provinzler hat geschrieben:Es geht doch nicht nur um die Vergangenheit, sondern ganz erheblich auch um die Gegenwart. Saddam wurde von den Amis aufgebaut und dann abgeschossen. Das gleiche gilt für die Taliban, Mubarak, Gaddafi, diverse Machthaber im Iran und anderswo.
Das ist die Theorie des Nahen Ostens als sog. penetrated system, das zwar nicht formal unter kolonialer Herrschaft steht, aber über eine Kooptierung der Eliten informell imperial durchdrungen ist. Da ist zumindest teilweise sicher etwas dran, keine Frage. Allerdings ist das meines Erachtens auch eine etwas bequeme Antwort. Gerade die Misserfolge in Afghanistan und im Irak zeigen, dass es eben doch nicht so einfach ist für eine westliche Macht, einfach mal neue Machthaber "aufzubauen". Länder und Gesellschaften haben ein Eigenleben, da drehen auch die angeblich übermächtigen USA nichts dran. Klar war gerade Saddam Hussein in den 1980ern stark von den USA gelenkt, aber das betraf sicher nicht die Frage, ob das Bildungssystem zu reformieren sei. Zudem ist das Öl nicht immer der einzige Grund. Der Iran beispielsweise wurde in den 1960ern und 70ern ja v.a. als Puffermacht gegen die Sovjetunion aufgebaut und wurde dann nach 1979 zum Risiko, das man dann versuchte, mit Hilfe des Iraks zu bekämpfen. Das hat viel unsägliches Leid verursacht, keine Frage. Jetzt aber zu behaupten, die USA seien schuld daran, dass im Iran die Verrückten regieren, halte ich dennoch für zu kurz gegriffen. Das entlässt die dortige Gesellschaft aus der Pflicht, sich selbst zu reformieren, zumal die Frage ist, was der Westen denn heute tun soll. Eine Normalisierung der Beziehungen wird ja permanent von iranischer Seite abgelehnt. Im Irak kämpfen Sunniten gegen Schiiten, daran mag der Westen seinen Anteil haben, aber es zwingt die nun momentan wirklich keiner dazu, das zu tun.
Ich sage hier nicht, dass der Westen nicht gehörig mitgespielt hat, aber es ist auch bequem, sich auf Schuldzuweisungen nach außen hin auszuruhen. Genau dieses Zelebrieren der Opfermentalität führt ja zu nichts. Es wird niemand für diese Gesellschaften aufräumen, dass müssen die schon selbst hinkriegen. Die Flüchtlingscamps der Palästinenser, die seit Jahrzehnten in erbärmlichen Zuständen sind und im wesentlichen durch westliche (!) Gelder zusammengehalten wurden und werden, sind so etwas, wo man sich fragt, warum die arabischen Bruderstaaten da nicht schon längst etwas getan haben. Und das hat der Westen, für dessen Verbündeten Israel diese Camps ein massives Problem darstellen, sicher nicht sabotiert, das ist eines der vielen Beispiele, wo sich diese Länder selbst aus dem Sumpf ziehen könnten und es einfach nicht tun.
provinzler hat geschrieben:Die Bevölkerung und ihre Rechte gingen seit jeher all den geopolitischen Mitspielern der Region komplett am Arsch vorbei, solang die Herrscher sich bequemten billiges Öl ranzuschaffen. Früher warens die Briten, heute halt die Amis und vereinzelt die Russen. Die dortigen Eliten haben kein Interesse an Veränderungen, der Westen auch nicht, also arbeitet man Hand in Hand zusammen.
Wenn man der Hegemon ist, kann man sich sowieso irgendwie nicht richtig verhalten. Exportiert man Demokratie, macht man's falsch, lässt man es bleiben, macht man's genauso falsch. Klar ist die aggressive Geopolitik ein Teil des Problems da, aber 15 Jahre Bürgerkrieg im Libanon beispielsweise zeigen, dass die Region es auch so hinkriegt, sich intern abzuschlachten, ohne dass irgendwelche geopolitischen Interessen im Spiel wären. Afghanistan hatte seine kriegerische Kultur auch schon vor dem Einmarsch der Sovjets. Weiter südlich, in Afrika, treten Kriege immer wieder in Gegenden auf, wo der Westen kein nennenswertes Interesse oder keinen ausreichenden Zugriff auch nur für theoretische Interventionen hat, Darfur oder Somalia etwa, aber auch Zentralafrika.
Es verwundert mich, dass gerade du, der immer so auf Eigenverantwortung setzt, bereit bist, den dortigen Gesellschaften so weitreichende Entschuldigungen auszustellen.
provinzler hat geschrieben:Nanna hat geschrieben: Es gibt genug andere Länder, die ähnliche imperialistische Schocks verdauen mussten, und ihre Probleme nicht laufend mit westlicher Sabotage erklären, darunter Indien, China und überhaupt viele Ex-Kolonien in Südostasien.
Ja, aber all diesen Ländern ist gemein, dass sie schon vor geraumer Zeit für die Geostrategen uninteressant wurden, und Zeit hatten, sich unbemerkt und ungestört selbst zu erneuern.
Das stimmt so nicht. Indien, in geringerem Maße auch China, haben sich der Imperialherrschaft durch eigenes Tun entledigt, nicht weil sie uninteressant geworden wären. Was sicherlich nachteilig für den Nahen Osten war, ist die geografische Nähe zu Europa, die einen Zugriff auch nach dem Zweiten Weltkrieg einfacher gestaltete. Trotzdem hat der arabische Raum nie in dem Maße gegen die Imperialherrschaft revoltiert, wie es in anderen Teilen der Welt der Fall war, u.a. eben in Indien. Keine Kolonialmacht kann sich halten, wenn das Volk geschlossen den Aufstand probt. Und ich erinnere daran, dass auch Indien kulturell und religiös äußerst zersplittert ist.
provinzler hat geschrieben:Für die Ölstaaten im Nahen und Mittleren Osten hingegen gilt das nicht. Wenn ich dich in der Vergangenheit ständig gepiesackt habe, und jetzt aber das Interesse verloren habe, dann kannst du dich irgendwann wieder selbst sortieren. Bist du aber in einer Position in der du mir nichts entgegensetzen kannst, nicht entkommen kannst, weil ich dich festhalte, und ich dich weiter piesacke und dich durch aushungern schwach genug halte, dass ich weiter im Vorteil bin, wird das massive psychische Auswirkungen haben, vermute ich mal. Wenn wir Pech haben, induzieren wir neue Täter-Opfer-Kreisläufe, wenn du deinen Unmut über dann an andren auslässt.
Ich denke, dass man vorsichtig sein sollte, Gesellschaften wie Personen zu behandeln. Natürlich ist die Ohnmachtserfahrung ein prägendes Erlebnis in der Geschichte dieser Länder.
Wie ich aber schon sagte, sind die Entwicklungen, die dorthin geführt haben, historisch auch zu einem signifikanten Teil selbstverschuldet. Man muss sich als Gesellschaft auch fragen, warum man überhaupt in die Lage gekommen ist, so unterlegen zu werden. Das war ja nicht zu allen Zeiten so. Der Niedergang der Wissenschaft und des rationalen Islams (
Mu'tazila) begann in der islamischen Welt schon um die vorletzte Jahrtausendwende herum. Seitdem ist der Nahe Osten im Griff hanbalitischer, sprich äußerst dogmatischer und traditionalistischer, Einflüsse. Das wurde im 19. Jahrhundert nochmal etwas besser, als der Westen als Vorbild angesehen wurde, änderte sich aber, wie gesagt, zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu kamen die erwähnten Jahrhunderte von Misswirtschaft, die zur selben Zeit der Infrastruktur den Todesstoß gab, als in Europa die Aufklärung den Turbo einlegte.
Was ich damit sagen will: Die traditionalistische, fortschrittshemmende Kultur geht teilweise deutlich weiter in der Geschichte des Nahen Ostens zurück als der westliche Einfluss überhaupt eine Rolle spielt. Ich leugne gar nicht, dass wir den Nahen Osten, wie den Rest der Welt, ganz schön ausgenommen haben.
Der krass-konservative wahhabitische Einfluss stammt aber aus Saudi-Arabien, das, wie ich bereits erwähnte, nie kolonial durchdrungen war und bis heute politisch und ökonomisch unabhängig ist. Der Wahhabismus stammt aus dem 18. Jahrhundert und hatte mit dem europäischen Imperialismus rein gar nichts zu tun, wenn überhaupt, wendete er sich gegen die osmanische Herrschaft. Das ist ein arabisches Eigengewächs.
provinzler hat geschrieben:Diese Staaten sind ungefähr so unabhängig wie Labormäuse. SObald einer nicht spurt (und etwa wie Saddam Öl gegen Euro statt Dollar verkaufen will), wird das Land zum Zentrum des Terrorismus erklärt und platt gemacht.
Das gilt auch für den Satellitenstaat Saudi-Arabien, dessen Herrscherhaus sich massiv selbst bereichert, aber für "den Westen" die Drecksarbeit erledigt.
Wirklich unabhängige Staaten gibts weltweit kaum eine Handvoll, die allermeisten hängen am Rockzipfel irgendeiner Großmacht oder sind Freiwild.
Saudi-Arabien ist kein Satellitenstaat, es ist reich, ökonomisch unabhängig, hat eine schlagkräftige Armee und die wahhabitische Herrschaft stützt sich nach wie vor auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Die Ölmilliarden kommen ja nicht nur dem Herrscherhaus zugute, die Saudis profitieren alle davon und nennenswerte Wünsche zur Reform der Gesellschaft gibt es da auch nicht. Bloß weil es eine Diktatur ist, muss sie nicht immer von Westens Gnaden sein.
Schau andersherum mal nach Südamerika: Jahrzehntelanger US-Einfluss, massive soziale Probleme, Drogen- und Bandenkriege... die haben den Hintern hochgekriegt und sich selber rausgekämpft, trotz Diktaturen und US-amerikanischen Militär- und Wirtschaftsinterventionen. Keiner bestreitet die schwierige Situation des Nahen Ostens, aber das Problem dort ist mehr eines der kulturellen Zersplitterung und einer Unfähigkeit, mal über den eigenen Schatten zu springen und mit den Andersdenkenden und Andersreligiösen zu reden. Es geht viel zu schnell nur darum, was man für die eigene Familie, den eigenen Stamm, die eigene Religionsgruppe rausschlagen kann. Gesamtgesellschaftlichen Frieden als Ziel... Fehlanzeige. Und das ist
auch ein Versagen der dortigen Gesellschaften.