktur (gegenseitige Hilfe) in ein viele Dimensionen größeres System zu übertragen, was aus meiner Sicht zum Scheitern verurteilt ist, weil die soziale KOntrolle fehlt.

Hochgefühle beim Sex haben sich evolutionär erstmal aufgrund wahrscheinlicherer Nachkommenproduktion entwickelt, dass man einfach aus Spaß an der Freude miteinander schlafen kann, war ursprünglich nicht "Sinn" der Sache - trotzdem tun wir es mittlerweile zum übergroßen Teil deshalb und sind, wenn man sich z.B. Bonobos ansieht, nichtmal die einzigen, die ein evolutionär entwickeltes Werkzeug zweckentfremdet und in seiner Nutzung stark erweitert haben. Übrigens sind auch deine Beine eigentlich nicht so richtig für den aufrechten Gang geeignet und, wenn ich mich recht erinnere, ist unser Mund entwicklungsgeschichtlich eigentlich unser Hint... aber lassen wir das. Entscheidend ist, dass es evolutionär völlig normal ist, dass bestimmte Fähigkeiten für andere Zwecke benutzt werden, als denen, denen sie zu einem früheren Zeitpunkt dienten. Zu sagen, dass wir es gleich bleiben lassen sollen, weil wir evolutionär dafür nicht gemacht sind, ist eine Missachtung der Dynamik der Evolution. Würde die Natur tatsächlich so statisch funktionieren, hätten wir heute noch nichtmal schwere Atome im Universum.

Natürlich ist die soziale Kontrolle in einer Gesellschaft nicht mehr mit der in einer Kleingruppe zu vergleichen. Das ist aber auch nicht so schlimm, weil sie zum einen dennoch existiert, nur eben anders funktioiert, und weil Kleingruppen zum anderen nicht automatisch gesündere Strukturen aufweisen, sondern anfällig für andere Dysfunktionalitäten sind, in einer Weise übrigens, die manchmal das Eingreifen höherer Instanzen erfordert, etwa, wenn "die Gesellschaft" einem prügelnden Elternpaar das Kind wegnehmen muss, damit es nicht stirbt. Soziale Kontrolle hat viele Dimensionen, die direkte Konfrontation von Angesicht zu Angesicht ist eine wichtige Form davon, aber eben nicht die einzige, und schon gar nicht setzt sie automatisch das gegenseitige Kennen voraus. Manchmal ist soziale Kontrolle durch eine neutrale Drittperson sogar wesentlich effektiver.

provinzler hat geschrieben:Dann wird normalerweise versucht, die fehlende soziale Kontrolle durch bürokratische Vorschriften zu ersetzen, wodurch eine Art "Helferindustrie" entsteht, die ihre eigene Existenz rechtfertigen muss, weshalb immer neue Probleme erfunden werden müssen.

Jetzt mal etwas bissig gesagt: Als weißer mitteleuropäischer Mann aus einer wirtschaftlich prosperierenden Region, gesegnet mit Bildung, Intelligenz und einem vielversprechenden Karrierepfad, tust du dich schon eher leicht, solche Sachen zu behaupten. Ist es nicht ein bisschen engstirnig zu behaupten, dass gesellschaftliche Probleme nur eingebildet und aus raffgieriger Absicht erfunden sind, wenn man selbst von kaum einem dieser Probleme betroffen war? Wie willst du z.B. ernsthaft sagen können, dass Frauen nicht beruflich benachteiligt werden, wenn du als Mann in einem männerlastigen Studiengang und aus einer konservativ geprägten Region kommend im Prinzip keinerlei persönliche Erfahrung mit dem Problem hast, weil es weder in deiner Alltagsrealität noch im Denken deiner Herkunftscommunity existiert (bzw. vielleicht sogar: "existieren darf")?
Probleme gehen, egal, was du sagst, nicht dadurch weg, dass man Menschen mit ihnen alleine lässt und behauptet, mit genug Druck würden sie sich schon veranlasst sehen, diese Probleme selbst zu lösen. Wir hatten diesen Streitpunkt schon öfter: Du schließt hier viel zu sehr von dir auf andere. Die Tatsache, dass du in einer problematischen Situation lösungsorientiert und besonnen handeln würdest, hat mehr damit zu tun, dass du durch deinen Grips und deine soziale Herkunft zu solchem Denken befähigt bist. Damit sage ich nicht, dass Druck zur Eigenverantwortung bei Hilfsbedürftigen nicht fruchten kann, aber wenn dieser Druck unreguliert und unzielgerichtet auf die Betroffenen trifft, entstehen nicht zwangsläufig soziale Verantwortung und soziale Kontrolle, sondern genauso gut auch Chaos, Kriminalität und Entsolidarisierung. Die verbreiteten mafiösen Strukturen in den Elendsvierteln der Welt sind ein gutes Beispiel.

Es existieren soziale Probleme, die in einer Gesellschaft eben nicht dadurch weggehen, dass man alles seinen "natürlichen" Gang gehen lässt, schon deshalb nicht, weil es diesen natürlichen Gang ja gar nicht gibt. Und es ist sicher nicht immer das produktivste, die Lösung dieser Probleme Leuten zu überlassen, die am kompletten Verschwinden des Problemkomplexes kein wirtschaftliches Interesse haben, aber es ist schonmal deutlich weiter als die Haltung, die Probleme zu verleugnen.

provinzler hat geschrieben:Vor die Wahl gestellt, werden die meisten Menschen (nehme mich da nicht im Geringsten aus) also immer dazu tendieren, sich Geld von denen zu holen, die irgendwie eine anonyme Masse bilden (der Staat). Fällt das weg, steigt automatisch wieder die Notwendigkeit und Bereitschaft an direkter Unterstützung innerhalb der lokalen sozialen Netzwerke.

Beides sind mögliche Versorgungssysteme, aber so automatisch besser ist das kleine Netzwerk nicht zwangsläufig, auch ökonomisch nicht. Je nach Sozialstruktur können auch in kleinen Communities die Reibungsverluste extrem sein, etwa, wenn diejenigen, die über die Fähigkeit zum Helfen verfügen, den Hilfsbedürftigen als Bedingung für die Hilfsgewährung ökonomisch unsinnige Bedingungen auferlegen. Das kann natürlich auch im Sozialstaat geschehen, aber das Entscheidende ist, dass keines der beiden Netzwerke dem anderen gegenüber einen natürlichen strukturellen Vorteil besäße, was das Produzieren kluger Entscheidungen angeht. Auch das Umsteuern ist in kleinen Netzwerken nicht zwangsläufig einfacher. Wie viele kleine Familienbetriebe sind schon kaputtgegangen, weil der Patriarch selbstzufrieden meinte, in seinem fortgeschrittenen Alter würde seine Erfahrung jede technische Innvation ausstechen? Und wie viele Leute versauern recht freiheitslos in erstarrten Familienstrukturen vor sich hin, weil sie von der wirtschaftlichen Unterstützung der Verwandten abhängig sind? Gerade da, wo der Staat eben dem Individuum eben nicht anonym und neutral weiterhilft, gibt es solche sozialen Erscheinungen (einfach mal in die arabische Welt schauen, wo der Staat meist schwach und die Familie stark ist und wo Freiheit allenfalls als frommer Wunsch gebildeter Demonstranten existiert, die im staatlichen (!) Universitätssystem sozialisiert wurden). Anonymität macht eben auch frei. Dass "ihr" Libertären derart auf diese verkrustungs- und nepotismusanfälligen Clanstrukturen setzt, deren soziale Kontrollmechanismen nicht selten im overdrive arbeiten und krass freiheitseinschränkend wirken, war mir wirklich schon immer ein Rätsel. Und mit Voluntarismus haben familiäre Zwangsstrukturen ungefähr so viel zu tun wie staatliche Zwangsstrukturen: Gar nichts.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon provinzler » Fr 5. Okt 2012, 09:12

Nanna hat geschrieben:Das ist ungefähr so sinnvoll, wie zu sagen, dass der Mensch eine evolutionäre Anomalie ist. Der Begriff "normalerweise" ist hier nicht sinnvoll, weil ein naturalistischer Fehlschluss. Bei Sozialstrukturen gibt es keinen natürlichen Normalfall, der "so sein soll", es gibt nur unterschiedliche Konzepte, die ihre eigenen Dynamiken entfalten, die sich in bestimmten historischen Kontexten negativ, positiv oder, wie meistens, beides zugleich, auswirken.

War vielleicht unglücklich formuliert. Ich hätte vielleicht schreiben sollen, dass die Erfahrungen mit ausgedehnten Wohlfahrtsstaatsstrukturen nur eine sehr geringe Zeitspanne in der Geschichte der Menschheit umfassen. Wir können als bei der Betrachtung dieser Frage nur auf sehr kleine und überdies überaus lückenhafte Datenbasis stützen. Anreizstrukturen ändern ja das Verhalten nur selten von heute auf morgen, vor allem da sich die Rahmenbedingungen ja nur selten schlagartig, sondern meist ebenfalls graduell ändern. Der Ressourcenanteil der Volkswirtschaft, der in die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates geht, ist den letzten 13 Dekaden eigentlich permanent gestiegen. Und das wird nicht so weitergehen können. Die ersten sprechen inzwischen (nicht ganz zu Unrecht) von einer "government bubble", die irgendwann platzen wird.


Was nun genau als fair empfunden wird, ist wiederum eine höchst subjektive Angelegenheit. Und was Dorfzwistigkeiten angeht, da bin ich glaub ich mit ausreichender persönlicher Erfahrung gesegnet. Worauf ich hinaus wollte ist der Fakt, dass es den meisten wesentlich leichter ist, von einer diffusen Masse, deren größten Teil nie kennenlernen wird, Geld zu verlangen, als wenn man diesen Leuten regelmäßig begegnet.

Jetzt mal etwas bissig gesagt: Als weißer mitteleuropäischer Mann aus einer wirtschaftlich prosperierenden Region, gesegnet mit Bildung, Intelligenz und einem vielversprechenden Karrierepfad, tust du dich schon eher leicht, solche Sachen zu behaupten. Ist es nicht ein bisschen engstirnig zu behaupten, dass gesellschaftliche Probleme nur eingebildet und aus raffgieriger Absicht erfunden sind, wenn man selbst von kaum einem dieser Probleme betroffen war? Wie willst du z.B. ernsthaft sagen können, dass Frauen nicht beruflich benachteiligt werden, wenn du als Mann in einem männerlastigen Studiengang und aus einer konservativ geprägten Region kommend im Prinzip keinerlei persönliche Erfahrung mit dem Problem hast, weil es weder in deiner Alltagsrealität noch im Denken deiner Herkunftscommunity existiert (bzw. vielleicht sogar: "existieren darf")?

Ja, ich bin sowohl in globaler als auch in historischer Betrachtung ein verdammt priviligierter Mensch und als solcher sehe ich mich auch und weiß das, im Unterschied zu vielen, auch wertzuschätzen. Umso absurder finde ich, dass mich die hiesige Sozialbürokratie in der Rubrik "arm" führt und sich diverse Akteure der Politik und der Helferindustrie anmaßen in meinem Namen und Interesse als "armen Menschen" ihren Tätigkeitsbereich ausdehnen zu wollen. Dieses Problem hast du in verschiedensten Bereichen. Niemand rationalisiert sich gerne selber weg. Deshalb müssen sich ja auch die EU-Bürokraten immer neuen Unsinn ausdenken, weil sie sonst überflüssig würde. Menschlich absolut rational und verständlich. Im Gesamtkontext allerdings nicht dauerhaft tragbar, auch wenn das für viele Jahre oder etliche Jahrzehnte gut gehen mag.

Ich bin übrigens in punkto Wohlfahrtstaat kein Radikaler auch wenn es mir manchmal Spaß macht den advocatus diaboli zu spielen. Ich bin aber ein starker Verfechter davon, sich nicht nur in der in Deutschland besonders beliebten Traumtänzerwelt zu bewegen, sondern auch deutlich Auswirkungen falscher Anreizstrukturen und inhärent dysfunktionaler Systeme (z.B. Ponzischemata) klar anzusprechen. Und man sollte nicht länger die armen Menschen in dieser Welt verhöhnen, in dem man Menschen wie mich, die zu den reichsten 20 % auf diesem Planeten gehören, faktenwidrig als arm deklariert.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon stine » Fr 5. Okt 2012, 09:54

provinzler hat geschrieben:Worauf ich hinaus wollte ist der Fakt, dass es den meisten wesentlich leichter ist, von einer diffusen Masse, deren größten Teil nie kennenlernen wird, Geld zu verlangen, als wenn man diesen Leuten regelmäßig begegnet.
provinzler hat geschrieben:Umso absurder finde ich, dass mich die hiesige Sozialbürokratie in der Rubrik "arm" führt und sich diverse Akteure der Politik und der Helferindustrie anmaßen in meinem Namen und Interesse als "armen Menschen" ihren Tätigkeitsbereich ausdehnen zu wollen.
Da sagst du was Wahres.
Ich denke, dass die Messlatte in unserem Land (und anderen hochzivilisierten Ländern) zur Zeit dermaßen hoch hängt, dass es nur ganz schwer ist, nicht als "arm" zu gelten.
Es ist auch schwer nachzuvollziehen, wieso Hilfeempfänger sich nicht in der Gemeinde nützlich machen sollten. Jede Dienstleistung muss in einer Gemeinde hinzugekauft werden, obgleich manch kräftiger Hilfeempfänger sich zu Hause langweilen muss. Es wäre doch eine schöne Gegenleistung an die Gemeinden, wenn sich einige Hilfeempfänger ehrenamtlich zu einem Dienst verpflichten könnten.

Ich kann das gut nachvollziehen, wie @provinzler schreibt, dass Anonymität dem Mitnahmeverhalten förderlich ist, verstehe aber auch @Nanna, der kontert, dass ohne Anonymität der Missgunst und dem Unverständnis Vorschub geleistet wird. Allerdings ist es für mich auch kein menschliches Versagen, wenn das Verstänndnis für einen gewerbsmäßigen Sozialempfänger fehlt. Ich denke schon, dass sich gerade in einer kleineren Gemeinde der Hilfeempfänger eher genötigt sieht, mal eine Schneeschaufel in die Hand zu nehmen, als im riesigen Berlin, wo er unbekannterweise in seiner Bude vegetiert. Es schadet auch niemanden, sich nützlich zu machen.

Auf der anderen Seite beschäftigt mich aber auch die Feststellung immer mehr, dass die Messlatte überhaupt so hoch aufgehängt ist. Warum so frag ich mich, MÜSSEN wir alle fleißig sein und reich werden? Ist das nicht auch eine Entscheidung, die jeder für sich treffen mag? Manche kommen eben mit weniger aus und benötigen nur ein Bruchteil dessen zum Leben, was andere sich als Mindestbesitzanspruch vorstellen.
Ich verstehe auch nicht, warum alle Menschen, rund um den Erdball so leben sollen, wie wir das tun? Was steckt wirklich dahinter? Ist es echtes Mitleid oder eher die Furcht, dass die "dummen" Analphabeten" irgendwann mal die Erde übervölkern, weil sie nichts anderes mit Erfolg tun können, als Kinderkriegen? Ist es unser Absatzmarkt, der nur bedient werden kann, wenn die Menschen global in der Lage sind ein deutsches Auto zu fahren?
Wer oder was treibt die Menschen eigentlich ständig an? Und ist unsere westliche Welt nicht schon längst überzivilisiert?
Wirklich "frei" ist Mensch doch erst, wenn er seinen Lebensumsatz selbst bestimmen darf.

LG stine
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Vollbreit » Fr 5. Okt 2012, 10:50

Das ist wieder so ein Thema, wo man schön illustrieren kann, dass es nicht eine Wahrheit gibt.
Denn tatsächlich habt ihr (aus meiner Sicht) alle recht.

Nanna, wenn er darauf hinweist, dass man relative Armut mit dem Totschlagargument, dass doch in Afrika Kinder verhungern nicht verniedlichen sollte, provinzler, wenn er darauf hinweist, dass dennoch für viele Afrikaner Hartz 4, was hier oft als würdelose Existenz bezeichnet wird, das Paradies auf Erden ist und zwar buchstäblich und stine, wenn sie die Überzivilisation kritisiert, wo ich raushöre, dass wir das Grundlegende mehr wertschätzen sollten.

Vielleicht ist das aber gar nicht überzivilisiert, sondern, unter- oder falsch zivilisiert, denn man kann (siehe provinzler) den privilegierten Status, den man hier genießt auch wertschätzen, das ist für mich eher ein Frage des Reflexionsvermögens als der erlebten Armut.

Dass imperialistische Tendenzen bezüglich unserer Lebensweise bestehen, ist unschwer zu beobachten, wie man sie als Naturalist legitimieren will ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten, das will mir nicht in den Sinn.

Wie kann man ernsthaft versuchen anderen beim Verzicht auf gut/böse oder besser/schlechter erklären, warum sie so leben sollten, wie wir, wo doch alles nur anders ist und die Evolution, der wie ja angeblich alle unterliegen, kein Telos kennt?

Wie kann man an die evolutionäre Überlegenheit des eigenen Ansatzes glauben, wenn man es nicht mehr schafft sich aus eigener Kraft zu reproduzieren, was für einen eklatanten Fitnessverlust spricht?

Wie kann man gegen Religionen polemisieren, wo so evolutionistisch betrachtet, das weltweit erfolgreichste Reproduktionssystem darstellt?

Wie erklärt man das radipe Anwachsen von Depressionen, Selbstmorden und Suchtverhalten unserer Gesellschaft? 25% aller älteren Leute haben ein Alkoholproblem. Reicht da der Hinweis, dass wir auch Antidepressiva produzieren und Suchtkliniken haben?

Ich glaube, dass eine Gesellschaft frei von Aggressionen eine Utopie ist, da Aggression zum Inventar des Menschen gehört:
Sigmund Freud hat geschrieben:Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung von Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu misshandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muss sich in Feinseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuss teilnehmen lässt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen seinen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen. Ich habe nichts mit der wirtschaftlichen Kritik des kommunistischen Systems zu tun, ich kann nicht untersuchen, ob die Abschaffung des privaten Eigentums zweckdienlich und vorteilhaft ist. Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen. Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiss ein starkes und gewiss nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluss, welche die Aggression für ihre Absichten missbraucht, daran hat man nichts geändert, auch ein ihrem Wesen nichts. Sie ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in Urzeiten, als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigt sich bereits in der Kinderstube, kaum dass das Eigentum seine anale Urform aufgegeben hat, bildet den Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen unter den Menschen, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mitter zu ihrem männlichen Kind. Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt doch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Missgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muss. Hebt man auch dieses auf, durch die völlige Befreiung des Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so lässt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, dass der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird.
(Freud, Das Unbehagen in der Kultur, (V), [1929]1930, Studienausgabe Fischer TB 2000, S.242)


Insofern lege ich den Fokus auch immer auf Eigenverantwortung, wobei ich die Errungenschaften unseres Sozialstaates zu schätzen weiß und nicht verramscht wissen möchte. Eine Art sie zu verramschen ist sicher eine zu starke neoliberale Ausrichtung die, allerdings bin ich auch der Meinung, dass man sich zu Tode alimentieren kann.
Eigenverantwortung bedeutet also für mich nicht, dass jeder sich selbst der Nächste ist und man auf die anderen pfeift, sondern, dass man für sich selbst Sorge trägt so gut es geht, um anderen gerade dadurch effektiv dienen zu können. Das wäre eine (gröbste) Skizze meiner Utopie.

Ich denke aber, dass zwischen beiden Extremen ein breiter Raum an Lebenswertem und Lebensmöglichem existiert, für den es sich zu kämpfen lohnt und sei es nur um einige Jahrzehnte zu gewinnen. Ein Raum von Recht und Moral und m.E. ein Raum in dem Atheisten und Religiöse kooperieren müssen, was den Intelligenteren beide Fraktionen ja längst klar ist.

Gesellschaft heißt immer Zwang, heißt immer Triebaufschub und das eigene Wollen ein Stück weit zu kontrollieren. Der Lohn den man erhält, ist, dass man den Status als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zugesprochen bekommt. Ob der Lohn sich für jeden lohnt, muss man selbst entscheiden dürfen.
Es heißt aber auch, dass dieser Zwang im Dienste der individuellen Freiheit steht, eines geschützten Raumes der Privatsphäre und der Möglichkeit sich weitgehend frei zu entfalten.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon provinzler » Fr 5. Okt 2012, 11:00

stine hat geschrieben:Da sagst du was Wahres.
Ich denke, dass die Messlatte in unserem Land (und anderen hochzivilisierten Ländern) zur Zeit dermaßen hoch hängt, dass es nur ganz schwer ist, nicht als "arm" zu gelten.

Ganz so arg ist es dann auch wieder nicht. Ein alleinstehender Mensch gilt hierzulande als arm, wenn er weniger als 930 € im Monat zur Verfügung hat. Mir kann niemand erzählen, dass man mit dem Betrag in aktueller Kaufkraft irgendeinen Mangel leidet.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon provinzler » Fr 5. Okt 2012, 11:22

@Vollbreit
Du brauchst gar nicht nach Afrika. Du brauchst dich bloß in der EU umzugucken. Rumänien oder Bulgarien. Das Hartz4-Einkommen ist deutlich mehr als das Gehalt eines Gymnasiallehrers in Rumänien. Und wie mir berichtet wurde, fahren in den ländlichen Gebieten BUlgariens wesentlich mehr Eselskarren als Autos durch die Gegend.

Wir haben hierzulande eine Anspruchsdenken in Kategorien eines "das steht mir zu" entwickelt, das auf die Dauer nicht tragfähig sein wird. Erschreckend vielen Menschen ist nicht einmal mehr klar, dass die an sie verteilten Ressourcen auch irgendwo erwirtschaftet und irgendjemanden abgenommen werden müssen.

Wie man bei hiesigen Staatsquoten allerdings auf die Idee kommt von "Neoliberalismus" zu sprechen, werde ich nie begreifen.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon stine » Fr 5. Okt 2012, 13:35

provinzler hat geschrieben:Wie man bei hiesigen Staatsquoten allerdings auf die Idee kommt von "Neoliberalismus" zu sprechen, werde ich nie begreifen.
Ich auch nicht.
Die Robin Hoods dieser Welt haben halt nichts anderes gelernt und müssen ihrer Bestimmung folgen.

:mg: stine
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Frankfurter Animus » Fr 5. Okt 2012, 14:46

provinzler hat geschrieben:Diese Frage ist deswegen schwer zu beantworten, weil die Sozialstaaten in ihrer heutigen Ausprägung eine historische Anomalie sind.


Grüß dich provinzler,

die gegenwärtigen Sozialstaaten repräsentieren eher eine historische Evolution ihrer jeweiligen Kultur; die demokratisch beschlossene Ausweitung der gesellschaftlichen Hilfe ist darüber hinaus positiv, wenn die Wählerschaft mehrheitlich eine fiskal- und ethisch-vernünftige Politik unterstützt. Der Wohlfahrtsstaat gehört so gesehen zu den Errungenschaften des vorangegangenen Jahrhunderts und deine Einschätzung von eben diesem fällt deshalb zu negativ aus.

Wahrscheinlich stimmen wir dafür überein, dass staatliche Hilfe schädlich für eine dann Nation ist, sofern sie auf dämlich-opportunistischen, politischen Entscheidungen beruht. Beispiel Griechenland, wo unverheiratete oder geschiedene Töchter die Rente beider Eltern zusteht, wenn diese verstorben sind und im öffentlichen Dienst tätig waren; ob diese Frauen selbst arbeitstätig sind spielt dabei keine Rolle und kostet dem Staat jährlich 550.000.000€.
(Quelle: http://reut.rs/hJqsAF)

MfG
Oliver
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon provinzler » Fr 5. Okt 2012, 16:09

Ich glaube gern, dass viele das so sehen. Andre sehen das aus der Perspektive, dass hier vieles überzogen wurde, und korrigiert werden muss. Eben eine "government bubble". In den USA sind vor 2007 die Hauspreise über mehrere Jahrzehnte immer weiter gestiegen und die Amerikaner konnten sich gar nicht vorstellen, dass Hauspreise auch sinken können. In der Erinnerung der meisten Menschen gab es nur steigende Hauspreise (Platzen der letzten Blase ca. 1926). Ähnliches hatte man zwischen 1982-2000 für den Aktienmarkt. Dass die Preise stiegen war ja dabei sogar berechtigt, nur wurden die Relation im Vergleich zum Sozialprodukt immer unhaltbarer. Und ähnliches erleben wir nach Meinung mancher im Regierungssektor. Die Staatsquote in D betrug vor 1914 unter 10%.
Der Staat ist weit schneller gewachsen, als die Wirtschaft, die ihn ernähren muss. Und das kann nicht endlos so weiter gehen, zumal sich durch die Anreizstrukturen nun starke negative Rückkopplungen im System ergeben, die negative Auswirkungen auf die Größe des Gesamtkuchens haben. Und diese Rückkopplungen werden in der öffentlichen Diskussion in der Regel systematisch außen vor gelassen.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon emporda » Fr 5. Okt 2012, 20:48

provinzler hat geschrieben:Der Staat ist weit schneller gewachsen, als die Wirtschaft, die ihn ernähren muss. Und das kann nicht endlos so weiter gehen, zumal sich durch die Anreizstrukturen nun starke negative Rückkopplungen im System ergeben, die negative Auswirkungen auf die Größe des Gesamtkuchens haben. Und diese Rückkopplungen werden in der öffentlichen Diskussion in der Regel systematisch außen vor gelassen.
Der Staat ist weder gewachsen noch ernährt ihn irgendwer. Der Staat ist das Volk durch seine gewählten Vertreter.

Der Anfang in den USA war das republikanische Reagan Gesetz der "Low Prime Credits" der 80er Jahre, das jedem ohne Nachweis von Einkommen und Vermögen erlaubte ein Haus zu kaufen und es zu 100% durch Kredite zu finanzieren. Das schuf vordergründig viele Arbeitsplätze im Bauwesen und damit Aufschwung auf Pump. Solange nur wenige Häuslebauer pleite gingen und die Banken auf wenigen Häusern sitzen blieben, solange war alles ok und das Schneeballsystem funktionierte. Als monatlich über 250.000 Zwangsversteigerungen von Kreditnehmern anfielen, die keine Raten mehr zahlen konnten, implodierte die Seifenblase.

Das Problem in Spanien war ähnlich und durchaus vergleichbar, sieht man davon ab, dass die Mehrheit der Käufer Nordlichter waren. Auch hier lagen an jedem Bankschalter die Reklamen aus, die eine sichere 100% Finanzierung versprachen und verschwiegen, das gut 33% eines Objektes als Kosten von Gebühren, Genehmigungen und Steuern nicht verkaufbar sind. Jetzt haben 2 Immobielienkonzerne Insolvenz angemeldet. Die haben vor etwa 2 Jahren versucht mit einem 1.6 Milliarden € Kredit die Flaute zu überstehehn und 4 Banken (3 in Spanien, 1 in England) hängen jetzt mit jeweils 250 - 400 Millionen € an faulen Krediten in der Luft. Würde die Bank das Ausfall-Risisko voll versichern, dann gäbe es nur Kredite über 10% Zinsen

Deine Träumereien von "negativer Rückkopplung" und "Gesamtkuchen" sind volkswirtschaftliche Kindergarten Argumente
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon provinzler » Fr 5. Okt 2012, 23:20

Vergleiche die Staatsquoten heute und vor 100 Jahren, da wirst du Wachstumsraten feststellen, die höher sind als diejenigen der Wirtschaft als ganzes.

Die entsprechenden Gesetzgebungen in den USA gingen schon vor Reagan los, und wurden dann im Laufe der Zeit bis in die Regierung Bush jun. immer wieder verschärft.
Die Möglichkeit, diese Junkkredite bündeln und weiterverkaufen zu können, um das Risiko aus den eigenen Bilanzen zu kriegen, sowie ein wahnwitzig niedriges Zinsniveau und Regierungsgarantien via Fannie Mae und Freddie Mac haben auch ihren Anteil beigetragen.
Das ist doch eigentlich ein hervorragendes Beispiel über negative Rückkopplung von Aktionen zentraler Regierungsplaner, die möglicherweise sogar gut gemeint waren. Die geschaffenen Anreizstrukturen schufen erst die Probleme in diesem Ausmaß. Falsche Anreizstrukturen bringen auf Dauer unerwünschte Ergebnisse zu Tage, auch wenn viele Traumtänzer das gerne ignorieren.

Ich bin übrigens ganz marktwirtschaftlich dafür Pleitebanken abzuwickeln. Ein ganz wichtiger Prozess, denn sonst tritt einmal mehr der Effekt des Moral Hazard auf.
Und von den Auswirkungen der spanischen "burbuja" konnte ich mich vor Ort unlängst mit eigenen Augen ausgiebig überzeugen...

Kein Staat dieser Welt kann mehr umverteilen als vorher produziert wurde, spätestens bei 100% ist mathematisch SChluss.
Zuletzt geändert von provinzler am Fr 5. Okt 2012, 23:52, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Voluntarismus - Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang (?)

Beitragvon Gandalf » Fr 5. Okt 2012, 23:21

Lumen hat geschrieben:Aus der FAQ der verlinkten Seite:

Wer kümmert sich um die Bedürftigen, wenn es keinen Staat mehr gibt? (...) Empirische Daten bestätigen diese fast triviale Vermutung: In Ländern mit traditionsgemäß geringerer staatlicher Wohlfahrt ist das freiwillige Engagement für die Wohlfahrt deutlich ausgeprägter. Amerika ist immer noch ein gutes Beispiel


In genau diesem Punkt ist die USA hoch dysfunktional. Bei Spenden und bei bestimmten Organisationsformen gibt es außerdem große Steuervorteile.


..ja, das würde Dir passen, private Hilfeleistungen und Spenden der Menschen untereinander zu besteuern, um diese zu unterdrücken, dann Heerscharen von Soziologen erklären können, wie nützlich der Staat und Ihr Job doch ist, wenn "das Schutzgeld", das zuvor abgeprsst wurde teilweise dann doch von Ihnen wieder unters Volk gebracht wird. (Übrigens geschieht genau das zur Zeit in unserer Gesellschaft. Die Auflagen, Bestimmungen und steuerlichen Gesetze, Versicherungsfragen bis hin zur GEZ und GEMA machen es kleinen Vereinen zunehmend unmöglich etas zu bewegen. Es braucht nur angedeutet zu werden, dass man "dabei nicht versichert sei" und der "Vorstand in die Haftung" genommen wird, - was früher nie eine große Frage war, wenn man gemeinnützige Arbeit leistete)

Und wo bitte ist die USA "hoch dysfunktional"? Ich habe noch nie etwas davon gehört, das die Menschen aus den USA vor der Armut fliehen, wei es z.B. bei europäischen Ländern mit staatlichen Sozialsystemen der Fall ist!? Auch während meiner Aufenthalte in den USA (die schon länger zurück liegen) fand ich immer wieder beeindruckend, was gerade auch für Behinderte getan wird und wie selbstverständlich diese in der Gesellschaft integriert sind. Da sind wir heute teilweise noch immer nicht so weit. Es war schon manchmal richtig lästig, wenn im "Pizza-Hut" wieder so ein "Pfadfinder-Tag" angesagt war, an dem sämtliche Einahmen (und noch mehr Trinkgelder) für den "guten Zweck" eingesammelt wurden. Regelrcht faszinierend, war es, wenn z.B. in "Disneyworld" auf einem "Freeefall-Tower" ganze Sitzreihen durch eine Armade von Helfern ausgebaut wurde, um z.B. Platz für Rollstuhlfaher zu machen, die ganz selbstverständlich in der Reihe mit anstanden (man stelle sich das in einem unserer Vergnügungsparks vor)

Was z.B. 'höchst dysfunktional' in den USA war, waren die 'Anti-Diskriminierungsgesetze', die letzlich die Immoblienkrise und die Finanzkrise auslösten. Auf Grund von solchen Gesetzen mussten HausbauKredite von den Banken nach einer Quote auch in "dysfunktionale Gegenden" abgesetzt werden. Nun, dei Häsuser wurde n dort gebautund die Kreedite bverbrieft - wo sie gelandet sind wissen wir: In 'unserer Kasse zur Altersvorsorge'. Die Häsuer selbst stehen heute zum großen Teil nicht mehr, da sie "ausgekernt" wurden und z.B. das Kupfer von Leitungskabeln zu Drogen umgesetzt wurde. - Und trotzdem schlagen sich die Menschen dort weiterhin durch und verzichten auf staatliche Hilfe, die sie als Gängelung empfinden.

Und was gäbe es denn für eine Alternative?

Unser Sozialsystem, wie es ich gerade in Berlin "verselbständigt"? 100.000 Euro-Autos mit H4 als Grundsicherung? Vielweiberei auf Kosten des Gesellschaft? Abi für lau? (mit JOb und Geahaltsgarantie auf mindestens "A13")
Ist das dann nach Deiner lesart "funktional"?

Lumen hat geschrieben: Ich frage mich bei der Situation, was zum Beispiel eine Stadt voller Obdachloser (wie San Francisco) denn machen soll? Wo könnten die in einem "freien" System hingehen, wo bekommen die ein Feld her, was sie bestellen können? Woher kommen die Maschinen, die sie für die Produktion brauchen? In welchem Wald können sie ihre Nahrung erjagen?


Da die Menschen dort nicht weggehen - und trotzdem nicht verhungern, - kann es sein das diese "Horrorszenario" möglicherweise gar nicht in dieser Form existiert - und nur von unseren druchwegs linkspopulistischen mainstream-Medien so "berichtet" wird?
Lumen hat geschrieben:In Wahrheit sind diese Vorschläge doch Augenwischer und Trickserei. Es ist die Herrschaft der Besitzenden, bei denen dann der Rest "freiwillig" arbeiten darf (zu jeweils niedrigsten Löhnen und Konditionen). Die "Freiheit" die da propagiert ist, ist genau jene Freiheit, die Unzufriedene jetzt haben, sich doch einen anderen Flecken Erde zu suchen! Das größte Problem wird also nicht behoben, dafür werden Betroffene noch schlechter gestellt. Und damit geht auch die Argumentation in die Binsen, wonach Leute ja nicht gezwungen werden dürften, umzuziehen. Natürlich werden sie das, wenn sie von Land und Besitz umstellt sind, wo sie selbst keinen Gestaltungsspielraum haben. Wenn man nicht mal einen Apfel pflücken darf, weil der Baum jemanden gehört (und der angeheuerte Sicherheitsdienst diesen Besitz mit Waffengewalt "beschützen" darf), dann sind die Verhältnisse ziemlich deutlich schlechter als gegenwärtig.


.. ja und wenn Du Dir noch ein paar Horrorszenarien einredest und erträumst, dann fange ich auch noch das weinen an... :(


Vollbreit hat geschrieben:Wie erklärt man das radipe Anwachsen von Depressionen, Selbstmorden und Suchtverhalten unserer Gesellschaft? 25% aller älteren Leute haben ein Alkoholproblem. Reicht da der Hinweis, dass wir auch Antidepressiva produzieren und Suchtkliniken haben?


..vlt. (auch) weil man dem Menschen (..= das Wesen auf der Scuhe nach dem Sinn) immer merh Verantwortung für ihr eigenes Leben staatlicherseits abzunehmen sucht und sie keinen Sinn mehr in irgendwas finden können?
Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, dass eine Gesellschaft frei von Aggressionen eine Utopie ist, da Aggression zum Inventar des Menschen gehört:


Das Thema lautet "..frei von Gewalt" - und nicht "Aggression" (die manchmal sehr sinnvoll sein kann, wenn etwas neues zu beginnen ist, - so wie z.B. in der Natur im Frühjahr die "Bäume ausschlagen" und Muttter Erde von Keimlingen "durchbohrt" wird)
Zuletzt geändert von Nanna am Sa 6. Okt 2012, 01:39, insgesamt 1-mal geändert.
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