Monokultur / Multikulti

Monokultur / Multikulti

Beitragvon xander1 » Sa 3. Dez 2011, 20:57

Hier ein sehr sensibles Thema, wegen der aktuellen Lage usw.
Sollte es in Deutschland mehr Multikulti geben oder mehr Monokultur?
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Darth Nefarius » Sa 3. Dez 2011, 21:41

Wieso sensibles Thema? Unter den Leuten hier denke ich nicht, dass Multikulti auf Gegenwehr stößt, zumal man doch selbst nicht zu einer Mehrheit gehört, die die eine Glaubensgemeinschaft ist, da wird man wahrscheinlich auch niemanden anderes außschließen wollen (es gibt natürlich auch noch andere gute Gründe). Schon aus biologischen Gründen ist eine höhere Diversität ein Garant für Anpassungsfähigkeit.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Nanna » Sa 3. Dez 2011, 22:58

Was verstehst du unter "Multikulti"?

Der Begriff ist, das deutest du ja selber an, ziemlich vermint. Unter anderem hängt das damit zusammen, dass es dutzende verschiedene Definitionen davon gibt, vom "Karneval der Kulturen", dem manch Naivling bei den Grünen Anfang der 80er nachhing bis hin zum nationalistischen Multikulturalismus, der in der intellektuellen Rechten in Frankreich kursiert und das segregierte Nebeneinander in sich homogener Kulturen vorsieht. Dazwischen gibt es ein breites Spektrum an mehr oder weniger konsistenten Konzepten, darunter neuere Ansätze in Richtung hybrider Kulturen und transnationaler Räume.

Wenn du jetzt die Frage stellst, ob es mehr oder weniger Multikulti geben soll, ist das eine Frage, die todsicher zu keinem Ergebnis führt, weil überhaupt nicht klar ist, wonach eigentlich gefragt wird. Deshalb meine Frage: Was verstehst du unter "Multikulti"?
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Lumen » Sa 3. Dez 2011, 23:24

Ich lehne Kulturalismus nach wie vor ab. Ob nun als Leitkultur oder als Multikulti. Es sollte jedem Menschen selbst überlassen bleiben, was sie aus ihrem Leben macht und aus welchem Angebot dabei geschöpft wird. Zwar haben Menschen die Neigung alles in Begriffe zu zerteilen, aber gerade Kulturen sind extrem fließend und vielschichtig. Der alte Fritz hatte es da schon auf den Punkt gebracht: "Jeder soll nach seiner Façon selig werden".
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Nanna » Sa 3. Dez 2011, 23:52

Fragt sich, ob du damit nicht die Augen vor gewissen Realitäten verschließt bzw. es nicht etwas Wunschdenken ist, dass Individuen wirklich immer individualistisch sind (sind sie fast nie, würde ich sagen). Kulturen gibt es nunmal und wie mit ihnen umgegangen werden soll, muss geklärt werden. Zudem tun sich Gesellschaften, die keinerlei verbindende Elemente haben, einfach schwer mit der gemeinschaftlichen Solidarität. Schon eine Verfassung schreibt gewisse kulturelle Rahmenbedingungen vor. Die Frage hat deshalb schon Relevanz. Aber ich würde wirklich gerne erstmal die Begrifflichkeiten klären.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon JustFrank » So 4. Dez 2011, 10:35

Ich bin der Überzeugung, dass Multikulti gut funktionieren kann, wenn sich dabei alle Beteiligten an bestimmte Grundregeln halten (bitte nicht mit Leitkultur verwechseln).

Unser Grundgesetz eignet sich dafür sehr gut, wenn man die christlichen Werte daraus entfernen würde. Religionsfrei gestaltet bildet es einen Boden auf dem sich jeder bewegen kann. Und es ist geeignet, solchen zu widerstehen, die versuchen kulturelle Dominanz zu erlangen, ganz gleich aus welcher Richtung sie kommen.

Das funktioniert aber nur, wenn diese Regeln in unserer Gesellschaft bekannt und akzeptiert sind, was ich bei bestimmten Gruppen und Generationen arg zu bezweifeln wage.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon xander1 » So 4. Dez 2011, 11:13

Also ich frage mich das mit diesem Thema, weil ich aktuell mit mehreren Zusammenhängen damit zu tun habe. Z.B. lese ich in den News von Rechts-Terrorismus. Ich kann mir schon gut vorstellen, dass das ganze etwas mit Evolution zu tun hat, warum es Rechts-Terrorismus gibt und warum es gewisse Statistiken gibt. Das hat auch etwas damit zu tun, wer die Macht im Land hat - die Männer oder die Frauen. Insgesamt hat das auch etwas mit evolutionärem Druck zu tun.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon ganimed » So 4. Dez 2011, 12:26

@JustFrank: Ich sehe das auch so. Multikulti würde gut funktionieren, wenn wenigstens eine überwiegende Mehrheit mitmachte. Und Monokultur würde ebenfalls gut funktionieren, wenn man etwa durch strikte Einwanderungsbeschränkungen den anfallenden Integrationsaufwand minimierte.

Was wir in unserer Gesellschaft haben ist eine etwas unklare Mischkalkulation. Ich schätze mal, ungefähr eine Hälfte tendiert zu Monokultur oder bezieht Teilpositionen wie "Leitkultur" und befürwortet Einwanderungsbeschränkungen. Und ein etwa gleich starkes Lager würde gerne offener sein und wäre für mehr Integration.

Diese Mischkalkulation funktioniert nach meinem Eindruck nicht so gut und ist eher ein Notbehelf als eine wirkliche Strategie. Zum Abschotten in Mono sind bereits zu viele Gäste hier und zum multikulturellen Austausch sind viel zu viele Spielverderber und Neinsager unter uns. Also weiter wurschteln.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Darth Nefarius » So 4. Dez 2011, 14:36

Wie soll denn Monokultur funktionieren? Wir leben in einer globalisierten Welt, da hat man schon der wirtschaft wegen mit anderen Kulturen zu tun, abgesehen von der Politik und wissenschaftlichem Austausch. Es hängt von der Einstellung des einzelnen ab, ob er sich über seine Gedanken, oder über die Anzahl der Querbalken am Kreuz (gr. orthodox oder nicht), das Kopftuch etc. definiert. Eine gewisse Konfliktminimierung ist schon wünschenswert, aber die kann man schon gar nicht erreichen, selbst wenn man wollte, also sollte man vielleicht aufhören sich über die Kultur zu definieren (dei Gruppe, in die man hineingeboren wurde), oder sie als gleichwertig mit all den anderen Riten zu betrachten (die genauso schwachsinnig sind und nur zur Gruppenidentifikation dienen, wenn man nichts anderes hat).
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Nanna » So 4. Dez 2011, 15:22

Cool. Ich erkläre euch, dass ihr mit diesen völlig undefinierten Klischeebegriffen 100%ig aneinander vorbeireden werdet, und ihr macht es einfach. ;-)
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Lumen » So 4. Dez 2011, 15:36

Nanna hat geschrieben:Fragt sich, ob du damit nicht die Augen vor gewissen Realitäten verschließt bzw. es nicht etwas Wunschdenken ist, dass Individuen wirklich immer individualistisch sind (sind sie fast nie, würde ich sagen). Kulturen gibt es nunmal und wie mit ihnen umgegangen werden soll, muss geklärt werden. Zudem tun sich Gesellschaften, die keinerlei verbindende Elemente haben, einfach schwer mit der gemeinschaftlichen Solidarität. Schon eine Verfassung schreibt gewisse kulturelle Rahmenbedingungen vor. Die Frage hat deshalb schon Relevanz. Aber ich würde wirklich gerne erstmal die Begrifflichkeiten klären.


Verbindende Elemente sind in entweder in größeren Kreisen vorhanden ("europäische Kultur", "der Westen"), in spezialisierten Kreisen ("Leute, die How-I-Met-Your-Mother gucken", "Metal-Fan"), lokale Gepflogenheiten ("Boßeln in Ostfriesland", "Weihnachtenfeiern") und letzlich National ("Tatort gucken"). Dabei hat einerseits jeder seine individuelles Spektrum, dann sind bestimmte Elemente auch örtlich verknüpft. Bei nationalen und regionalen Inhalten mag es offensichtlich sein, aber auch "globale" Kulturelemente sind regional mehr oder weniger wahrscheinlich. Nehmen wir Fußball—dieses Thema und der Stellenwert ist auf dem Lande und in bestimmten Städten viel stärker ausgeprägt als in Berlin Mitte, wo dann Global Village Themen wahrscheinlicher sind. Leute neigen wohl auch dazu sich in Cliquen zu homogenisieren, und diese kleinen Zellen strahlen "ihre" Kultur an ihr unmittelbares Umfeld ab und werden von dort auch berieselt. Es ist also nicht vollkommen beliebig, aber auch nur bedingt homogen im größeren Maßstab. Das fällt erst auf wenn ein Ausschnitt gegen einen nicht nahtlos angeschlossenen Ausschnitt gehalten wird, ob nun Bayern vs. Schleswig-Holstein oder Deutschland vs. Kambodscha.

Die Leitkultur- und Multi-Kulti Debatte hat ansonsten einen stark religiösen Anstrich, der o.g. simplifiziert. Es geht da nicht um das tolerieren von neuen Musikrichtungen oder Strömungen, sondern um ganze "Auschnitte" meist um eine Religion drapiert, die entweder as verbindlich gelten soll ("Leitkultur"), oder wo eine ganze Insel an kulturellen Elementen quasi intakt verpflanzt wird und nebenher mit anderen existieren soll ("Multikulti").

Da geht es für mich auf beiden Seiten in die verkehrte Richtung. Rein emotional würde ich die Besiedelung eines ostfriesischen Dorfes weder mit Thüringern noch mit Anatoliern gutheißen. Auch erkenne ich einen Wert in der vorherrschenden Sprache und Tradition an. Ich glaube nicht, dass man da was "bereichern" müßte. Umgekehrt wäre es mir egal, welcher Mensch das ostfriesische erhält—wenn es Türken gibt, die Ostfriesen sein wollen, fänd ich das gut. Aber das meint im Prinzip Integration, und davon gibt es derzeit stellenweise eindeutig zu wenig. Nur geht es nicht um das Einbetten in eine (christliche) Leitkultur, oder gar in ein vermeintliches Deutschtum, sondern in ein vielschichtiges kulturelle Geflecht. Bedenken müsste man auch, das bestimmte Elemente nebeneiander existieren können, andere sich aber aufheben. Auch da fällt Religion wieder negativ auf.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon stine » So 4. Dez 2011, 19:02

Ich würde die Religion bei diesem Thema ganz raushalten. Kulturelle Gepflogenheiten sind innerdeutsch genauso different, wie sie es global gesehen sind. Es gibt sogar in kleinsten geografischen Abschnitten unterschiedliche Kulturgepflogenheiten, die sich nur über die vorhandenen Möglichkeiten, dem sozialen Stand, deutlich voneinander unterscheiden.
Saufen, Rauchen, spucken, pöbeln, dazu muss man kein Ausländer sein, um unangenehm aufzufallen. Da ist mir ein süßsauer Reisgericht in Chinatown noch lieber, als ein Burger am Hauptbahnhof.

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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Teh Asphyx » So 4. Dez 2011, 19:33

Gut, erstmal eine allgemeine Definition von Kultur. Ich finde, dass Corinne Maier es in dem Buch „Die Entdeckung der Faulheit“ wunderbar formuliert hat: „[Die Kultur ist tatsächlich] nichts anderes, als die Kristallisation der Dummheit einer Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt.“
Damit trifft sie so was von ins Schwarze.
Aus meiner persönlichen Lebenserfahrung heraus muss ich feststellen, dass „Kultur“ offensichtlich eine Lüge und ein Repressionsinstrument ist (schlimmer als Religionen, da solche sich immer nur opportunistisch zur jeweiligen Leitkultur verhalten). Kultur ist entweder eine Ausrede für unreflektiertes Verhalten oder ein „Argument“ dafür, jemanden ein solches Verhalten aufzuerlegen.

Aus diesem Grund habe ich sowohl Schwierigkeiten mit einer kulturrelativistischen Position – da Kulturen mit Sicherheit nicht alle gleich gut, sondern höchstens gleich schlecht sind und sie als notwendiges menschliches Übel zu bezeichnen, ist nichts weiter als eine Resignation, weil man möglichst nicht irgendwas in Frage stellen möchte, wo es unbequem werden könnte – als auch mit einer Position, die Pro-Leitkultur ist, da diese wohl kaum irgendwie weniger Menschenverachtend als andere sein wird (in dem Sinne, dass dem Menschen kein reflektives Bewusstsein zugesprochen wird und der Mensch abhängig von einer Kultur gemacht wird, nach dessen Regeln er sich zu richten hat).

Viel wichtiger ist es doch, dass man die Menschen, die um einen herum sind, sowie sich selbst wahrnimmt und zusammen eine Lösung für (ohne kulturelle Leitfäden oder andere Instanzen von „oben“) für abweichende Bedürfnisse findet.
Da gibt es interessante Modelle wie die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg – wobei sich da die Beispiele oft sehr künstlich anhören, natürlich kann man aber auch in einer natürlich klingenden Sprache gewaltfrei kommunizieren.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Darth Nefarius » So 4. Dez 2011, 19:46

Nanna hat geschrieben:Cool. Ich erkläre euch, dass ihr mit diesen völlig undefinierten Klischeebegriffen 100%ig aneinander vorbeireden werdet, und ihr macht es einfach. ;-)

Hast du nichts außer dem zu meinem Appell zu sagen? Was meinst du mit Klischeebegriffen, ich denke, dass ich mich konkret und beispielorientert ausgedrück habe, mit logischen Schlussfolgerungen. Wenn du Einwänd hast, wäre ich dankbar, wenn du sie mit Argumenten belegst, anstatt die Kommentare andere ins Lächerliche zu ziehen. Und stine, du wirst keine Kultur finden, die sich nicht u.a. über ihre Religion definiert, das kann man nicht trennen.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Nanna » So 4. Dez 2011, 23:28

@Lumen:
Danke für die Ausführung, die fand ich nämlich recht sinnvoll. Das zentrale Problem scheint tatsächlich darin zu bestehen, wo man die Grenze zwischen einer notwendigen Mindesthomogenität und der aus der Inanspruchnahme persönlicher Freiheit resultierenden Vielfalt zieht - und, was man mit Milieus macht, in denen kulturelle Homogenität erwartet wird, was sowohl Konflikte mit den Abweichlern innerhalb der Gruppe erzeugt als auch mit der liberalen Außenwelt, die sich von harten Parallelkulturen möglicherweise bedroht sieht.

@stine:
Religion und der Umgang mit ihr sind Kultur, da gibt es keinen Grund, diese außenvor zu lassen. Ich bin aber, da sind wir vielleicht mehr auf einer Linie, nicht der Meinung, dass man Religion per se als ursächliches Übel in kulturbezogenen Konflikten ausmachen kann. Eher ist es so, dass Religion sich aus ihrem historischen Anspruch heraus, totale Welterklärungssysteme anzubieten, als besonders effizienter Brandbeschleuniger eignet, weil ihre Symbole eine starke Massenintegrationskraft besitzen und sich daher leicht für ingroup-outgroup-Definitionen hernehmen lässt. Von daher muss man Religion unbedingt einbeziehen, sollte sich aber vor allzuschnellen Pauschalisierungen hüten.

@Teh Asphyx:
Ich kenne Corinne Maier nicht. Mich erinnert der selbstgerechte Stil irgendwie an einen frustrierten Außenseiter, der seinen Mangel an Gemeinschaftsgefühl dadurch kompensieren muss, dass er sich feixend in die Ecke stellt und seine überlegene Individualität zelebriert. Ich bin kein übermäßiger Gruppenmensch und ich fürchte die Dumpfheit der Masse, aber sich auszuklinken und so zu tun, als ginge einen das eigentlich alles gar nichts an, so wie es im Zitat irgendwie mitschwingt, halte ich auch für wenig produktiv.

Persönliche Lebenserfahrung ist halt immer eine Statistik mit Stichprobe n=1 (Zitat ujump). Du bestätigst im Grunde meine Bedenken gegenüber dem zentralen Fluch der Kulturalismusdebatte, nämlich dass jeder seine stark emotional gefärbte Privatdefinition in den Ring wirft und sich hinterher alle wundern, dass alle aneinander vorbeireden. Das ist natürlich gerade in diesem sensiblen gesellschaftspolitischen Feld fatal.
Dein Appell an die gegenseitige Aufmerksamkeit gefällt mir zwar sehr gut, aber gieß das mal in ein integrationspolitisches Programm. Sobald du mit größeren Gruppen als deinem persönlichen Umfeld operieren musst, kommst du schnell um simplifizierende Aussagen und Symbolpolitik nicht mehr herum, weil die Masse nunmal so gut wie immer dumm ist. Das ist nicht die Schuld der Masse; Komplexität muss nunmal reduziert werden, wenn das Individuum sich zurechtfinden soll, also geschieht ein automatische Drift zu einem gemeinsamen Zentrum, die ein natürlicher Prozess ist und nichts mit Repression oder Lüge zu tun hat, auch wenn eigenwillige Abweichler, die im Übrigen ein notwendiges Korrektiv und häufig der Träger von Innovationen sind, das anders sehen mögen.
Auch hier will ich nochmal den Organspende-Thread als Beispiel anführen: Die einen halten den Zwang zur Entscheidung über die Spendenbereitschaft für Repression, die anderen für eine aufgrund des hohen Streitwerts (Menschenleben) zumutbare Konfrontation, die z.T. mit kulturellen Argumenten (Humanismus, Menschenrechte, christliche Ethik) begründet wird. Der Konflikt entsteht aber im System, ohne von irgendjemandem beabsichtigt worden zu sein. In sozialen Zusammenhängen findest du solche Betriebsprobleme, die häufig eben über die Externalisierung auf kulturelle Leitbilder gelöst oder zumindest eingedämmt werden, sehr häufig. Die gemeinsamen kulturellen Ideen dienen hier als soziales Schmiermittel und zur kommunikativen Eichung, so dass halbwegs sichergestellt ist, dass unter ähnlichen Symbolen auch ähnliche Dinge verstanden werden und überhaupt Kommunikation möglich ist. Und natürlich dienen sie letztlich auch der Disziplinierung, die für ein funktionierendes Zusammenleben nunmal erforderlich ist.

Was mir missfällt, ist, dass du die sozialtechnische Dimension von Kultur völlig außenvor lässt und rein normativ argumentierst. Wenn alle Kultur menschenverachtend ist, dann kann ich nur lapidar feststellen, dass eine menschenachtende Existenz in diesem Universum wohl nicht möglich ist. Um es mal wieder mit Feynman zu sagen: "You don't like it here? Go somewhere else... where the rules are simpler!" Du magst das als Resignation sehen, ich sehe es als Pragmatismus, der die notwendige Grundlage für erfolgreiches Handeln ist. Und ich bin nicht depressiv oder mutlos deshalb. Nur vielleicht etwas, wie stine sagen würde, demütig.

@Darth Nefarius:
Siehst du, wir mögen es beide nicht, wenn man unser Gesagtes ignoriert. Also in medias res:

Was du zum Problem der Monokultur sagst, kann ich so weitgehend unterschreiben, auch wenn ich die Verkürzung von Personen, die irgendetwas mit Religion zu tun haben, auf Leute, die nicht alle Tassen im Schrank haben, ziemlich ungelungen finde. Nur Fundamentalisten definieren sich ausschließlich über eine singuläre kulturelle Eigenschaft und ihre jeweiligen Symbole (z.B. den Schleier). In einer modernen Zivilgesellschaft findest du stattdessen überall das Phänomen der Mehrfachidentitäten vor, d.h. Personen fühlen sich zu verschiedenen Milieus, Weltanschauungs- und Symbolsystemen hingezogen und scheuen sich meist nicht, dies auch äußerlich zu zeigen. Daher siehst du in der Fußgängerzone auch Frauen, die Schleier und Minirock gleichzeitig tragen und das als Einheit und nicht als Widerspruch begreifen. Deshalb halte ich die Diagnose, dass "man" sich über die Kultur (was auch immer das sein mag, und wieder grüßt das Definitionsproblem) definiert, auch für eine Phantomfeststellung. Die meisten Leute sind nicht derart auf ein Kennzeichen versteift und selbst diejenigen, die sich für die Vertreter einer reinen kulturellen Lehre halten (Islamisten beispielsweise), nehmen häufig eine Menge Anleihen bei anderen kulturellen Gedankensystemen (so ist der Islamismus beispielsweise eine lupenreine, genuin moderne jakobinische Ideologie, die der historische Mohammed nichteinmal verstanden hätte, wenn man sie ihm erklärt hätte). Ungewollt oder nicht sind wir sowieso nach Jahrtausenden menschlicher Entwicklung alle Produkte multikultureller Traditionen, die zentrale Frage ist, wie wir, nachdem uns das langsam bewusst wird, mit der ganz vielgestaltigen Soße umgehen.


Natürlich kommen wir immer wieder zum selben Punkt zurück, den auch Teh Asphyx angesprochen hat, nämlich, dass man irgendwie aufeinander achten muss. Aber ich sehe das eigentlich als Ausgangs- und nicht als Endpunkt der Multikulturalismusdebatte an. Man hat festgestellt, dass man gesamtgesellschaftlich mit dem ganzen Pluralismus irgendwie umgehen muss, gut, schön, dass wir soweit mal sind, aber jetzt wird es doch erst richtig interessant. Was tun wir mit den ganzen heißen Eisen, die sich daraus ergeben? Zwingen wir Einwanderer zum Erlernen unserer Sprache, müssen muslimische Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen, dürfen religiöse Schüler in der Schule oder Uni beten, erlauben wir Homeschooling, dulden wir Nazis, nach welchem Familienrecht werden Einwanderer behandelt, wenn Eheschließung etc. im Ausland unter anderen Rechtsbedingungen erfolgten, bekämpfen wir Gentrifizierung, verbieten wir Minarette und nächtliches Kirchengeläut, das Wort zum Sonntag, die Rundfunkräte, dulden wir Punks am Bahnhof und Bettler in der Innenstadt... usw.? Was tun wir denn konkret bei widerstrebenden kulturellen Normen?
Im Rahmen irgendwelcher Salonphilosophie lässt sich ja bequem irgendeine normativ reine Position beziehen, aber der Witz an der Sache ist ja, dass eine pluralistische Gesellschaft widersprüchliche, hässliche Realität in Reinform ist. Und in dieser Realität leben eben viele Menschen, die keine philosophisch gebildeten Leute sind und mit extremindividualistischen Konzepten, wie sie viele hier sympathisch finden, wohl nichtmal unbedingt etwas anfangen könnten. Das Faktum, dass Kleidung für viele Leute Ausdruck der persönlichen Identität ist und dann doch jedes Jahr fast alle dasselbe tragen, ist ein anschaulicher Beleg dafür.

Ich halte eine pauschale Beantwortung der Multikulturalismusfrage, wie schon gesagt, ohne penible Begriffsdefinition für unmöglich, aber wenn ich ein kurzes persönliches Fazit ziehen soll, dann würde ich sagen: Ich sehe durchaus Wert in einer lose verbindlichen Allgemeinkultur, einem gewissen Set an normativen und ästhetischen Vorgaben, das wie ein Gerüst stabilisierend auf die Gesellschaft wirkt. Ich halte einen kulturellen Rahmen, der über die in Gesetzen formulierten Mindestanforderungen hinausgeht für durchaus sinnvoll. In den meisten o.g. Beispielen würde ich für eine vorsichtige Mittelposition stimmen, die zwar kulturelle Eigenheiten respektiert, aber nicht das Primat des demokratischen Staates verletzt, also z.B. habe ich kein Problem mit dem Wort zum Sonntag oder Kirchengeläut, aber lehne Homeschooling oder rituelle Gebete an Bildungseinrichtungen ab.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Teh Asphyx » Mo 5. Dez 2011, 00:34

In einem anderen Sinne kann man Kultur auch definieren als „das, was übrig bleibt, wenn man die Kunst wegnimmt“.

@ Nanna

Es ist auch irgendwie einfach absurd, gesellschaftliche Regeln für eine anonyme Gruppe von beispielsweise 80.000.000 Menschen aufstellen zu wollen. Das Ausmaß der Absurdität sieht man dann, wenn man sich anguckt, wie viele Gesetzbücher es hierzulande gibt, die vermeintlich notwendig sind, um das Zusammenleben zu ermöglichen. Ich wette, dass der größere Teil der Bevölkerung nicht mal die Grundrechte aus dem Grundgesetz wirklich kennt, somit dürfte es schon fast an ein Wunder grenzen, dass sich hier nicht alle gegenseitig zerfleischen.
Natürlich kann man in solch einem Rahmen dann auch nur noch über Symbole u.ä. arbeiten, aber irgendwo hat das auch seine Grenzen.
Das Problem ist, dass ein Regelwerk für 80 Millionen Menschen einfach viel zu abstrakt ist, als dass ich mich als zu integrierender Neubürger da irgendwie drauf einstellen könnte. Aber gerade deswegen stimmen mich die Nationalstaaten auch eher bedenklich. Die Lösung ist eher da zu suchen als in Debatten über Kultur. Du hattest im Thread über die (Geld-)Systemkrise glaube ich etwas über Deine Vorstellung von Europa geschrieben, wo es in „kultureller“ Hinsicht dezentraler zugeht. Das ist ein Ansatz, den ich ebenfalls begrüßenswert finde. Wenn ich mich in das Regelwerk einer annähernd überschaubaren Gruppe von Menschen einleben muss, ist das doch wesentlich leichter – und nicht nur das, der Widerstand ist wesentlich geringer, auch meine Werte kennenzulernen und zu integrieren.

So gesehen ist eine menschenachtende Existenz in diesem Universum eben doch möglich. Es gibt ja nicht nur das Gegensatzpaar Kollektiv-Individuum, sondern äußerst viele Möglichkeiten dazwischen. Ich nehme an, dass Dir das auch bewusst ist.

Ich denke, dass Richtlinien für das Zusammenleben vor allem sinnvoll sein sollten und auch eine gewisse Flexibilität haben müssen. Wenn gewisse Aufgaben erfüllt werden müssen, kann es besser sein, bestimmte Regeln anzunehmen, sodass ich zeitweise meine Individualfreiheit zu einem gewissen Grad aufgebe und mich einer in dem Bereich der Aufgabe erfahrenen Person unterordne, nach Erledigung der Aufgabe haben diese Regeln dann aber keinen Wert mehr und können getrost wieder gestrichen werden.

Ach so, und Homeschooling gehört definitiv erlaubt. Der Schulzwang (denn es gibt hier nicht nur eine einfache Schulpflicht wie in anderen Ländern, was zur Folge hat, dass Homeschooloing hier sogar kriminalisiert wird) in Deutschland ist ein absolutes Unding (und stammt übrigens von Adolf Hitler persönlich: http://www.netzwerk-bildungsfreiheit.de ... zwang.html). In anderen europäischen Ländern funktioniert das auch wunderbar.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon stine » Mo 5. Dez 2011, 09:05

Nanna hat geschrieben:Ich bin aber, da sind wir vielleicht mehr auf einer Linie, nicht der Meinung, dass man Religion per se als ursächliches Übel in kulturbezogenen Konflikten ausmachen kann.
Religion war und ist ein funktionierendes Mittel, viele Menschen anzusprechen und mit EINER Leitkultur zu versorgen. Das hat über Jahrhunderte bestens funktioniert. Und nur deshalb haben heute auch der Religionsunterricht oder der Ethikunterricht noch ihren Wert in den Schulen.

Nanna hat geschrieben:(...) besonders effizienter Brandbeschleuniger (...)
Das wäre die Kehrseite der Medaille: Wo mehrere große Gemeinschaften das Recht der "Wahrheit" für sich in Anspruch nehmen, muss es zwangsläufig zum Konflikt kommen.

Eine Leitkultur wäre dann die Schnittmenge derjenigen Regeln aus allen bestehenden Kulturen, die eindeutig das Ziel beschreiben, was genau ein unbeschwertes Zusammenleben innerhalb großer Gemeinschaften gewährleistet. Ich wiederhols ja nicht gerne, aber wir hatten das schon in dem Thread, die sieben Todsünden.

Teh Asphyx hat geschrieben: und Homeschooling gehört definitiv erlaubt.
Dieser Meinung bin ich nicht. Selbst wenn eine zentrale Abschlussprüfung einen einheitlichen Standard gewährleisten würde, so ist nicht gewährleistet, dass (ganz nebenbei) politische oder religiöse Ideologien als Denkmuster indoktriniert werden. Das Zusammenleben der Menschen funktioniert letztlich auch deswegen, weil man sich schon als Kind in eine Gemeinschaft fügen muss, in der man sich später behaupten soll.
Eine Qualitätskontrolle bei der Auswahl der Lehrer wäre allerdings durchaus begrüßenswert. :^^:
Obwohl ich gegen Kinderkrippen und Kindergartenzwang plädiere, empfinde ich das schulreife Kind sehr wohl als gemeinschaftsfähiges Wesen, das auch mal stundenweise ohne Mama auskommen können muss.

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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Teh Asphyx » Mo 5. Dez 2011, 10:24

stine hat geschrieben:Dieser Meinung bin ich nicht. Selbst wenn eine zentrale Abschlussprüfung einen einheitlichen Standard gewährleisten würde, so ist nicht gewährleistet, dass (ganz nebenbei) politische oder religiöse Ideologien als Denkmuster indoktriniert werden.


Da mach Dir mal keine Sorgen, politische und religiöse Ideologien werden sowohl in Schulen als auch bei Homeschoolern indoktriniert.

stine hat geschrieben:Das Zusammenleben der Menschen funktioniert letztlich auch deswegen, weil man sich schon als Kind in eine Gemeinschaft fügen muss, in der man sich später behaupten soll.


Entweder hast Du ein sehr unbeholfenes Vokabular (was ich aber eigentlich nicht annehme, so wie ich Dich hier sonst kenne) oder Du schreibst gerade totalen Bullshit (sorry, aber anders lässt sich das nicht ausdrücken). Sich zu fügen und sich zu behaupten sind komplette Gegensätze. Du wirst nicht darüber, dass Du Dich fügst lernen, Dich zu behaupten, außer insoweit, als dass Du lernst in einer Mehrheit auf Minderheiten rumzuhacken. Genau so wird „Gewaltbereitschaft“ produziert.
Es wird sich nur jemand als Erwachsener wirklich behaupten können, der als Kind schon erlebt hat, ernst genommen zu werden. Und das beißt sich mit „fügen müssen“.
Außerdem habe ich so meine Zweifel daran, dass man in einem Land, wo man meint ca. 60.000 festgeschriebene Gesetze dafür zu brauchen, von einem funktionierenden Zusammenleben sprechen sollte. :^^:

Hast Du Dich mal über Homeschooling informiert? Erfahrungsberichte gelesen? Da fällt nämlich immer wieder auf, dass Homeschooling-Kinder sehr oft in sehr vielen unterschiedlichen sozialen Rahmen drin sind (was weitaus besser ist als nur einen einzigen sozialen Rahmen wie eine Klasse mit lauter Gleichaltrigen + Eltern). Es gibt (in Ländern, wo es möglich ist) Eltern von Homeschoolern, die sich gemeinsam selbst organisieren, d.h. Gruppenaktionen mit anderen Homeschoolern machen und sehr oft sind die Kinder noch in mehreren Vereinen und Gemeinschaften unterwegs (Sport, Musik etc.). Es gibt natürlich auch Ausnahmen, aber auch nicht jeder Eigenbrötler ist eine Gefahr für die Gesellschaft, im Gegenteil, er wird erst dann zur Gefahr, wenn man ihm ständig auf den Sack geht, weil man meint, dass man jemanden nicht einfach in Ruhe lassen kann.

Wenn man mit nicht mehr als Klischees argumentieren kann, sollte man das lieber lassen. Ich bin von Dir aber besseres gewohnt. ;-)

stine hat geschrieben:Eine Qualitätskontrolle bei der Auswahl der Lehrer wäre allerdings durchaus begrüßenswert. :^^:


Brauchst Du gar nicht, mach einfach den Job wieder attraktiver, so dass Lehramt nicht mehr für diejenigen ist, die zu schlecht sind für ein „richtiges“ Studium, sondern für die besten wieder interessant wird.

stine hat geschrieben:Obwohl ich gegen Kinderkrippen und Kindergartenzwang plädiere, empfinde ich das schulreife Kind sehr wohl als gemeinschaftsfähiges Wesen, das auch mal stundenweise ohne Mama auskommen können muss.


Wenn Gemeinschaft bedeutet, dass man sich einem gewissen Mainstream unterordnet und auf alles rumhackt, was anders ist, dann ja. Und ich habe viele unterschiedliche Schulen erlebt, die Unterschiede bestanden lediglich darin, dass an „besseren“ Schulen das ganze über subtilen Psychoterror lief (was sogar zu einem Suizid geführt hat) und auf Schulen für die niedereren Schichten diese Gewalt direkter und auch öfter physisch vonstatten ging.
Ist Homeschooling in der Hinsicht eine Alternative? Nein. Ist Schule deswegen besser? Auch nicht.
Man sollte nicht den Fehler machen und hier Nirvana Fallacy betreiben, indem man jede Alternative am absoluten Ideal misst, sondern man sollte Alternativen an der aktuellen Realität messen und wenn sie nicht schlechter sind, ist das schon Grund genug, ihnen eine Chance zu geben. Aus unterschiedlichen Erfahrungen und Austausch darüber kann man sich nämlich letztendlich einem Ideal annähern.
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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon stine » Mo 5. Dez 2011, 11:11

Teh Asphyx hat geschrieben:Sich zu fügen und sich zu behaupten sind komplette Gegensätze.
Da kannst du mal sehen, wieviel von uns und unseren Kindern gefordert wird. Man kann sich auch behaupten, ohne ständig im Vordergrund stehen zu müssen. Kinder die sich nicht fügen, sondern nur behaupten sind im Klassenverband unerträglich und andersum sehr unauffällig. Es braucht beides, auch wenn dies für dich ein Paradoxon ist.

Teh Asphyx hat geschrieben:Entweder hast Du ein sehr unbeholfenes Vokabular
Ich habe manchmal Zeitmangel, sorry!
Ich weiß, dann sollte man besser gar nichts schreiben, aber manchmal juckt es mich in den Fingern. :wink:

Teh Asphyx hat geschrieben:Hast Du Dich mal über Homeschooling informiert? Erfahrungsberichte gelesen?
In allen mir bekannten Fällen handelte es sich in der Hauptsache um religiös angehauchte Vollzeiteltern. Waldorfschule & Co.
Hast du Zugang zu mehr?
Erzähl doch mal.

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Re: Monokultur / Multikulti

Beitragvon Nanna » Mo 5. Dez 2011, 11:37

Ich habe in anderen Zusammenhängen schon harte Diskussionen zum Homeschooling hinter mir und bin als zum Etatismus neigender citoyen auch ganz scharfer Ablehner des Homeschoolings. Ich habe natürlich eine differenziertere Position dazu, als in diesem zugespitzten Satz jetzt durchklingt, würde mir die aber für einen eigenen Thread aufheben. Da Homeschooling ja irgendwie "dein" Thema zu sein scheint, Teh Asphyx, würde ich es dir überlassen, einen solchen Thread zu eröffnen, schließlich kannst du offenbar die Position der Homeschooler relativ gut darstellen.

Was du zur Absurdität allgemeinverbindlicher gesellschaftlicher Regeln schreibst, halte ich für ein Strohmannargument. Kultur ist erstmal kein Regelwerk, das irgendjemand bewusst aufgestellt hat, so wie dies bei kodifiziertem Recht wäre. Du schreibst ja auch selber von Gesetzbüchern und wirfst damit beides zu sehr in einen Topf.
Kultur ist eher ein unscharfes System, in dem sich verschiedene Dinge wie z.B. bestimmte Lebensweisen, Ansprüche und Geschmäcker verbinden. Wenn ich lese, was du an Kultur kritisierst, klingt das, als hättest du ein penibelst ausformuliertes Regelwerk eines Totalitaristen im Kopf, der die Gesellschaft radikal gleichschalten will. Darum geht es doch hier gar nicht. Es geht darum, dass Menschen sich automatisch und in gewisser Weise auch freiwillig in kulturellen Systemen organisieren, weil das die Umwelt berechenbarer macht. Berechenbarer (Komparativ!) bedeutet in diesem Zusammenhang aber nicht berechenbar. Kultur und kulturelle Symbolsysteme sind unscharf und ja auch nur deswegen überhaupt akzeptiert. Jeder kann seine persönliche Interpretation in die Kultur einfließen lassen, dadurch wird sichergestellt, dass weder das Individuum sich zu sehr eingeschränkt fühlt, noch dass das System kollabiert. Es funktioniert eben gerade weil es nicht exakt ist, aber gerade noch exakt genug, so dass nicht jeder macht, was ihm spontan in den Sinn kommt.

Du sprichst den sich integrierenden Neubürger an, der sich auf die hiesige Kultur einstellen soll: Nun, mal Ernst, was bleibt ihm denn anderes übrig? Du warst sicherlich schonmal im Ausland, da hast du ja auch versucht, die lokalen Gepflogenheiten so weit zu berücksichtigen, dass du niemanden beleidigst. Als ich in Syrien war habe ich z.B. in den konservativen Vierteln von Damaskus die Kamera weggesteckt, wenn Frauen vorbeigelaufen sind. Das macht man da halt so. Umgekehrt macht man hier auch bestimmte Sachen auf bestimmte Weisen und wir erwarten (auch du ganz intuitiv, da bin ich sicher!), dass Fremde (und Einheimische sowieso) sich hier an bestimmte Mindestnormen halten.
Solche impliziten kulturellen Kodizes zu beherrschen halte ich persönlich auch für sehr wichtig, weil es einen ersten Aufschluss darüber zulässt, wie sozial kompetent, gebildet, aufmerksam und rücksichtsvoll das Gegenüber ist. Wenn jemand z.B. bei dir zu Besuch ist und bestimmte Räume (z.B. das Schlafzimmer) betritt, die zwar unabgeschlossen waren, aber doch qua sozialer Konvention off-limits sind, dann wird dir das wahrscheinlich auch nicht passen. Ich nehme an, du erwartest, dass deinem Besucher solche unausgesprochenen Regeln klar sind, ohne dass du ihm eine zweiseitige Hausordnung vorlegen musst. Umgekehrt wirst du hoffentlich Verständnis haben, dass du als Besucher eines konservativen muslimischen Haushalts die Tochter des Hauses nicht vor aller Augen anzuflirten hast, was in einem liberalen Alt-68er-Haushalt sicher viel eher ginge.
Natürlich hat das viel damit zu tun, was du über das Beachten der Bedürfnisse der unmittelbaren Mitmenschen geschrieben hast, aber dafür braucht man ja auch ein solides Hintergrundwissen und dafür wiederum muss man einfach eine Ahnung davon haben, wie konservativ-muslimische oder liberal-freizügige Alt-68er-Kultur grob funktioniert. Falsch liegen kannst du dann immer noch, vielleicht mag dich der muslimische Hausherr und der grummelige Alt-68er kann dich nicht leiden, aber wenn du je 100 Haushalte besuchen würdest, wäre o.g. Verhalten die sicherste Wette. Und genau darum geht es ja bei kulturellen Kodizes, nämlich um eine ungefähre Definition von Spielräumen in bestimmten alltäglichen, aber auch philosophischen Zusammenhängen: Dieses ist eher akzeptiert, jenes eher nicht.

Und, ganz wichtig, im Großen und Ganzen bilden diese Regelwerke sich selbst. Deshalb kann Kultur auch kein Repressionsintrument sein, weil der Unterdrücker fehlt. Ich sehe sie eher als Angleichungsinstrument, das Konflikte minimiert, indem eine ungefähre Konvention über allgemeinverbindliches Verhalten jedem bekannt ist. Stell dir vor, was es für ein Riesenaufwand wäre, wenn bei jeder der sozialen Zusammenkünfte am Tag das komplette Repertoire des gegenseitigen Beschnupperns durchgeführt werden müsste, anstatt dass man einfach "Guten Morgen, ich hätte gerne zwei Brötchen." sagt. Man käme ja zu gar nichts anderem mehr, wenn das Verhalten anderer Personen derart unvorhersehbar wäre. Es muss ja deshalb noch lange nicht zentralistischer Zwang mit ständischen Kleiderordnungen etc. herrschen.

Möglicherweise haben wir im Prinzip ähnliche Ansichten, aber da kommt eben wieder das Definitionsproblem ins Spiel, vor dem ich eingangs gewarnt habe. Wenn man nicht geklärt hat, worüber man spricht, redet man todsicher aneinander vorbei.
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