Moralische Grenzen des Marktes

Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Zappa » Di 1. Jan 2013, 13:53

Bin fast mit dem Buch "Was man für Geld nicht kaufen kann" von Michael J. Sandle durch, dass ein paar anregende Ideen beinhaltet.

Sandel kritisiert libertäre Ansätze und das übergreifen ökonomischer Grundideen auf nicht-öknomische Felder mit folgendem Grundargument: Der Markt ist nicht immer in der Lage zwischenmenschliche Aktivitäten und Güteraustausch fair zu regulieren, das ist eine libertäre Mär. Darüber hinaus ist der Marktmechanismus nicht wertneutral, er kontaminiert bzw. korrumpiert gewisse Werte was manchmal sehr schädlich sein kann.

Sandel unterscheidet zwischen dem Austausch materieller Güter, die in der Tat über den Markt am besten zu regeln sind - wobei auch hier ja die Konsumideologie problematisch sein kann - und anderen "Gütern". Er argumentiert anhand von Beispielen, was das Buch sehr lesenswert macht, ich bringe mal die plakativsten:

1. Ehrungen sind prinzipiell nicht über den Markt zu handeln, man kann einen Nobelpreis nicht kaufen, bzw. wenn man dies tut, wird durch den Akt des Verkaufes der Wert der Wahre ruiniert. Es gab da durchaus mal einen "Schwarzmarkt" für Oskars, weil einige verarmte Stars ihre verhökert haben, aber natürlich hat der Oskar für den Käufer nicht den Wert einer Ehrung. Man kann aber z.B. auch Reden für Hochzeiten und andere Ehrungen kaufen, ein Graubereich. Nur wird der Kauf natürlich verheimlicht, da das persönliche Wort eines guten Freundes als Ehrung mehr Wert hat als eine noch so gut gekaufte Lobpreisung. Offensichtlich ändert sich am Wert des Gutes etwas, wenn man es auf dem Markt handelt.
2. Korruption ist der Verkauf eines Gutes (z.B. Insiderinformationen, Bauaufträge, Gerichtsurteile), die nach Meinung (fast) aller nicht verkauft werden dürfen. Hier hat der Markt nichts zu suchen. Korrumpierbarkeit geht für Sandel aber darüber hinaus. Auch der Wert jeder anderen Wahre wird mehr oder weniger durch den Markt verändert/korrumpiert.
3. Ökonomen meinen, dass knappe Wahren am besten über den Markt reguliert weiter gegeben werden, aber es gibt auch andere Möglichkeiten: Eine Option ist die Warteschlange: Kostenlose Tickets für Theateraufführungen oder die Teilnahme an Kongreßanhörungen nennt Sandel als Beispiel. Nun gibt es in Amerika mittlerweile bezahlte "Schlangensteher", die sich anstellen um die Tickets dann an gutbetuchte Theaterliebhaber bzw. an Lobbyisten verkaufen, damit die den Anhörungen beiwohnen können und nicht anstehen müssen. Das Problem dabei: Die Ethik der Warteschlange ("Immer der Reihe nach") ist eine Anderer als die des Marktes ("Man bekommt wofür man bezahlt"). Es gibt ein Fairnessproblem (die Idee des kostenlosen Theatertickets ist ja grade, das auch weniger betuchte in den Genuss kommen können, dies wird durch die Ökonomisierung des Anstehens konterkariert). Mag man das noch durchgehen lassen, wird es bei anderen "Warteschlangen" problematischer. In China ist es sehr schwer an Termine bei guten Ärzten zu kommen, da muss man manchmal über Tage anstehen, die Termine selbst sind kostenlos. Auch hier gibt es mittlerweile einen Schwarzmarkt, der über Ansteher bedient wird. Nun kann man sich einen raschen Termin kaufen. Das ist unfair, der betuchte wird vor dem weniger betuchten, aber möglicherweise ernster Krankem behandelt, und hat noch anderer Probleme: Hier macht z.B. nicht der medizinische Experte den Profit, was evtl. noch nachvollziehbar wäre, sondern ein wildfremder Spekulant.
4. Eine Ökonomisierung kann auch anders korrumpieren. Ein Beispiel kam aus Israel: Ein öffentlicher Kindergarten hatte das Problem, dass Kinder vereinzelt zu spät abgeholt wurden und dadurch Überstunden anfielen. Das Problem sollte eine Strafzahlung lösen, das Ergebnis: Die Kinder wurden im Durchschnitt noch später abgeholt, denn schließlich zahlte man ja für das Privileg des später Abholens! Die soziale Stigmatisierung des Egoistes, der auf Kosten anderer sein Kind zu spät abholt, hatte offenbar eine bessere Steuerungswirkung als die nun als "Gebühr" empfundene Zahlung. Diese "Gebührenmentalität" gibt es bekanntermaßen ja auch bei Ordnungswidrigkeiten im Verkehr, der betuchte SUV-Fahrer zahlt einfach seine Straf"gebühren" und ignoriert ungeniert die Verkehrsregeln (die Finnen haben reagiert und dort zahlt man anteilig zum Vermögen. Rekordbuße für zu schnelles Fahren derzeit 170.000 € :mg: )
5. Darf man gegen einen happigen Geldbetrag bedroht Tiere schießen? Sandel bringt hier ein tückisches Beispiel: Das Schwarze Nashorn Afrikas ist vom Aussterben bedroht, alle Maßnahmen zum Schutz der Tiere konnten nicht verhindern, das die Tiere durch illegalen Abschuss weiter dezimiert wurden. Nun kam man auf die Idee Farmern zu erlauben eine gewisse Zahl an Abschüssen zu verkaufen, die Idee dahinter war, dass die Farmer dann ein Interesse an den Tieren hätten uns sich um die Tiere kümmern würden. Das passierte auch, das Projekt ist erfolgreich, die Zahl der Tiere steigt und die bekloppten Großwildjäger zahlen bis zu 150.000 € für einen Abschuss. Wo ist das Problem, fast alle scheinen ja davon zu profitieren: Die Art, der Jäger, der Farmer (nur das arme einzelne Opfer nicht)? Ökonomen sagen auch ganz ungeniert: Es gibt hier kein moralische Problem, der Markt regelt das doch optimal! Sandel sieht das moralische Problem darin, dass hier natürlich das Tier zur Ware degradiert wird. Mag man dass als Fleischesser noch hinnehmen, wie sieht es dann mit Leihmutterschaften aus? Organhandel? Gezielte Geburten als mögliches Organlager? Für alles (bis auf das letzte Beispiel, hoffe ich) gibt es längst funktionierende Marktmodelle, nur hier versucht der Markt etwas zu regeln, was offensichtlich außermarktliche moralische Fragen berührt.

Es gibt noch viele andere Beispiele, ich höre hier erst einmal auf. Sandel zeigt an diesen Beispielen meiner Meinung nach ganz gut auf, wo der Markt in einer menschlichen Gesellschaft als Steuerungsinstrument nicht funktioniert und warum der Markt deshalb nicht alles regeln soll und kann. Die Argumente, die es abzuwägen gilt, sind dabei immer die Fairness und die Korrumpierbarkeit des Gutes durch die Marktlogik. Und deshalb sagt Sandle: Ökonomen kommen eben nicht um die Diskussion der moralischen Dimension von Marktverhalten herum, Libertäre springen moralphilosophisch regelmäßig zu kurz.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon provinzler » Di 1. Jan 2013, 17:12

Letztlich ist es eine Frage, ob man die Nutzendefinition auf den ökonomischen Nutzen einschränkt, oder ob man Nutzen allgemeiner definiert. Markt heißt nicht, dass man alles kaufen kann. Auch Liebe oder Zuneigung kannst du dir nicht kaufen, da hat der Autor völlig Recht. Dennoch funktioniert auch das menschliche Miteinander im Grund wie ein Markt. All die Menschen da draußen machen dir ständig Angebote und du tust das auch. Diese Angebote können ein Zusammenarbeit in geschäftlicher Hinsicht sein, sie können Freundschaft beeinhalten oder auch eine Beziehung. Klingt zwar fürchterlich nüchtern und unromantisch, aber letztlich läufts so. Am "Beziehungsmarkt" kann man auch schön mal vorführen, wie es sich anfühlt wenn von außen gewaltsam eingegriffen wird. Man stelle sich einfach mal vor, jemand würde von oben vorschreiben (also mit Staatsgewalt) das Außmaß an sexuellen Aktivitäten oder Beziehungen "umzuverteilen", weils da Leute gibt, die aus welchen Gründen auch immer massiv benachteiligt werden. Jeder nach seinen Möglichkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. :mg:
Das Problem, dass China hat, ist nur zu lösen, wenn eine Tätigkeit als Arzt attraktiv genug ist. Wer etwas tut, tut das nur, wenn er einen Nutzen davon hat. Der Nutzen muss nicht zwingen materiell sein. Es zieht ja auch keiner von uns einen materiellen Nutzen daraus hier in diesem Forum zu schreiben. Dennoch hat jeder von uns in der ein oder andren Form irgendeinen subjektiv empfundenen Nutzen von der Forennutzung, sonst wäre derjenige nicht hier. Der Nutzen kann auch völlig unbewusst da sein, sei es das Erlangen auf Aufmerksamkeit, oder was auch immer.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Zappa » Di 1. Jan 2013, 17:59

provinzler hat geschrieben:Dennoch funktioniert auch das menschliche Miteinander im Grund wie ein Markt.

Sandel widerspricht dem in der Diskussion in Bezug auf das Beispiel 4. Natürlich werden Angebote gemacht und angenommen oder abgelehnt, aber nicht alles funktioniert nach Marktgesetzen. Einige Verhaltensweisen widersprechen diesen sogar diametral.

In dem Kapitel bringt er noch ein anderes hübsches Beispiel aus einem Kanton der Schweiz: Die Kantonisten wurden in Version 1 gefragt ob sie damit einverstanden wären, dass das nukleare Endlager der Schweiz (so was sei ja nun mal nötig) in ihrem Kanton realisiert werden könnte. Unabhängige Experten seien halt der Meinung, dass unter Berücksichtigung aller Faktoren dieser Standort der beste sei. Eine knappe Mehrheit war dafür. Version 2: Zusätzlich wurde den Leuten eine Prämienzahlung in Aussicht gestellt. Ergebnis: Die Mehrheit war dagegen!

Warum: In der ersten Version war die knappe Mehrheit der Meinung dem Vaterland/der Gemeinschaft einen Dienst zu erweisen. Unangenehm, aber halt nicht zu vermeiden. In Version 2 fühlten sich die Leute "bestochen" und lehnten das mehrheitlich ab. Wo ist das die Marktlogik?
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Nanna » Di 1. Jan 2013, 18:44

provinzler hat geschrieben:Dennoch funktioniert auch das menschliche Miteinander im Grund wie ein Markt.

Du bewegst dich hier mit Riesenschritten auf die Position hin zu, dass alle a) Egoisten und b) homini oeconomici sind. Die Diskussion um a) ist ein mir persönlich unangenehmer Wiedergänger in diesem Forum, weil die Diskussionen häufig daran stecken bleiben, dass Egoismus relativ willkürlich als deus ex machina in jede beliebige Handlung hineinrationalisiert wird, ohne dass irgendjemand mal mit einer sauberen methodischen Operationalisierung aufwarten könnte. Bei b) wirst du einwenden, dass der homo oeconomicus ja längst Schnee von gestern ist und niemand bewusst (!) dauernd alle Handlungen nach rationalen Nutzenargumenten abwägt, sondern unbewusst nach subjektiven Nutzenkriterien entscheidet, was aber eigentlich nur ein homo oeconomicus velans (ein verschleierter homo oeconomicus, für irgendwas muss Latein ja mal gut sein...) wäre, schließlich bleibt die Nutzenmaximierung als ausschließliche Strategie das Grundprinzip.

Es ist aber, und das ist eben auch empirisch zeigbar, nicht immer ein unmittelbarer oder sogar langfristiger Nutzen, den ein Individuum durch eine bestimmte Handlung erlangen kann und in vielen Fällen wissen das die Individuen auch. Es gibt kulturunabhängige Experimente, die zeigen, dass Individuen teilweise harsche Nachteile in Kauf nehmen, um z.B. Trittbrettfahrer oder Verletzer sozialer Normen zu bestrafen, selbst wenn das keiner mitbekommt (kein Ruhm) und die Betroffenen den Bösewicht nie wieder sehen werden. Von mir aus kann man das als Immunreaktion eines Glieds der Gesellschaft gegen einen Gefährder betrachten und alle möglichen biologistischen Erklärungen dafür suchen, aber das ändert nichts daran, dass weder die Marktlogik noch Egoismus als Konzepte hier funktionieren, nicht jedenfalls, wenn man die Konzepte nicht mit allerlei Ausnahmeregelungen so weit überdehnen möchte, dass man so ziemlich jedes Verhalten einbezogen hat, bloß um noch irgendwie Recht zu behalten und sein simplifizierendes Modell nicht in Frage stellen zu müssen. Und es gibt auch weitere Beispiele von Handlungen, wo man außer vielleicht mit einem guten Gewissen mit nichts belohnt, vielleicht sogar von der Mehrheit angefeindet wird, wo aber neutrale Beobachter, selbst wenn sie wirtschaftsliberal eingestellt sind, sicherlich ohne zu Zögern bereit wären, von einer großen Tat zu sprechen.

Es ist mir klar, dass man sich hinterher so ziemlich alles zurechtrationalisieren und behaupten kann, dann wäre halt das gute Gewissen der Motivator gewesen, aber das ist nichtmal im Ansatz noch ein gutes, wissenschaftlich brauchbares Modell, weil es keinerlei Prognosefähigkeit mehr besitzt. Es wäre produktiver, herauszufinden, unter welchen Bedingungen Menschen oder welche Menschentypen generell eher Handlungen bevorzugen, die ihnen keinen Marktvorteil verschaffen. Ein gutes Gewissen ist kein Marktvorteil, sorry, soweit müssen wir uns über Marktbegriff ja wohl einig sein können.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon provinzler » Di 1. Jan 2013, 22:11

Nanna hat geschrieben:Es ist aber, und das ist eben auch empirisch zeigbar, nicht immer ein unmittelbarer oder sogar langfristiger Nutzen, den ein Individuum durch eine bestimmte Handlung erlangen kann und in vielen Fällen wissen das die Individuen auch. Es gibt kulturunabhängige Experimente, die zeigen, dass Individuen teilweise harsche Nachteile in Kauf nehmen, um z.B. Trittbrettfahrer oder Verletzer sozialer Normen zu bestrafen, selbst wenn das keiner mitbekommt (kein Ruhm) und die Betroffenen den Bösewicht nie wieder sehen werden.

Es verschafft offensichtlich den Individuen eine individuelle Befriedigung, warum auch immer. Ich sagte ja, dass ich den Nutzenbegriff viel weiter gefasst verstehe. Das Problem ist, dass der "Nachteil" eine Bewertung eines Außenstehenden voraussetzt. Denn denn emotionalen, psychischen Nutzen kann er nicht so leicht feststellen. Das hat nicht zwingend mit Egoismus zu tun, sondern ist eine ganz simple Feststellung. Dieser Nutzen lässt sich halt im unterschied zum materiellen Nutzen nicht wirklich quantifizieren. Das ändert aber nichts am Vorhandensein. Der Unterschied ist, dass ich den Begriff der Nutzenmaximierung nicht prinzipiell wertend verstehe. Das Problem mit diesem Ansatz ist die gesteigerte Komplexität und dass er nicht wirklich in mathematische Formeln gegossen werden kann, wenigstens noch nicht. Ich sehe das einfach so, dass verschiedene Märkte parallel existieren und teils nach etwas andren Regeln funktionieren, teilweise miteinander verkettet sind und sich wechselseitig beeinflussen, während andre Aspekte, wie das grundlegende Zusammenspiel von Angebot und NAchfrage immer gleich bleiben . Ich seh da jetzt irgendwie nicht das Problem, außer das "Märkte" in unserer Gesellschaft ein offenbar negativ besetzter Begriff sind, vielleicht fällt dir ja ein besserer ein. Eine "Marktlogik" in dem Sinne gibt es nicht, abgesehen vom Prinzip des gegenseitigen Anbietens, Annehmens und Ablehnens. Das sagt noch nix aus, ob das Handeln einzelner Personen verwerflich, unmoralisch oder was auch immer ist. Markt ist einfach der Vorgang, wenn Menschen aufeinandertreffen und interagieren und kooperieren. Es gibt zwar wohl keinen Menschen, dem das im täglichen Geschehen jederzeit bewusst ist (mich eingeschlossen), viele Dinge tun wir intuitiv oder gewohnheitsmäßig, aber aus meiner Sicht ist das die Basis unseres Miteinanders.

Und glaub mir. Ich hab durchaus große Hochachtung vor Menschen, die sich für andre einsetzen, ohne einen materiellen Nutzen davon zu haben. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass für die betreffende Person ihr Handeln vielleicht den psychologischen Nutzen hat, von mir (und andren) gemocht zu werden.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Zappa » Mi 2. Jan 2013, 17:01

provinzler hat geschrieben: Markt ist einfach der Vorgang, wenn Menschen aufeinandertreffen und interagieren und kooperieren.

Die Frage ist, wie Du dann noch Markt definierst. Ist dieser Markt noch frei oder erfordert er Regeln? Wird nur über Geld interagiert (ist dieser Markt also ein ökonomischer) oder auch über andere Wege (Wartezeit, soziale Anerkennung etc.). Natürlich spielen immer auch Nützlichkeitserwägungen eine Rolle, wobei Nanna ja schon Beispiele für Handlungen gab, die definitiv allen Akteuren schaden, aber das ist doch ein anderer Begriff des Nutzens, als den, den der Homo oeconomicus angeblich immer abwägt.

Ich denke auch, dass es keinen Sinn macht den Marktbegriff so auszudehnen, zumindest wirst Du damit oft missverstanden werden.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Nanna » Mi 2. Jan 2013, 17:49

Vor allem stellt sich die Frage, inwiefern dann Planwirtschaft nicht einfach eine Sonderform der Marktwirtschaft ist, wenn ALLES menschliche Handeln der Marktlogik folgt. Wenn schon alles Markt ist, braucht man nicht mehr nach mehr Markt zu rufen, oder? Allein die Tatsache, dass dies dennoch dauernd geschieht, zeigt meines Erachtens, dass eben genau nicht alles nach Marktlogik funktioniert.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Gandalf » Do 3. Jan 2013, 00:32

Nanna hat geschrieben:
provinzler hat geschrieben:
Dennoch funktioniert auch das menschliche Miteinander im Grund wie ein Markt.



Du bewegst dich hier mit Riesenschritten auf die Position hin zu, dass alle a) Egoisten und b) homini oeconomici sind.



Der "homo oeconomicus" und/oder quantitative (mathematische) Modelle sind Modelle der 'neokllassische' und neoliberalen' Theorien, - die allesamt versagt haben! - Ich weis nicht wie oft man das noch wiederholen muss, bis dieser Popanz, der immer wieder aus der Schachtel gezogen wird, endlich mal eingemottet wird.

Die Österreichische Schule steht in zentralen Punkten diametral zur aktuellen mainstream-Volkswirtschaft - und beschäftigt sich in wesentlichen Punkten durchaus mit "Moral", da die Bedeutung des einzelnen Menschen - und ihr miteinander - an erster Stelle steht!

Hier nochmal die zentralen Punkte, die allem widersprechen, was bislang von Euch wohl 'als gesetzt' angesehen wird, wenn über den Markt und seine Moral diskutiert werden soll. Und ja - es geht WEIT über "den Markt" in einer Volkswirtschaft hinaus.

Zitat wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96ster ... che_Schule
Als innerhalb der Schule umstritten führt er die folgenden Lehren auf, die insbesondere durch Ludwig von Mises ab den 1960ern in die USA ausstrahlten:[3]

Vollständige Souveränität der Konsumenten: Die Konsumenten drücken ihre Bedürfnisse über die Nachfrage aus. Nur der von Staatseingriffen unbehinderte Markt sorgt durch Wettbewerb dafür, dass permanent (über das Preissystem als Steuermechanismus) die Bedürfnisse der Konsumenten optimal befriedigt werden.
Politischer Individualismus: Nur vollständige ökonomische Freiheit sorgt dauerhaft für politische und moralische Freiheit der Bürger. Ökonomische Beschränkungen führen zur zunehmenden Ausbreitung und Beschränkung politischer und moralischer Freiheit.

Da die unbestrittenen Thesen der Schule bald von allen ökonomischen Schulen anerkannt wurden, sieht Israel Kirzner die Liste als um zwei Punkte ergänzungsbedürftig im Hinblick auf das Spätwerk von Mises’ und von Hayeks an:

Märkte und Wettbewerb als Lern- und Entdeckungsprozess
Individuelle Entscheidungen als Wahl zwischen individuell zu identifizierenden Alternativen in grundsätzlich unbekanntem Kontext.

Die US-amerikanischen Neo-Austrians, die im Wesentlichen durch von Mises und dessen Schüler Murray Rothbard geprägt sind, definieren sich vor allem durch die Abgrenzung zu den neoklassischen und (neo-)keynesianischen, als statisch bezeichneten, Gleichgewichtsmodellen. Jesús Huerta de Soto, ein spanischer Vertreter der Neo-Austrians, hebt als Merkmale dieser speziellen Richtung folgende Lehren hervor:[4]

Ausformung einer universalen Theorie menschlichen Handelns (im Gegensatz zur rein wirtschaftswissenschaftlichen Theorie der Rationalen Entscheidung).
Der wissenschöpfende, kreative Unternehmer als Wirtschaftssubjekt (im Gegensatz zum neoklassischen homo oeconomicus).
Möglichkeit unternehmerischer Fehler (im Gegensatz zur neoklassischen Modell vollständiger Information).
Strenge Unterscheidung zwischen objektivem (wissenschaftlichem) und subjektivem (praktischem) Wissen.
Märkte als Entdeckungsprozess (im Gegensatz zum neoklassischen Modell der vollständigen Konkurrenz).
Subjektive Kostentheorie (im Gegensatz zur neoklassischen objektiven Kostentheorie).
Verbale Logik (im Gegensatz zur neoklassischen mathematischen Formalisierung)
Aprioristisch-deduktive Methode (im Gegensatz zum empirischen Modell).
Unmöglichkeit quantitativer Vorhersagen, sondern Beschränkung auf pattern predictions.
Vorhersage wirtschaftlicher Geschehnisse durch die unternehmerische Fähigkeiten jedes Menschen (im Gegensatz zum Sozialingenieur).



Halten wir doch endlich einmal fest: Es gibt eine volkswirtschaftliche Lehre, die das Gegenteil von dem lehrt, was hier an Behauptungen "über den Markt" herumschwirrt - und die als einzige vergangene Krisen und auch die jetzige Systemkrise (Wirtschaft und Geld, - Demokratie und Moral) exakt vorausgesagt hat. - Und daran hat man sich zu orientieren, will man ernsthaft Fragen beantwortet haben - und nicht an dem, was Konstruktivisten an ihren im Kern faulen Lehren angeblich "besser machen wollen" und "mehr Zeit brauchen", um die unausweichliche Systemfrage zu vermeiden, die sie hinwegfegen wird Die gegenwärtige Krise trifft ja nicht den Kapitalismus, wie immer wieder von dieser "Interessierten Seite" behauptet wird, sondern diejenigen Teile des Systems, die am weitesten planwirtschaftlich-sozialistisch und damit a-moralisch geführt werden. Da aber die Politik niemals das oekonomische Gesetz selbst außer Kraft setzen kann, missinterpretiert sie die Selbstheilungsversuche des Marktes als "schädlich" und nimmt damit den wirtschaftlich und moralischen 'Exitus' in Kauf.

Nanna hat geschrieben:Es ist mir klar, dass man sich hinterher so ziemlich alles zurechtrationalisieren und behaupten kann, dann wäre halt das gute Gewissen der Motivator gewesen, aber das ist nichtmal im Ansatz noch ein gutes, wissenschaftlich brauchbares Modell, weil es keinerlei Prognosefähigkeit mehr besitzt. Es wäre produktiver, herauszufinden, unter welchen Bedingungen Menschen oder welche Menschentypen generell eher Handlungen bevorzugen, die ihnen keinen Marktvorteil verschaffen. Ein gutes Gewissen ist kein Marktvorteil, sorry, soweit müssen wir uns über Marktbegriff ja wohl einig sein können.

Wieso soll eine Handlung, die ihre Ursache nicht in einer (moralischen) Schuld (oder vermeintlichen moralischen Schuld) hat,kein Marktvorteil für ein Individuum sein?

Man stelle sich mal vor, der Erfinder des PC hätte Schuldkomplexe gehabt, derart, wie es in der Anfangszeit die "PC-Stürmer" in den Gewerkschaften uns allen einreden wollten (Massenarbetislosigkeit, Denkfaulheit, etc.?) Wieviele Erfindungen werden verhindert, weil Menschen Schuldkomplexe von bestimmten Ideologen eingeredet werden, die nur dazu dienen der Ideologie zur Herrschaft zu verhelfen und zu zementieren. (z.B. die Religionen spielen ja sehr gut mit diesem Thema, aber auch solche Sachen wie "Energiewende").

Reziproker Altruismus (= gezielt egoistisches Verhalten, das niemand anderem schadet) ist erfüllender als reziproker Egoismus (= gezielt altruistisches Verhalten, nicht um der Konsequenz, sondern um der altruistischen Handlung willen), der mit großer Wahrscheinlichkeit nur Frustration, Gutmenschentum und Abhängigkeiten schafft.

Oder verstehe ich Dich hier falsch?
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Nanna » Do 3. Jan 2013, 01:49

Gandalf hat geschrieben:Reziproker Altruismus (= gezielt egoistisches Verhalten, das niemand anderem schadet) ist erfüllender als reziproker Egoismus (= gezielt altruistisches Verhalten, nicht um der Konsequenz, sondern um der altruistischen Handlung willen), der mit großer Wahrscheinlichkeit nur Frustration, Gutmenschentum und Abhängigkeiten schafft.

Oder verstehe ich Dich hier falsch?

Es sei mal dahingestellt, was erfüllender ist, das ist wohl dem Einzelnen überlassen, das für sich festzustellen; meinthalben magst du recht haben.

Was ich aber eigentlich nur sagen wollte, ist, dass eine zwischenmenschliche Handlung, die als Belohnung nicht mehr als ein gutes Gewissen schafft, z.B. der alten Nachbarin die Einkäufe rauf zu tragen, meines Erachtens nicht sinnvollerweise mit der Marktlogik beschrieben werden kann. Klar kann man das tun, man kann behaupten, die alte Frau bekommt ihre Einkäufe in ihre Wohnung und als Bezahlung gibt es soziale Anerkennung, nur sind wir dann eben schnell dabei, alles als Markt zu bezeichnen, was überhaupt passiert, selbst die Wechselwirkungen von Teilchen kann man wahrscheinlich noch mit solchen Vokabeln belegen. Das geht mir zu weit von der ursprünglichen Bedeutung eines bewussten Tauschhandels weg und ich sehe auch nicht mehr den analytischen oder praktischen Vorteil darin, so zu sprechen. Man muss mit solchen All-Aussagen aufpassen ("Alles ist Markt", "Alles ist Natur", "Alles ist Egoismus", "Alles ist Evolution", "Everyone is special" usw.), weil man - schon rein logisch - damit keine sinnvolle Bezeichnung eines Gegenstands oder Sachverhalts mehr durchführen kann. Was Licht ist, lässt sich ohne Schatten (Nicht-Licht) nicht erklären, genausowenig wie man Markt, Natur, Egoismus, Evolution oder persönliche Außergewöhnlichkeit nicht erklären kann, wenn man nicht bereit ist Nicht-Markt, Nicht-Natur, Nicht-Egoismus, Nicht-Evolution und Nicht-Außergewöhnlichkeit zu definieren. Du kannst ja dein Plädoyer für Marktwirtschaft auch nicht aufbauen, ohne die Planwirtschaft zu kritisieren, d.h. es gibt offenbar Wirtschaftsformen, die nicht auf dem Marktprinzip aufbauen. Und das führt man mit Alles-ist-Markt-Aussagen eben ad absurdum, weil dann ja auch Planwirtschaft eine Sonderform von Marktwirtschaft wäre und man logisch gar nicht gegen sie plädoyieren könnte. Das führt begrifflich einfach nirgendwo mehr hin. Die Schlussfolgerung ist dann aber eben zwangsläufig auch, dass es möglich ist, außerhalb des Markts zu handeln, nach anderen nicht-marktwirtschaftlichen Handlungsprinzipien, etwa moralischen. Luhmanns Systemtheorie gibt einen exzellenten Einblick in die Möglichkeiten, solche alternativen gesellschaftlichen Subsysteme zu abstrahieren.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon provinzler » Do 3. Jan 2013, 04:43

@Nanna:
Nun ja, in der Planwirtschaft wurden bestimmte Märkte (nämlich in erster Linie, diejenigen, die sich auf Güter und Dienstleistungen bezogen) versucht zentral zu steuern. Die Logik des Marktes galt auch hier, weshalb das System auch nicht so wahnsinnig gut funktioniert hat. Von den illegalen Schwarzmärkten mal abgesehen. Märkte gibt es immer, die Marktlogik funktioniert auch immer. Marktwirtschaft ist dass ganze aber nur, wenn nicht einzelne Gruppen das Vorgehen auf diesen Märkten massiv gewaltsam im eigenen Sinne zu beeinflussen suchen. Wie aktuell beim Thema finanzieller Repression. Der Markt für Staatsanleihen der Eurozone ist seit etwa 10 Jahren weitgehend planwirtschaftlich organisiert (auch wenns vordergründig anders aussieht). Das Gesetz von Angebot und Nachfrage gilt schon noch und steuert sogar noch den Preis. Nur wird der größte Teil an Nachfrage durch Zwangsmaßnahmen geschaffen (über die Regulatorik für Banken und Versicherer).

@Zappa:
Man muss zweierlei unterscheiden:

1. Die Gesetze der Marktlogik: Diese sind so ähnlich wie Naturgesetze nicht wirklich veränderbar. Wer daran rumpfuscht, kriegt unweigerlich Interventionitis. Also schafft durch sein Eingreifen Probleme, die ein noch stärkeres Eingreifen erfordern, was wiederum noch größere Probleme schafft. Wer versucht eine der drei zentralen Größen (Angebot, Nachfrage, Preis) in einem Markt zu manipulieren, schafft damit Probleme.

2. Regeln für das Verhalten der Marktteilnehmer untereinander. Davon gibt es wiederum zweierlei. Formelle und informelle. Zu ersteren gehört etwa das Einhalten von Verträgen. Eine informelle Regel hingegen stellt in den meisten Fällen das Tragen bestimmter Kleidungsarten in bestimmten Berufsgruppen dar. Diese Regeln beeinträchtigen die drei zentralen Größen nicht.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon fopa » Do 3. Jan 2013, 08:13

Nanna hat geschrieben:Man muss mit solchen All-Aussagen aufpassen ("Alles ist Markt", "Alles ist Natur", "Alles ist Egoismus", "Alles ist Evolution", "Everyone is special" usw.), weil man - schon rein logisch - damit keine sinnvolle Bezeichnung eines Gegenstands oder Sachverhalts mehr durchführen kann. Was Licht ist, lässt sich ohne Schatten (Nicht-Licht) nicht erklären, genausowenig wie man Markt, Natur, Egoismus, Evolution oder persönliche Außergewöhnlichkeit nicht erklären kann, wenn man nicht bereit ist Nicht-Markt, Nicht-Natur, Nicht-Egoismus, Nicht-Evolution und Nicht-Außergewöhnlichkeit zu definieren.
Dem möchte ich widersprechen. Du kannst beispielsweise auch die Gravitationsbeschleunigung (mit einem wissenschaftlichen Modell) erklären, ohne eine Anti-Gravitationskraft oder ähnliches zu definieren. Wir brauchen nicht für jede Erkenntnis einen Kontrast.
Beim Begriff "Markt" müssen wir uns fragen, was wir eigentlich beschreiben wollen: Ist es eine Wirtschafts- oder Gesellschaftsform, für die wir uns bewusst eintscheiden? Oder meinen wir ein Modell, das beobachtbare Geschehnisse erklärt? Bei ersterem brauchen wir tatsächlich Alternativen, denn sonst hätten wir für eine Entscheidung keine Wahl. Bei letzterem ginge es prinzipiell auch ohne Alternativen.

Wie @provinzler gesagt hat: Die Logik des Marktes (im Sinne eines Erklärungsmodells) funktioniert immer. Bloß ist die Bezeichnung "Markt" wegen der Mehrdeutigkeit unglücklich. Letztlich sind die Gesetze, die man meint, diejenigen der Systemischen Evolutionstheorie, die hier im Forum ja auch schon durchgekaut wurde. In diesem Zusammenhang finde ich das Wort "Egoismus" auch nicht gut gewählt, denn es impliziert ein Individuum "Ego", das für sich selbst das Beste zu erreichen sucht. Meiner Ansicht nach beschreibt dies aber weder den Menschen, noch irgendein anderes Lebewesen zutreffend, denn meistens gibt es mehrere Beweggründe, die in verschiedene Richtungen streben. Das können genetisch veranlagte Verhaltensweisen sein, "Meme" oder Erfahrungswerte. Wenn jemand einer alten Frau beim Tragen der Einkäufe hilft, ist das kein Egoismus des Individuums, und es lässt sich mit der oberflächlichen Marktlogik nicht erklären. Aber es lässt sich mit angeborenem sozialen Verhalten erklären, das deswegen existiert, weil es sich im Laufe der Evolution als nützlich herausgestellt hat (oder zumindest nicht als schädlich). Es könnte sich auch damit erklären lassen, dass die helfende Person die Erfahrung gemacht hat, eventuell materiell belohnt zu werden, sodass die Hoffnung darauf die Motivation für die Hilfe ist. Also auch wieder "Markt".
Statt "Egoismus" sollte man meiner Ansicht nach als besser "Streben nach Eigennutz" verwenden, wobei sich dieses Streben nicht auf das Individuum Mensch bezieht, sondern auf das, was ihn antreibt: Bedürfnisse, Meme, Gene. Unter diesem Begriff lässt sich dann auch Märtyrertum und Altruismus erklären. Ob einzelne Handlungsweisen einem Individuum nützlich erscheinen, hängt nun mal von dessen Bewertungskriterien und beschränkter Sichtweite ab. Ob sie tatsächlich erfolgreich sind, wird sich immer erst in der Zukunft zeigen. Insofern lässt "der Markt"/"die Evolution" auch Verhaltensweisen zu, die wider die "Marktgesetze" laufen - sie sind halt einfach zum Scheitern verurteilt.

So weit das Erklärungsmodell. Was man daraus für Konsequenzen für Wirtschaft und Soziales zieht, ist eine komplett andere Frage. Man könnte auch Kommunismus und Planwirtschaft einführen, selbst wenn man sich der oben genannten Mechanismen bewusst ist. Es ist noch nicht einmal gesagt, dass so etwas nicht erfolgreich sein könnte. (Bloß hypothetisch gedacht und nicht meine Vision. :^^: )
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon mat-in » Do 3. Jan 2013, 10:12

Was auf der Liste irgend wie fehlt ist, das man manche Dinge nicht ausrechnet obwohl man es könnte (das klingt bei den bedrohten Tieren ein wenig an). Es rechnet zum Beispiel niemand nach, was Öl eigentlich Wert ist und was daher an kosten auf uns zukommt wenn es nicht mehr "kostenlos" im Boden rumliegt oder was es uns Kosten wird, die Sauerstoffmenge und Luftfilterung des Regenwalds technisch herzustellen, wenn er mal weg ist. Ähnlich gelagert sind Loyalität und Motivation von Angestellten. Nur noch zu 2/3 Lohn über eine Zeitarbeitsfirma angestellt zu werden oder von 2-jahres-Vertrag zu 2-jahres-Vertrag zu pendeln, immer beim Unterschreiben schon auf der Suche nach dem nächsten Job? Das muß ein Unternehmen bares Geld kosten, es will nur keiner ausrechnen. Selbst wenn man es mal ausrechnet, wird es dann mutwillig aus aktuellen Formeln raus gehalten, man zurrt die Scheuhklappen enger und weiter gehts...
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Julia » Do 3. Jan 2013, 12:15

fopa hat geschrieben:Du kannst beispielsweise auch die Gravitationsbeschleunigung (mit einem wissenschaftlichen Modell) erklären, ohne eine Anti-Gravitationskraft oder ähnliches zu definieren.

Nun, die Beschleunigung hat ein Gegenteil. Du wirst auch zugeben müssen, dass der Begriff Beschleunigung keinen Sinn mehr macht, wenn er jede Form von Bewegung, auch die eigentlich nichtbeschleunigte beschreibt. Wenn ich zum Beispiel sage: Jede Bewegung ist beschleunigt, manche eben mit einer Beschleunigung von Null. Dann hilft der Begriff nicht mehr abzugrenzen und man kann gleich auf ihn verzichten.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Julia » Do 3. Jan 2013, 12:19

mat-in hat geschrieben:oder von 2-jahres-Vertrag zu 2-jahres-Vertrag zu pendeln, immer beim Unterschreiben schon auf der Suche nach dem nächsten Job?

Genau so male ich mir meine Karriere in der Wissenschaft aus. :down:
So gut wie am Anfang (3 Jahresvertrag während der Doktorarbeit) geht es einem die nächsten Jahre nicht mehr...
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Nanna » Do 3. Jan 2013, 14:17

Julia hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Du kannst beispielsweise auch die Gravitationsbeschleunigung (mit einem wissenschaftlichen Modell) erklären, ohne eine Anti-Gravitationskraft oder ähnliches zu definieren.

Nun, die Beschleunigung hat ein Gegenteil. Du wirst auch zugeben müssen, dass der Begriff Beschleunigung keinen Sinn mehr macht, wenn er jede Form von Bewegung, auch die eigentlich nichtbeschleunigte beschreibt. Wenn ich zum Beispiel sage: Jede Bewegung ist beschleunigt, manche eben mit einer Beschleunigung von Null. Dann hilft der Begriff nicht mehr abzugrenzen und man kann gleich auf ihn verzichten.

Ich hätte jetzt zu einer wortreichen Erklärung angesetzt, aber Julia hat es viel sparsamer auf den Punkt gebracht.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Zappa » Do 3. Jan 2013, 18:55

provinzler hat geschrieben:1. Die Gesetze der Marktlogik: Diese sind so ähnlich wie Naturgesetze nicht wirklich veränderbar. Wer daran rumpfuscht, kriegt unweigerlich Interventionitis. Also schafft durch sein Eingreifen Probleme, die ein noch stärkeres Eingreifen erfordern, was wiederum noch größere Probleme schafft. Wer versucht eine der drei zentralen Größen (Angebot, Nachfrage, Preis) in einem Markt zu manipulieren, schafft damit Probleme.

Welche Gesetze welches Marktes meinst Du? Die real beobachtbarer Märkte oder die eines theoretischen, libertären Marktmodells das noch nie irgendwo funktioniert hat? Die "Gesetze" realer Märkte sind natürlich jederzeit veränderbar, da Sie gesellschaftlichen Konventionen entsprechen. Und in realen Märkte wird an den drei zentralen Größen ständig rummanipuliert, nicht nur durch "den Staat".

Aber darum geht es ja auch gar nicht: Würdest Du den anhand der von mir zitierten Beispiele zugeben, dass Sandel hier eine vernünftige Unterscheidung zwischen Marktregeln und Regeln, die auf anderen Werten fußen macht? Oder würdest Du die Grenzen anders ziehen (Individuum/Kollektiv?) und wenn ja wie? Oder ist für Dich wirklich alles den naturgesetzlichen Marktregeln unterworfen, was ich mir nicht vorstellen kann.

provinzler hat geschrieben: 2. Regeln für das Verhalten der Marktteilnehmer untereinander. Davon gibt es wiederum zweierlei. Formelle und informelle. Zu ersteren gehört etwa das Einhalten von Verträgen. Eine informelle Regel hingegen stellt in den meisten Fällen das Tragen bestimmter Kleidungsarten in bestimmten Berufsgruppen dar. Diese Regeln beeinträchtigen die drei zentralen Größen nicht.

Naja, wenn Du das geduldige Anstehen in einer Warteschlange mal als informelle Regel durchgehen lässt, denn vertraglich geregelt ist es ja nicht, dann wird durch das Brechen dieser Regel der Preis für das knappe Gut schon rasant angehoben. D.h. diese informellen Regeln oder Werte (da gibt es noch mehr, z.B. dass man Kinder nicht verkaufen soll, Strafen keine Gebühren sind, persönliche Reden nicht gekauft werden sollten etc. pp.) haben natürlich einen Einfluss auf das Marktverhalten des Menschen und umgekehrt noch viel mehr.

Ich glaube das es Sandel vor allem auf die Widerlegung des von Dir hier vorgetragenen zweiten Arguments ankommt.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Zappa » Do 3. Jan 2013, 18:56

Nanna hat geschrieben: Ich hätte jetzt zu einer wortreichen Erklärung angesetzt, aber Julia hat es viel sparsamer auf den Punkt gebracht.

Tja, dass ist halt der Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern :mg:

*duck und wech*
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Zappa » Do 3. Jan 2013, 19:10

mat-in hat geschrieben:Was auf der Liste irgend wie fehlt ist, das man manche Dinge nicht ausrechnet obwohl man es könnte ...

Was Du hier zu Recht ansprichst, sind die sogenannten Externen Effekte (-> https://de.wikipedia.org/wiki/Externer_Effekt ) ein weiterer Kritikpunkt an der angeblichen Funktionsfähigkeit eines auf den in Stein gemeißelten Marktgesetzen fußenden Marktgeschehens. Die kann man natürlich "einpreisen", indem man z.B. als Elternteil darauf Rücksicht nimmt (klar egoistisch, dass wollen meine Gene so :mg: ) oder auch nicht (wenn ich Singel bin?); aber auch hier drehen wir uns dann argumentatorisch im Zirkel: Wenn alles Markt ist, alles Eigeninteresse, alles im ökonomischen Wortsinn eingepreist werden kann (oder soll?), machen die Begriffe keinen Sinn mehr.

Es macht keinen Sinn die öknomischen Gesetzte so auszudehnen, dass man eine moralische Pflicht auf die Umwelt Rücksicht zu nehmen, die Würde des Menschen oder des Tieres zu respektieren, auf Begriffe wie Ehre und Anstand zu reflektieren, dann als einfaches egoistisches Marktverhalten zu definieren. Das habe ich nie verstanden, was das erhellen soll.

Darum ging es Sandel in dem Buch aber nicht (allerdings klingt das in der Tat in dem Jagdbeispiel an), da es eher ein innerökonomisches, theoretisches Problem ist. Für Sandel als politischer Philosoph ist das ja eh klar, dass es Werte und Normen gibt, die mit der Marktlogik kollidieren.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon Vollbreit » Do 3. Jan 2013, 19:29

Zappa hat geschrieben:In dem Kapitel bringt er noch ein anderes hübsches Beispiel aus einem Kanton der Schweiz: Die Kantonisten wurden in Version 1 gefragt ob sie damit einverstanden wären, dass das nukleare Endlager der Schweiz (so was sei ja nun mal nötig) in ihrem Kanton realisiert werden könnte. Unabhängige Experten seien halt der Meinung, dass unter Berücksichtigung aller Faktoren dieser Standort der beste sei. Eine knappe Mehrheit war dafür. Version 2: Zusätzlich wurde den Leuten eine Prämienzahlung in Aussicht gestellt. Ergebnis: Die Mehrheit war dagegen!

Warum: In der ersten Version war die knappe Mehrheit der Meinung dem Vaterland/der Gemeinschaft einen Dienst zu erweisen. Unangenehm, aber halt nicht zu vermeiden. In Version 2 fühlten sich die Leute "bestochen" und lehnten das mehrheitlich ab. Wo ist das die Marktlogik?


Doch, man kann da schon „Marktlogik“ unterstellen. Man sagt einfach, dass der antizipierte Gewinn beim nationalen Gefühl größer ist, als das Opfer, beim Gefühl betuppt zu werden jedoch nicht. Es gewinnt der größte Nutzen und zwar immer.

Aber genau das ist das Problem. Die Nullaussage. Wenn man eine Nullaussage allerdings mit Pfeildiagrammen darstellt, wird daraus ganz was Anspruchsvolles.
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Re: Moralische Grenzen des Marktes

Beitragvon provinzler » Do 3. Jan 2013, 20:22

Es geht eigentlich nur darum, dass es in der Interaktion von Menschen (in diesem Fall der wirtschaftlich motivierten) bestimmte "Grundgesetze", deren Infragestellen ähnlich zielführend ist, wie ein Anzweifeln der Gravitation. Eins der Gesetze ist, dass Kapital in der Summe sich von Orten niedriger erwarteter Realrenditen zu Orten hoher erwarteter Realrenditen hinbewegt. Ein weiteres ist, dass der Mensch (und darauf wollte ich hinaus) aus der Summe seines Handelns einen Nutzen ziehen will. Kein Mensch wird freiwillig einen Job gut machen, an dem er weder Spaß hat noch dass er ihn materiell erheblich besser stellt, als er das ohne den Job wäre. Wie das geht, haben die Menschen in der DDR gezeigt. Man fährt nen Gang zurück, arbeitet bissl schwarz und züchtet Kaninchen. Als eine Astrid Lindgren in Schweden einen Steuersatz von 102% berappen musste, hatten viele Arztpraxen nur ein oder zwei Mal die Woche geöffnet. Mehr lohnte sich nicht. Schätze mal der graue Arbeitsmarkt trägt in durchaus erheblichem Maß zur Wertschöpfung und mithin zum allgemeinen Wohlstand bei. Und das dürfte egal wo auf der Welt nicht anders funktionieren...
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