Fisherman's Fellow hat geschrieben:Sisyphos hat geschrieben:Warum ist bekenntnisorientierter Religionsunterricht an der staatlichen Schule überhaupt notwendig, ....
wenn angeblich nur über Religion informiert werden soll (was Ethik auch tut),
Unterschied zwischen Innen- und Außenperspektive: Wenn ich eine Feuerwehrspritze erklärt bekomme, macht es auch einen großen Unterschied, ob ich Mitglied in der Feuerwehr bin oder nicht.
Gut, das leuchtet ein. Aber warum in der Schule die Innenperspektive?
Fisherman's Fellow hat geschrieben:Sisyphos hat geschrieben:wenn christliche Glaubensinhalte bei einer Abiturientenbefragung möglicherweise gar nicht vorhanden wären,
Ich hatte Reli im Abi als mündliches Prüfungsfach. Es war geil.
Das ist jetzt aber kein sehr starkes Argument....

Fisherman's Fellow hat geschrieben:Sisyphos hat geschrieben:wenn gläubige Schüler ein viel besseres Angebot religiöser Erziehung in ihrer Gemeinde erfahren und
Hier liegt der Hase im Pfeffer, und ich halte das auch für ein starkes Argument, warum auch Atheisten an einem öffentlich-rechtlichen Religionsunterricht interessiert sein sollten:
Tatsache ist, dass das Gemeindeangebot für Jugendliche in 90% von allen Fällen schlechter ist als der Religionsunterricht. Denn viele Pfarrer sagen: Was solls - wir haben doch den Religionsunterricht!
Wenn dieser nun gekippt würde, wären die Kirchen gezwungen, ein eigenes, nicht mehr öffentlich-rechtliches Angebot für Jugendliche aufzubauen. Das würden sie mit Sicherheit auch leisten: Sonntagsschulen, Freizeiten, kirchlicher Nachmittagsunterricht. Wenn man die historischen und organisatorischen Beispiele betrachtet, ist folgender Trend vorherzusehen: Ein Teil der Jugendlichen wird aus Desinteresse nicht hingehen und aus der kirchlichen Sphäre ausscheiden. Die übrigen aber werden genau das erfahren, was Du dem Reliunterricht unterstellst, weil keine öffentlich-rechtliche Kontrolle mehr besteht: eine religiös-christliche Kaderschmiede, und zwar echt attraktiv gemacht, mit regelmäßigen Jugendgottesdiensten, in denen wenigstens jedes Mal ein Drittel der Teilnehmer bei speziell geschulten Leuten ein persönliches Bekenntnis mit Beichte und feste glaubensbekennendem Hurra ablegen werden. Viele amerikanische Kirchen warten schon darauf, dass die deutschen Christen die von ihnen angebotene Hilfe in Sachen Bimsung endlich annehmen.
Also die Kirchen vertrauen sich selbst nicht? Sie halten am RU fest, um zu vermeiden, dass ihre Pfarrer kleine Kaderschmieden aufbauen?
Ich denke, das Ausscheiden der Schüler aus Desinteresse ist schon eher ein Grund. Das spricht aber nicht gerade für den RU. Zum einen lassen sich also mit dem RU Schüler auch zwingen (sofern sie noch nicht "religionsmündig" sind). Zum anderen scheiden sie aber auch aus dem RU scharenweise aus, sobald sie selber entscheiden können. Meine eigenen Ethikgruppen werden ab den Klassenstufen 8/9 etwas größer.
Fisherman's Fellow hat geschrieben:Sisyphos hat geschrieben:wenn Religionslehrer sich angeblich fast alle weltanschaulich neutral verhalten (was in Ethik auch der Fall ist)?
Niemand verhält sich weltanschaulich neutral und am allerwenigsten der, welcher das von sich behauptet.
Ich bin Ethiklehrer und Lehrer für politische Bildung. Die berufliche Professionalität allein fordert das neutrale Verhalten. Aus dem Politikunterricht kennen wir den "Beutelsbacher Konsens". Er beinhaltet das weltanschauliche Überwältigungsverbot und den Kontroversitätsgrundsatz. Jeder Lehrer, der über sein Verhalten im Unterricht reflektiert und sich bewusst an diese Grundsätze hält, verhält sich in seiner Lehrerrolle tatsächlich neutral. Der Beutelsbacher Konsens wurde damals aufgestellt, als Eltern sich beklagten, dass die Politiklehrer ihrer Kinder Parteimitglieder sind. Das ist auch heute noch in vielen Fällen so, aber es ist - von Einzelfällen abgesehen - kein Problem mehr. Ich wende diese Grundsätze auch auf meinen Ethikunterricht an.
Natürlich ist jeder Lehrer auch ein Mensch mit einem Weltbild. Zur beruflichen Professionalität gehört eben auch ein Stück Authentizität. Wenn Schüler mich nach meiner Meinung fragen, bekommen sie auch eine Antwort - ohne Überzeugungsattitüden. Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, was ihr Lehrer in einer politischen oder weltanschaulichen Frage denkt. Schüler wollen sich mit Lehrern auch identifizieren oder reiben. Das ist völlig okay.
Im RU, der ja bekenntnisgebunden ist und wo alle aus ihrer Innenperspektive heraus die Welt betrachten, ist eine solche Herangehensweise nicht in der Form möglich. Es gibt sicher viele RU-Lehrer, die sich da - in meinen Augen - ganz vorbildlich verhalten. Aber der Spielraum für - diplomatisch ausgedrückt - wenig flexibles Lehrerverhalten ist doch recht groß. Einer meiner Kollegen kam ursprünglich als römischer Missionar nach Deutschland. Was ich gelegentlich von Schülern sogar aus seinem Lateinunterricht erfahre, bestätigt meine Befürchtungen. Ein feiner Kerl und netter Mensch. Aber ohne Gott kann er eben keinen Unterricht machen...

Fisherman's Fellow hat geschrieben:Sisyphos hat geschrieben:Was bleibt dann noch übrig als Rechtfertigung für den Religionsunterricht?
Siehe oben. Abgesehen davon ist der RU ein gutes Mittel der gegenseitigen Kontrolle von Staat und Kirche. Nicht, dass die Kirchen den Staat am totalitär-Werden hindern könnte oder dass der Staat eine Kirche hindern könnte, sich in ein dogmatisches Bollwerk zu verwandeln, aber am Indikator "Religionsunterricht" ist doch sehr fein zu spüren, wohin die Reise geht.
Gegenseitige Kontrolle von Staat und Kirche? Wozu sollten die Kirchen den Staat kontrollieren? Die Mechanismen der staatlichen Gewaltenteilung funktionieren sehr gut. Mit dieser Aussage maßen sich die Kirchen an, in Sachen Moral und Ethik letzten Endes über dem Staat zu stehen.
Natürlich sind in einer Demokratie die Bürger dazu angehalten, die Augen offen zu halten. Aber die Mittel der politischen Teilhabe sind andere. Ganz sicher ist der Unterricht kein Mittel von Bürgern und Vereinigungen, ihren Staat zu kontrollieren.
Fisherman's Fellow hat geschrieben:Sisyphos hat geschrieben:Und dass der Staat die Deutungshoheit an staatlichen Schulen besitzt (Fächerkanon, Stundentafel, Lehrpläne), das ist ja wohl das Mindeste, das ich von einem säkularen, weltanschaulich neutralen Staat erwarten kann.
Ich weiß nicht, wer Dir die Mär vom weltanschaulich neutralen Staat erzählt hat, aber die ist in etwa so wahr wie die Behauptung, dass der Weihnachtsmann durch einen Kamin klettern kann.
Unser Staat vermittelt als Weltanschauung die heile-Welt-Botschaft von Freiheit, Demokratie und Toleranz so gebetsmühlenhaft und penetrant, dass wir schon gar nicht mehr merken, wie viele Freiheiten uns schon genommen wurden und für wie dumm wir verkauft werden.
Der deutsche Staat als solcher ist (relativ!) weltanschaulich neutral - im Gegensatz etwa zum Iran oder zu Nordkorea. Der neutrale Staat bildet den Rahmen für das Handeln von Akteuren, die dies nicht sind (Parteien, Verbände etc.). Nur durch die Neutralität des Staates wird gewährleistet, dass jeder das gleiche Recht auf Teilhabe hat. In Deutschland werden die Kirchen vom Staat auf unzulässige Weise anderen Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber priviligiert und subventioniert. Insofern gebe ich dir recht. Das Ideal, das ich anstrebe, ist noch nicht ganz verwirklicht.
Fisherman's Fellow hat geschrieben:Sisyphos hat geschrieben:Mit welchem Recht werden Kinder in einem Alter, in dem sie noch gar nicht selbstständig darüber befinden können, zu einem Glauben erzogen?
Mit dem Recht, das "elterliche Verantwortung" heißt. Kinder brauchen Glauben. Sie werden mit einem tiefen Glauben geboren, auch wenn sie dafür keinen Begriff haben. Meistens wurde ihnen im Bauch auch die Gewißheit gegeben, dass sie sehr geliebt sind. Und Religionen haben die Aufgabe, den Menschen diese Gewissheit zu bewahren und zu erneuern und in ihnen diesen Glauben heranreifen und erwachsen werden lassen, durch alle Wechselfälle des Lebens hindurch.
Genau das tut "Weltanschauungskunde" nicht.
Woher willst du wissen, dass Kinder einen Glauben brauchen? Belege?
Woher willst du wissen, dass Kinder mit einem Glauben geboren werden? Belege?
Mütter lieben ihre Kinder. Das ist ganz natürlich, sonst würden sie sich nicht um sie kümmern. Was hat das mit Religion zu tun?
Dass Kindern im Mutterleib schon irgendetwas vermittelt werden kann, ist eine Mär. Was ist Gewissheit?
Warum unterstellst du Kindern, deren Bewusstsein und Wahrnehmungsfähigkeit noch nicht einmal ansatzweise dem eines Hundes entspricht, sie verfügten über derart Abstraktes wie Gewissheit?
Ich selbst:
Ich wurde ohne Glauben geboren.
Ich hatte nie das Bedürfnis zu glauben.
Ich konnte mich auf die Liebe meiner Eltern immer verlassen, ohne Glauben.
Ich bin trotzdem kein Mangelwesen.
Das geht etwa 75-80% der ostdeutschen und ca. 20% der westdeutschen Bevölkerung so.
Fisherman's Fellow hat geschrieben:Sisyphos hat geschrieben:Wäre es nicht viel fairer und vernünftiger den Kindern gegenüber, sie erst in einem Alter vor die Wahl bezüglich verschiedener Weltanschuungen zu stellen, in dem sie frei darüber entscheiden können?
Kinder brauchen Maßstäbe und sie brauchen eine Heimat. Wenn sie die nicht kriegen, suchen sie sich woanders welche. Viele Erwachsene, die als Kinder in dieser Hinsicht von ihren Eltern im Stich gelassen wurden, hassen ihre Eltern dafür.
Wer sagt denn, dass diese Maßstäbe, die in der Primärsozialisation zweifelsfrei eine große Rolle spielen, zwingend religiös abgeleitet werden müssen? Und was ist schlimm daran, wenn sich Kinder und Jugendlich selbst Maßstäbe (=Ethiken) für ihr Leben suchen? (Die Ursachen etwa für rechtsextreme oder andere problematische Einstellungen liegen woanders.) Wie viele Kinder hassen ihre Eltern dafür, nicht religiös erzogen worden zu sein? Oder: Wieviele Kinder nehmen ihren Eltern genau das Gegenteil übel, weil sie sich ihre Mündigkeit in weltanschaulichen Dingen erst wieder mühsam erkämpfen mussten?