Blog-Beitrag: Mahatma Gandhi: ein Atheist?

Blog-Beitrag: Mahatma Gandhi: ein Atheist?

Beitragvon Sisyphos » Mi 23. Mai 2007, 18:36

Mahatma Gandhi: ein Atheist?

Mohandas K. Gandhi ist uns bekannt als eine der beeindruckendsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Der Mann, der bei der Erlangung der Unabhängigkeit Indiens von britischer Kolonialherrschaft einen entscheidenden Beitrag geleistet hat, wird von vielen Indern noch heute als "father of the nation" verehrt und hat weltweit Anhänger, die ihm die Bedeutung eines Jesus beimessen. Gandhis Methoden des Widerstands gründeten auf dem indischen Konzept der "ahimsa" (Gewaltfreiheit) und seine politische Rhethorik war religiös. Gandhi war zweifelsfrei ein frommer Hindu. Doch es gibt Hinweise, die darauf schließen lassen, dass er gegen Ende seines Lebens zunehmend säkularer dachte und möglicherweise sogar bereit gewesen sein soll, den Glauben an Gott aufzugeben. Mahatma Gandhi ein Atheist?

Schauen wir uns die Sache genauer an. Anhaltpunkte könnten Gandhis Bestebungen sein, sowohl die religiös begründete Inhumanität (Kastensystem, Unberührbarkeit, Unterdrückung der Frau) zu beseitigen als auch seine Forderungen nach der Trennung von Staat und Religion. Er wollte vermeiden, dass eine Hindu-Mehrheit über eine Moslem-Minderheit herrscht. Diese politischen Ziele können aber noch nicht in einen Zusammenhang mit einem eventuellen atheistischen Weltbild gebracht werden.

Besucht man das von einem Mann namens Gora gegründete Atheist-Center in Vijayawada (Indien), trifft man auf Menschen, die sehr großen Wert auf die Bekanntschaft der beiden Widerstandskämpfer Gandhi und Gora legen. Von ihnen erfährt man, dass Gandhi seine frühe Prämisse "god is truth" später zu "truth is god" (die man sich vielleicht im Sinne von "Die Wahrheit hat die Funktion Gottes" vorstellen muss) verkehrt hat. Aber an einen Paradigmenwechsel allein aufgrund einer Wortverdrehung mag man noch nicht so recht glauben. Immerhin lässt sich im Nachhinein immer viel hinein interpretieren. Interessant in diesem Zusammenhang dürfte Gandhis eigener Religionsbegriff sein, wie er sich bei Dieter Conrad findet:

"[...] seine Intention ging beständig weg von der besonderen Religion, ihrer unterschiedlichen Ausprägung und allem, woran das Interesse der Religionspolitiker hing, durch sie hindurch auf ihre Grundbedingung, die er im eigentlichen Sinne Religion nannte. Diese eine Religion - hier deutlichkeitshalber vielleicht wiederzugeben als Religiosität oder Frömmigkeit - hielt er für das wahre religiöse Faktum, gemeinmenschlich wie die Vernunft. [...] Religion in diesem Sinne bedeutete die ständige Relativierung der von ihr selbst hervorgebrachten, unterschiedlichen Ausprägungen, der Religionen also, vor allem aber die Aufhebung ihrer unvernünftigen Antagonismen. [...]"

(Dieter Conrad (2006): Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt. Wilhelm Fink Verlag München, S. 51-52.)


Das erklärt, warum Gandhi - formell ein Hindu - die mit dem Hinduismus verbundenen Unmenschlichkeiten so vehement bekämpfte. Aber selbst nach Aufhebung bzw. Relativierung der eigenen besonderen hinduistischen Wurzeln blieb Gandhi ein Mensch, der sich selbst als religiös, fromm und spirituell betrachtete, sich so äußerte und so handelte. Der Weg zum Atheismus bleibt weit. Vielleicht hilft es uns, die Gleichsetzung "god is truth" bzw. "truth is god" näher zu betrachten. Gora ging in einem seiner Bücher näher auf Gandhis Gottesverständnis ein (Hervorhebungen von mir):

"[...] The assassination of Gandhiji meant a terrible loss to civilization; it is as much a loss to atheism. I was eagerly looking forward to the opportunity to discuss atheism with him at length. I was already close to him. The discussion would have taken me closer. This I say with confidence because of my experience with him. He had not been averse to my atheism nor did his god scare me away. He appreciated a principle far more for its efficacy than for its mere academic or intellectual considerations. His primary concern was humanity. On account of this deep concern, he could proclaim boldly: "I can neither say my theism is right, nor your atheism is wrong." [...]

Apart from the consideration whether the alternative which was offered by Gandhiji to the congress pledge was theistic or atheistic in nature, it was noteworthy that he moved from 'God' to 'some power which may or may not be divine' in order to accommodate me. So, I think, what was important to him was not so much the concept of god, but how far the belief or non-belief in god contributed to the commonweal. It was, perhaps, with this view that he agreed to drop the mention of god from the form of my daughter's marriage; he allowed my son-in-law to sit at the prayers without reciting the verses; he called himself a super-atheist and he wished the communities took to atheism if that 'served to stop communal hatred and riot'.

From 'Raghupati Raghava' to atheism might seem a wide leap. But to Bapuji who was pre-eminently a practical humanitarian, it was simple to negotiate where and when he felt the interests of humanity needed it. Within my knowledge, there was visible change in his attitude towards atheism between 1941 and 1948. In his letter to me dated 11-9-'41, he said, "Atheism is a denial of self. No one has succeeded in its propagation." But by 1946, while stating emphatically the difference between him and me, he was willing to leave to the future to judge whether the theistic or the atheistic thought was better. In 1948, he agreed to perform the marriage of my daughter dropping out the reference to god from the form of the ceremony.

Thus Bapuji's mind was "ever growing, ever moving forward". (Harijan, 28-7-'48 ). He was moving humanity and he was moving with humanity. He started with a humanity that believed in god of the 'Raghupati Raghava' type. As he pushed forward, he passed through the stages of 'God is Truth' and 'Truth is God'. He never allowed old forms to hamper the progress. If he felt that the progress of humanity required leaving god altogether, I am sure, he was not the man to hesitate. [...]"

(Gora: An Atheist with Gandhi, Chapter X: Gandhi's God, http://www.positiveatheism.org/india/gora11.htm#TOP)


Gandhis Gottesverständnis und in diesem Zusammenhang seine Beurteilung des Atheismus scheint sich also gewandelt zu haben. Gandhi war kein Dogmatiker, sondern Pragmatiker. Wann immer etwas dem sozialen Fortschritt im Wege stand, war er bereit, es zu überwinden. Ob Goras Prognose, dass Gandhi dafür tatsächlich auch den Glauben an Gott aufgeben würde, sich bewahrheitet hätte, wissen wir nicht. Gandhi wurde ja 1948 ermordet - bei einem Gebet übrigens.

Man könnte versuchen, die Etappen der Veränderung seines Glaubens nachzuzeichnen:

1. Gandhi als frommer Hindu, der er - formell - bis ans Ende seines Lebens geblieben ist.

2. Gandhi als Hindu, der Elemente anderer Religionen in seinen Glauben integriert (eine Art multireligiöses Amalgam). Gandhi hat sich schon sehr früh von Christen und westlichen Denkern beeinflussen lassen. Aber auch Auseinandersetzung mit dem Koran, dem Buddhismus, dem Sikhismus etc.

3. Gandhi, der die konkrete Ausprägung der spezifischen Religionen zugunsten eines allgemein-grundlegenden Religionsbegriffs relativiert (Religion heißt nur noch Frömmigkeit, Religiosität, Spiritualität).

4. Gandhi, der Religion daran misst, ob sie dem Ziel des sozialen Fortschritts dient oder nicht, der also (möglicherweise) bereit ist, den Glauben an Gott zugunsten eines "positiven Atheismus" aufzugeben, wenn es der Menschlichkeit dient.

Man muss feststellen, dass sich Gandhi vom Hinduismus emanzipiert hat, so weit, dass fundamentale Hindus ihn deswegen (und natürlich auch wegen seiner darauf aufbauenden Politik) schließlich ermordeten. Die Antwort auf die einleitende Frage bleibt natürlich reine Spekulation. Wo Gandhi aber Gora gegenüber offen den Atheismus erwägt, stellt er Gott radikal in Frage. An dieser Stelle hätte er sich erklären müssen: Entweder mit dem Eingeständnis, sich sein ganzes Leben in der Annahme der Existenz Gottes bzw. des Göttlichen geirrt zu haben, oder in der Aussage, er hätte immer schon die Wahrheit alles Seienden, das Immanente verehrt und angebetet ("truth is god").
Zuletzt geändert von Sisyphos am Mi 23. Mai 2007, 19:02, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Klaus » Mi 23. Mai 2007, 19:00

Gandhi war kein Dogmatiker, sondern Praktiker.


Wäre da nicht "Pragmatiker" besser, also nach meinem Verständnis?
Ansonsten raus damit :^^: , aufs Blog
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Beitragvon Sisyphos » Mi 23. Mai 2007, 19:04

Habe das geändert. Danke. (Als Philosoph war er Praktiker, weniger Theoretiker. Daher wohl die Begrifflichkeit.)
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Beitragvon Klaus » Mi 23. Mai 2007, 19:12

:irre: Können Philosophen Praktiker sein?
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Beitragvon Sisyphos » Mi 23. Mai 2007, 19:22

Ja, er hat nur von anderen verlangt, wozu er auch selbst in Lage war. Seine Lebensgeschichte beschreibt er als Geschichte von Experimenten (mit Gewaltlosigkeit, mit Vegetarismus, mit Askese, mit Pädagogik, mit Politik, mit Heilmethoden etc.).
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